Amazonien | Nummer 420 - Juni 2009

Rindviecher essen Regenwald auf

Die Viehwirtschaft als Verursacher der Regenwaldzerstörung rückt wieder stärker in den Blickpunkt

Scheinbar endlose Viehweiden erstrecken sich, wo in Amazonien einstmals Regenwald stand. Die Rinderproduktion wurde schon vor Jahren als größter Feind für den Regenwald in Amazonien geoutet. Doch in den letzten Jahren konzentrierte sich die Diskussion stark auf Soja und Zuckerrohr. Auch deren Anbauflächen dehnen sich weiter aus und vernichten Regenwald. Jüngere Studien von Friends of the Earth Amazonien, Greenpeace und der brasilianischen Nichtregierungsorganisation (NRO) Imazon rücken nun wieder die zerstörerische Kraft der Fleischproduktion stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Thomas Fatheuer

Die Entwicklung verläuft dramatisch. Nie zuvor gab es größere Viehbestände in Amazonien. Die Zahl der Rinder hat sich laut den letzten verfügbaren offiziellen Zahlen in 14 Jahren mehr als verdoppelt. Von 34 Millionen im Jahr 1992 stieg sie bis Ende 2006 auf 73 Millionen an. Brasilien entwickelte sich auch dadurch bereits im Jahr 2004 zum weltgrößten Exporteur von Rindfleisch. Auf mittlerweile 170 Millionen Hektar tummelt sich in Brasilien das Vieh. Das Gravierende dabei: die Expansion der Rinderproduktion zwischen 2000 und 2006 vollzog sich fast ausschließlich in Amazonien.
Auf dem letzten Weltsozialforum im brasilianischen Belém im Januar dieses Jahres stellten die NRO Friends of the Earth Amazonien, Greenpeace und Imazon jüngste Studien zur Situation der Viehwirtschaft in Amazonien vor. Zwar ist bekannt, dass die Rinderzucht zu den zentralen Kräften gehört, die die Entwaldung in Amazonien vorantreiben. Der Sektor unterliegt mittlerweile jedoch einer neuen Dynamik: Die Expansion der Viehwirtschaft in Amazonien wird einerseits nach wie vor durch günstige Bodenpreise angetrieben. Hinzu kommt, dass in zunehmendem Maße der Anbau von Soja und Zuckerrohr in anderen Landesteilen zuvor viehwirtschaftlich genutzte Flächen ersetzt. Dort wird die Viehzucht verdrängt und weicht in den Raum Amazoniens aus. Nach den jüngsten Zahlen des brasilianischen Statistikamtes IBGE werden 74 Prozent der entwaldeten Fläche Amazoniens für Rinderweiden genutzt.
Warum dehnt sich die Viehzucht in derart dramatischer Weise im Regenwald aus? Bereits im Jahre 1998 legte Merle Faminow in einer Studie die Zusammenhänge dar: Vieh auf Weiden sichert Besitzanspruch. Dieser Faktor ist an der Agrargrenze kaum zu unterschätzen. Dann wiederum sind die Risiken der Rinderzucht weitaus geringer als die der landwirtschaftlichen Produktion, was sich auf alle folgenden Aspekte bezieht: Vermarktung, Preisentwicklung, klimatische Bedingungen und Anfälligkeit für Krankheiten. Die landwirtschaftliche Produktion erfordert nicht nur größere Anfangsinvestitionen, das investierte Geld fließt auch noch langsamer zurück als bei der Rinderproduktion. Nicht zuletzt sind Rinder ein leicht zu veräußernder Besitz, der relativ einfach transportiert werden kann. Der Bedarf an Arbeitskraft ist gering und als nonplusultra bietet die Viehzucht gute Chancen, jede Art von staatlicher Aufsicht und Besteuerung zu umgehen.
Die genannten Argumente machen die Rinderzucht in Amazonien zu einer attraktiven Angelegenheit. Sie gelten auch heute noch und helfen, den großen Einfluss des Sektors auf die Entwicklungsdynamiken in Amazonien zu verstehen, zumal wenn sich dies mit neuen Tendenzen verbindet – wie Modernisierung und Intensivierung der Landwirtschaft in anderen Landesteilen. Noch attraktiver wird das Viehzuchtgeschäft in Amazonien, wenn die Bodenpreise berücksichtigt werden. Kostete im Jahre 2006 ein Hektar Viehweide im Südosten Brasiliens über 4.000 Reais (heute in etwa 1.400 Euro), waren es im selben Zeitraum für einen Hektar in Amazonien nur 770 Reais (275 Euro).
Noch fehlen systematische Studien, die die Dynamik der Flächennutzung in den letzten Jahren untersuchen. Doch zeichnen zahlreiche Reportagen und Interviews ein deutliches Bild: „Das Rind wird nach Norden gehen. Der Druck wird immer stärker werden, dort neue Weiden anzulegen“, so Marcelo de Carvalho Dias, Tierfutterhändler aus Barreto in São Paulo, gegenüber der brasilianischen Wirtschaftszeitung Valor Econômico. Er führt weiter aus, dass „die Viehzücher hier in São Paulo dazu tendieren, ihr Land an die Zuckerrohrindustrie zu verpachten. Sie nehmen das Geld und züchten Vieh in Amazonien. Es gibt Regionen in Amazonien, die sind sind fruchtbar wie Riberão Preto in São Paulo.“
In seiner einflussreichen Studie für die Weltbank hatte Sergio Margulis bereits 2003 darauf hingeweisen, dass die Produktivität der Rinderzucht in Amazonien zwar stark schwankt, aber in vielen Regionen deutlich über der von klassischen Rinderzuchtgebieten wie São Paulo liegt. Das alte Klischee von einer zurückgebliebenen, wenig produktiven Rinderzucht in Amazonien muss also dringend revidiert werden. Nicht die geringe Produktivität der Rinderzucht in Amazonien ist das Problem, sondern ihre ökonomische Rationalität samt Inwertsetzungsdenken. Es lohnt sich eben, Vieh in Amazonien zu produzieren. Nicht umsonst haben die großen Schlachthofketten in den letzten Jahren massiv in Amazonien investiert – so beispielsweise der brasilianische Konzern Bertin, der in der Stadt Maraba im Amazonasbundesstaat Pará mittels großzügigem Weltbankkredit einen Megaschlachthof mit einer Schlachtkapazität von 5.400 Rindern pro Tag errichten konnte. Und die größte Schlachthofkette Brasiliens, JBS-Friboi, hat sich mittlerweile zu einem multinationalen Player entwickelt und ist zum zweitgrössten Rindfleischexporteur der Welt aufgestiegen.
Viehzucht in Amazonien ist in der Regel big business. Die meisten Entwaldungen sind großflächig, die Viehfarmen riesig. Dennoch wird seit vielen Jahren auch die Beteiligung von Kleinbauern und -bäuerinnen sowie WaldnutzerInnen (vom Wald abhängigen Menschen; forest dependent people) an der Entwaldung diskutiert. Etwa ein Drittel der Entwaldung Amazoniens geht nach Schätzungen verschiedener Untersuchungen auf das Konto von KleinnutzerInnen. Lehrreich ist das Beispiel der Sammlerreserven für KautschukzapferInnen. Die Einrichtung besonderer Schutzgebiete für sie war der große Traum von Chico Mendes, der Symbolfigur der Kautschukzapfer, der vor 20 Jahren ermordet wurde. KautschukzapferInnen wurden zu Pionieren einer nachhaltigen Waldnutzung. Aktuell existieren in Brasilien 33 Sammlerreserven (reservas extrativistas – RESEX). Sie bestehen auf einer gesetzlichen Grundlage und erstrecken sich auf etwa fünf Millionen Hektar Fläche in Amazonien. Die Einrichtung und Anerkennung der Sammlerreserven sind aber nicht das happy end der Geschichte. Dies ist nur eine Etappe auf einem weiterhin dornenreichen Weg.
Die RESEX Chico Mendes im Bundestaat Acre ist mit einer Fläche von 1,5 Millionen Hektar nicht nur die größte, sondern auch die symbolträchtigste Sammelreserve. Und sie durchlebt zur Zeit eine schwere Krise. Immer mehr BewohnerInnen schaffen sich Rinder an, die Entwaldungsraten innerhalb der RESEX steigen. „Es ist traurig zu sehen, dass der Kampf von Chico Mendes damit endet, dass die Kautschukzapfer selbst den Wald roden”, konstatierte Manoel Cunha, Präsident des nationalen Rates der Kautschukzapfer, gegenüber der Zeitschrift Valor Econômico. Paulo Amaral, Forscher bei der in Belém ansässigen NRO Imazon, analysiert die Logik dieser Entwicklung: „Das Rind wird zu einer alternativen Einkommensquelle, weil es leicht zu verkaufen ist. Es ist die Sparkasse für schwierige Momente. Damit können die Preise der Sammelprodukte nicht mithalten.” Alexandre Cordeiro, Koordinator der RESEX Chico Mendes, konstatiert gegenüber Valor Econômico gar: „Es ist nur logisch, dass die Viehzucht da ist. Die Viehzucht ist das ökonomische Modell, das Ergebnisse bringt.”
Rinderzucht ist also auch für KleinnutzerInnen durchaus attraktiv. Sie erzeugt deutlich mehr Ertrag pro Hektar im Vergleich zu Sammeltätigkeiten. Nach einer Erhebung des nationalen Statistikinstitutes
IBGE bringt Sammeltätigkeit weniger als einen Real pro Hektar ein, Viehzucht hingegegen über 100 Reais. Dies sind nur sehr grobe und wenig zuverlässige Angaben, und sie hängen sehr stark von regionalen Besonderheiten ab. Aber sie zeigen doch, welche große Anziehungskraft Viehzucht auch für Kleinbauern und -bäuerinnen hat, insbesondere dann, wenn nachhaltige Waldnutzung nicht systematisch gefördert und bezahlt wird.
Der Ausbreitung der Viehzucht und weiterer Regenwaldvernichtung in Amazonien kann also nur durch eine Doppelstrategie begegnet werden. Großflächige Entwaldungen zur Anlage von Rinderfarmen sind fast immer illegal. Sie müssen verhindert und bestraft werden. Kleinbauern hingegen sollte Viehwirtschaft in Schutzgebieten nicht prinzipiell verboten werden, wenn Begrenzungen und Umweltbestimmungen beachtet werden.
Der überragende Stellenwert der Rinderzucht bei der Amazonaszerstörung ist auch dem brasilianischen Umweltministerium nicht entgangen. Carlos Minc, seit Mai 2008 als Nachfolger der angesehenen Marina da Silva im Amt, erklärte im April 2009 den „bedingungslosen Krieg gegen die Abholzung”. Ein wichtiges und medienwirksames Element der Strategie ist die Jagd auf sogenannte Piratenrinder – es sind Rinder, die auf illegal abgeholzen Gebieten weiden. Sie werden nun von der Umweltbehörde IBAMA gejagt, beschlagnahmt und in Auktionen verkauft. Doch die ersten Aktionen waren von zweifelhaften Erfolg. Die regionalen RinderhändlerInnen sabotierten die Auktionen, das geplagte Rindvieh musste in zu kleinen Pferchen warten, die IBAMA wurde der Tierquälerei beschuldigt. In Zukunft soll dies alles besser funktionieren, verspricht Minc. Gleichzeitig bietet das Umweltministerium den ViehzüchterInnen einen Pakt zur „legalen und nachhaltigen Viehzucht” an. Ob dieser Pakt wirklich zustande kommt, ist noch offen.
Wirksam eingedämmt wird das Problem hingegen momentan durch die globale Wirtschaftskrise. Dadurch fallen die Preise und Exporte von Rindfleisch, die Unternehmen des Sektors beklagen eine schwere Krise. Etwas 50 Kühlhäuser wurden bisher landesweit stillgelegt. In Mato Grosso, dem Bundesstaat mit der größten Fleischproduktion in Brasilien, sank diese im Jahre 2008 um 21,6 Prozent. Für dieses Jahr erwartet der Sektor einen weiteren Rückgang.
Diese Entwicklung scheint sich bereits auch auf die Entwaldungsraten auszuwirken. Das für die offiziellen Zahlen zuständige Institut INPE hat für den Zeitraum von November 2008 bis Januar 2009 eine Entwaldung von 754 Quadratkilometern in Amazonien registriert. Ein Jahr zuvor waren es im gleichen Zeitraum noch das Drei- bis Vierfache an Waldfläche. Zwar sind diese Zahlenangaben Gegenstand zahlreicher Debatten und sie weisen eine große Ungenauigkeit auf: Ein deutlicher Rückgang der Entwaldung ist aber unbestritten. Doch lösen Krisen keine strukturellen Probleme. Sie verschaffen allenfalls eine Atempause.

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