Afrika | Lateinamerika | Nummer 337/338 - Juli/August 2002

„Revolutionen fanden aus Verzweiflung statt“

Interview mit dem Karibik-Experten Ulrich Fleischmann

Die afroamerikanische Kultur in Lateinamerika steht in engem Zusammenhang zur Kolonialgeschichte. Sie nahm ihren Anfang mit dem Transport gefangener Afrikaner nach Amerika und der Errichtung von Sklavereisystemen. Das Interview beschäftigt sich mit den vielfältigen kulturellen und politischen Prozessen, die daraus entstanden sind.

Olga Burkert, Anja Witte

Die verschiedenen Kolonialmächte betrieben in Lateinamerika unterschiedliche Formen der Sklaverei. Wie würden sie diese Formen charakterisieren und welche Auswirkungen hatten sie auf die afroamerikanischen Kulturen?

Die afroamerikanische Kultur nimmt ihren Anfang mit der Middle Passage. So bezeichnet man die Verschiffung von gefangenen afrikanischen Sklaven nach Amerika. Man kann drei Ursprünge afroamerikanischer Kultur unterscheiden, nämlich den iberischen Sklavereitypus, den Plantagentypus, und den Typus, der auf Sklaven beruht, die niemals Sklaven waren, also beispielsweise vom Schiff entflohen. Das Wesentliche an einer Unterscheidung zwischen einem iberischen und einem nichtiberischen Typus ist der historische Stellenwert der Sklaverei in den jeweiligen Gesellschaften. In Spanien war die Sklaverei außerordentlich etabliert und durch Gesetze geregelt. In England und Frankreich dagegen fällt die Sklaverei in die Zeit der Aufklärung. In einer aufgeklärten Gesellschaft war es eigentlich unmöglich, die Sklaverei zu akzeptieren. Also wurde sie zunächst außerhalb jeder Gesetzmäßigkeit angesiedelt.
Beim Sklavereitypus der Spanier handelt es sich um eine geschichtliche Verlängerung der Leibeigenschaft. Davon ist sie gar nicht richtig abgrenzbar. König Alfons der Weise legte im 13. Jahrhundert in einem Gesetz die Sklaverei als einen unnormalen Zustand fest. Normalerweise war der Mensch frei, aber er konnte auf Grund historischer Umstände in die Sklaverei geraten. Es sollte angestrebt werden, dass jeder Mensch noch im Laufe seines Lebens wieder aus der Sklaverei entlassen wird. Der Sklavenstatus war nicht ethnisch, also nur auf Schwarze festgelegt. Auch Spanier konnten Sklaven werden, wenn sie sich verschuldeten. Der iberische Sklavereitypus charakterisiert sich auch durch eine relativ starke Anpassungskapazität. In Kolumbien oder in Peru zum Beispiel war die Zahl der Sklaven nicht besonders hoch und sie wurden nicht auf Plantagen eingesetzt, sondern als Handwerker oder Bedienstete. Spanien entwickelte in seinen Kolonien nur sehr geringfügig Plantagenwirtschaft. Mit den ersten Seefahrern gelangten nach der „Entdeckung“ Amerikas nicht nur schwarze Sklaven, sondern auch die spanische Form der Sklaverei nach Amerika. Bis 1789 erlaubten die Spanier zwar die Sklaverei, aber nicht den Sklavenhandel. Wer Sklaven wollte, musste diese bei den Portugiesen einkaufen.

Portugal war schon relativ früh stark auf Handel ausgerichtet. Ab dem 15. Jahrhundert hatten die Portugiesen den Sklavenhandel total in der Hand. Portugal lässt sich schlecht in einen der beiden Sklavereitypen einordnen. Das zeigt sich zum Beispiel in Brasilien, das eine Art Zwischenstellung einnimmt. Auf der einen Seite gab es im ganzen Nordosten Brasiliens riesige Plantagenkolonien. Dort wurde das Freilassen von Sklaven hoch besteuert, denn die Kolonialregierungen wollten verhindern, dass Sklaven freigelassen wurden. Andererseits war der Südosten des Landes stark iberisch geprägt und das Freilassen von Sklaven wurde unterstützt. Dadurch ergab sich eine relativ starke Vermischung mit der herrschenden weißen Bevölkerung und eine breite Schicht von Mulatten entstand. Überall wo solch eine Vermischung stattfand, gab es weniger Diskriminierung als in den Kolonien, in denen ganz deutlich getrennt wurde, wie beispielsweise in der Karibik oder auch in den USA. Dort wurde die color-line ganz deutlich gezogen. Die strikte Trennung begründete man mit der Minderwertigkeit der Afrikaner.

Worauf beruht nun der nichtiberische Sklavereitypus?

Der nichtiberische Sklavereitypus geht eigentlich auf die meisten der westeuropäischen Nationen zurück. Auf die Franzosen, Engländer, Holländer, Dänen und Schweden. Sogar die Brandenburger hatten eine ganz kleine Kolonie auf einer Insel bei Saint Croix mit einem eigenen Stützpunkt in Westafrika, von dem aus sie Sklaven nach Amerika schafften. In den Kolonien wurden systematisch Kolonialprodukte angebaut, für die eine Nachfrage in Europa entstanden war: Tabak, Indigo, Kakao, vor allem aber Zucker. Spanien hatte sich Amerika fast vollständig unter den Nagel gerissen. Aber gleichzeitig blieb das Land feudalistisch und entwickelte sich nicht weiter. Die westeuropäischen Nationen dagegen modernisierten sich und bauten einen quasi kapitalistischen Handel auf, der auf den Zuckerrohrplantagen basierte. Auf São Tomé und in Brasilien errichtete man die ersten großen Zuckerrohrplantagen. Und die Portugiesen beschafften die Sklaven für deren Bewirtschaftung, deren Handel sie ohnehin in der Hand hielten. Anbau in kleinerem Stil lohnte sich nicht, weil die Errichtung von Zuckermühlen sehr teuer war. Mit großen Investitionen erzielte man große Gewinne.

Das Zuckerrohr setzte sich durch, der kapitalistische Sklavenhandel entwickelte sich und die Lebenserwartung der Sklaven sank drastisch. Normalerweise überlebte ein Sklave in der Kolonie keine fünf Jahre. Das hatte kulturelle Folgen. Die Sklaven konnten sich, selbst wenn sie gewollt hätten, gar nicht assimilieren. Sie starben vorher und wurden durch neue Sklaven ersetzt, die aus Afrika gebracht wurden. Es entstand eine deutliche Trennung zwischen den so genannten kreolischen Sklaven, also denen die in der Kolonie geboren wurden und stärker an die Kultur der Kolonialherren angepasst waren, da sie deren Sprache sprachen. Und den Feldsklaven, die eine geringere Lebenserwartung hatten und sich fast nie auf die kulturellen Verhältnisse der Kolonie einlassen konnten. Die katastrophalen Umstände und die menschenunwürdigen Bedingungen auf den Plantagen trieben viele der Sklaven in den Selbstmord oder die Sklaven brachten sich gegenseitig um. Diese geringe Lebenserwartung der Sklaven war ganz charakteristisch für die Sklaverei der Engländer und Franzosen in der Karibik, zum Teil auch in Nordamerika und für die Sklaverei in Brasilien. Außerdem gab es ein großes Ungleichgewicht von Männern und Frauen, weil kein Interesse daran bestand, Sklaven aufzuziehen. Das war zu teuer. In den Kolonien gab es zahlenmäßig eine ganz große Disproportion zwischen freier weißer Bevölkerung und versklavter schwarzer Bevölkerung. Je größer diese Disproportion war, um so gefährlicher wurde die Situation für die Kolonialherren, da von der Überzahl der Sklaven die ständige Gefahr von Aufständen ausging. Es gab viele Aufstände, vor allem auf Jamaica. Schließlich kam die Revolution auf Haiti im Jahre 1789, in deren Verlauf die erste schwarze Republik ausgerufen wurde. Dieser Sklavereitypus, der gleichzeitig der bekannteste ist, war also letztlich auch für die „Herrenbevölkerung“ zu gefährlich.
Desweiteren gab es viele Fälle der Flucht von den Plantagen. Die Lebensform der cimarronaje entwickelte sich zu einer organisierten Flucht der Sklaven (cimarrones) von den Plantagen in entlegene, unzugängliche Berg- oder Urwaldgebiete. Dort bildeten die ehemaligen Sklaven eigene Gemeinschaften, die strikt hierarchisch organisiert waren, eigene Gesetze hatten und in die immer weitere Sklaven „nachflüchten“ konnten oder aus den Plantagen entführt wurden. Sie gründeten Familien und versuchten sich ein „normales“ Leben aufzubauen.

Und wie sah der dritte Typus aus?

Die dritte Gruppe von afroamerikanischer Bevölkerung, waren Menschen, die zur Sklaverei nach Amerika verschleppt wurden, aber letztlich nie oder nur zeitweise in die Sklaverei gerieten. Das waren zum Beispiel die cimarrones oder geflüchtete Sklaven von untergegangenen Sklavenschiffen. Die sich an Land rettenden Sklaven gründeten in unzugänglichen Gebieten ihre eigenen Gemeinden. Zum Beispiel in Ecuador die Gemeinde Esmeraldas. Ein weiteres Beispiel ist die schwarze Bevölkerung, die von der Karibik aus an die Atlantikküste Mittelamerikas gebracht wurde, um etwa den Panama-Kanal zu bauen. Von dort gab es dann eine Ausbreitung der schwarzen Bevölkerung, die nichts mehr mit der Sklaverei zu tun hatte. Ein anderer Fall sind die „Buschneger“ in Surinam. Oder die Garífuna, Sklaven die sich nach St. Vincent und Grenada flüchteten und sich dort mit den Kariben vermischt haben. Die Miskito in Nicaragua gehören auch dazu. Beim dritten Typus haben die Afroamerikaner ihre eigenen Gesellschaften aufgebaut, entweder mit stark afrikanischer Prägung oder es wurden indianische Kulturen übernommen. In jedem Fall entwickelte sich eine ethnische Kultur.

Sie haben bereits den Begriff der Kreolisierung genannt. Was genau versteht man darunter?

Der Begriff wird zunächst ganz konkret verwendet auf Sprachen und Kultur. Kreolisierung bedeutet immer ein Kontaktphänomen. Zwei Kulturen kommen miteinander in Kontakt und eine Vermischung findet statt. In Bezug auf die Afrikaner, die als Sklaven nach Amerika gebracht wurden, ist Kreolisierung eine Kulturmischung aus afrikanischen und europäischen Bestandteilen . Indianische Elemente spielen eine relativ geringe Rolle, da die indigene Bevölkerung in den Plantagengebieten schon früh vernichtet worden war. Kreolisierung im Fall der Afroamerikaner ist ein Ausbalancieren zwischen zwei auffälligen Kulturschwerpunkten. Auf der einen Seite die afrikanischen Kulturen und auf der anderen Seite die dominante weiße Kolonialkultur. In einer großen Plantagenkolonie war die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung versklavt und nur ein ganz kleiner Teil europäisch und frei. Von der Assimilierung der Sklaven zu sprechen ist also problematisch, denn sie konnten sich gar nicht assimilieren, weil sie kaum Zugang zu den Lebensbereichen der Weißen hatten. In den Kolonien versuchten die Sklaven sich in irgendeiner Form zu reorganisieren. Und zwar nicht über die dominante Kolonialkultur, sondern in den alten afrikanischen Kulturmustern. Zum großen Teil lief das über die synkretistischen Kulte, sowie über die afrikanischen Religionen und Ahnenkulte ab.

In diesen spannungsreichen Gesellschaften entstand ein ganz komplexes Wechselspiel von Anpassung und Widerstand. Angepasst waren zum Beispiel die Haussklaven, denn diese hatten die Chance aufzusteigen, indem sie zum Beispiel die Sprache der Kolonialherren erlernten. Bei der großen Mehrheit jedoch fand keine ausschließliche Anpassung statt. Die Sklaven schätzten in jedem Moment ihres Lebens neu ab, ob sie sich anpassen oder Widerstand leisten sollten. Sich zu widersetzen war lebensgefährlich, aber in manchen Situationen konnte man nicht anders, als Widerstand zu leisten. Eine Form war zum Beispiel Capoeira. Widerstand stand immer in engem Zusammenhang mit der afrikanischen Kultur. Die Alternative dazu war die Übernahme europäischer Kulturmuster.

Das Besondere an der Kreolisierung ist, das beide Möglichkeiten nebeneinander herlaufen. Man könnte das als eine institutionalisierte Ambivalenz bezeichnen. Die Sklaven sind doppelt orientiert, sie sind in der Lage, sich angepasst zu zeigen und fünf Minuten später verhalten sie sich vollkommen anders. Das spiegelt sich auch in den synkretistischen Kulten wider, wo die Götter, Riten und Heiligen sowohl einen europäischen als auch einen afrikanischen Namen tragen. Der Gläubige oder der Priester ist in der Lage zwischen beidem hin- und her zu wechseln. In den Kulten gibt es dann je nach Bedarf katholische oder aber afrikanische Elemente. Die Priester haben zum Beispiel zwei Hände, eine katholische und eine magisch-afrikanische. Auch die Altäre haben zwei Seiten, mit katholischen und afrikanischen Elementen direkt nebeneinander. Diese Ambivalenz ist eine Form des Überlebens. Nicht zu verwechseln ist die Kreolisierung mit mestizaje. Mestizaje bedeutet, dass sich eine neue ethnische Gruppe konstituiert. Man kann das an einem Vergleich verdeutlichen. Wenn man Wasser und Wein zusammengießt, vermischen sie sich und ergeben eine neue Flüssigkeit. Wasser und Öl dagegen kann man zwar schütteln, aber es trennt sich sofort wieder. Das ist Kreolisierung.

Im Gegensatz zu den Völkern, die aus der Völkerwanderung hervorgegangen sind, mit all ihren Gründungsmythen, können die Afroamerikaner eigentlich nie sagen, sie seien ein Volk. Im Grunde sind sie Teil einer Nation, an deren Gründung sie keinen Anteil hatten. Sie sind immer entweder aufstiegsorientiert oder nachbarschafts- bzw. solidaritätsorientiert. Entweder nehmen sie die Mainstreamkultur an und distanzieren sich von ihren eigenen Leuten. Oder sie ziehen sich zurück in eine Subkultur, die sich deutlich von der Mainstreamkultur absetzt. Auch in den kreolischen Sprachen findet man diese doppelte Orientierung. Einerseits die Orientierung an der dominanten Kolonialsprache, auf der anderen Seite an einem undefinierbaren afrikanischen Substrat.

Afroamerikaner, die kreolisch sprechen, sprechen es immer mehr oder weniger. Entweder absichtlich „weniger“ kreolisch, wenn es angesichts der dominanten Gesellschaft ratsam ist. Das ist wichtig, wenn die Menschen zum Beispiel zum Arzt gehen, denn eine Kreolsprache zu sprechen ist sozial stigmatisiert. Oder es wird andererseits bei bestimmten Gelegenheiten das afrikanische Element stärker betont. Wenn sich zum Beispiel Freunde treffen oder bei bestimmten Festen.

Im Zusammenhang mit den Unabhängigkeitskämpfen in den Kolonien entstand die Négritude-Bewegung. Was versteht man unter Négritude und worin unterscheiden sich die karibische und die afrikanische Variante?

Um 1930 gab es eine große Migration farbiger Studenten in die europäischen Metropolen. Das war eine geplante und gezielte Bewegung. Man wollte eine schwarze, gebildete Oberschicht für die Kolonien heranziehen. So trafen sich in Paris afrikanische und karibische Studenten und bildeten zunächst einmal eine Schicksalsgemeinschaft, in dem Sinne, dass sie sich gleichermaßen diskriminiert fühlten. Wegen ihrer Hautfarbe und Herkunft wurden sie als Franzosen zweiter Klasse behandelt. Hinzu kam die Frage der Unabhängigkeit der Kolonien. Diskutiert wurden diese Fragen in einer Zeitschrift, die von Aimé Césaire aus Martinique und Leopold Senghor aus dem Senegal herausgegeben wurde. Dabei vertrat der Afrikaner Senghor eine Form der Négritude, die eher auf die Bewahrung afrikanischer Identität und Unabhängigkeit abzielte. Man spricht deshalb auch von der „Négritude der Wurzel“. Im Grunde war das ein essenzialistischer Ansatz, der das Afrikanische mit dem Gefühl verband und sich von der europäischen Ratio abgrenzte.

Césaire hingegen war bezogen auf die Karibik der Ansicht, die Menschen in den Kolonien hätten ihre Identität bereits durch die Sklaverei verloren. Somit war die Möglichkeit einer Rückbesinnung auf die Wurzeln obsolet. Césaires Négritude war auf die Zukunft gerichtet und äußerte sich in einer Bewegung die Veränderung anstrebte und war somit deutlich revolutionärer. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Senghor die Unabhängigkeit des Senegals erringen konnte, während Césaires Martinique französische Kolonie geblieben ist.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren