Chile | Nummer 507/508 - Sept./Okt. 2016

RISIKO-RENTEN

HUNDERTTAUSENDE DEMONSTRIEREN GEGEN PRIVATE FONDS UND NIEDRIGE RENTEN

Seit Jahren schon protestiert die chilenische Bevölkerung gegen die neoliberale Politik, die das Land seit dem Militärregime Pinochets bestimmt. Bekannt sind vor allem die massiven Studierenproteste von 2011. Heute aber demonstriert ein ganzes Land, auf Töpfe hämmernd und unter dem gemeinsamen Motto „No + AFP“ gegen das Rentensystem aus Diktaturzeiten und die Ungleichheit in der chilenischen Gesellschaft.

Von Matías Pérez Weber

Die Lichter leuchten auf und das Mikrofon ist an Piñeras Hemd befestigt, der vor den Fernsehkameras sitzt, um sein Werk zu verteidigen. Alle Finger sind derzeit auf ihn gerichtet, den älteren Bruder von Ex-Präsident Sebastián Piñera. José Piñera war Arbeits- und Sozialminister unter Pinochet und der Schöpfer des privaten Rentensystems AFP (Administradoras de Fondos de Pensiones, Verwaltung der Pensionsfonds), gegen das derzeit hunderttausende Menschen in Chile auf die Straße gehen. In einem Fernsehgespräch soll er der Bevölkerung Rede und Antwort stehen.
Seine Worte sind voller Stolz auf ein System, das seiner Meinung nach der Grundpfeiler des chilenischen Wirtschaftswachtums in den vergangenen 35 Jahren gewesen ist. Dieser Meinung sind auch die größten Wirtschaftsgruppen und Unternehmer*innen, welche Piñeras Theorie mit den Argumenten verteidigen, dass es in diesem Zeitraum weniger Armut, mehr Jobs und Investition im Land gegeben hätte.
Aber viele Chilen*innen sind da anderer Meinung. So wurde der vergangene 24. Juli ein wichtiger Tag in der Geschichte der sozialen Bewegungen in Chile. Im ganzen Land gingen Hunderttausende auf die Straße, um gegen das Rentensystem zu demonstrieren, das während der Diktatur Pinochets von José Piñera vom Umlageverfahren auf das Kapitaldeckungsverfahren umgestellt wurde.
In diesem System verwalten sechs private Unternehmen die Renten der chilenischen Arbeitnehmer*innen. Diese müssen monatlich zehn Prozent ihres Einkommens in einen der Fonds der AFPs einzahlen, hinzu kommen Gebühren. Die AFPs investieren damit im In- und Ausland. Bei jeder AFP lässt sich aus mehreren Fonds wählen. Insgesamt gibt es fünf Arten von Fonds, je nach Risiko lassen sich höhere oder niedrigere Renten erzielen. Bei der Mehrheit der Chilen*innen heißt das umgerechnet etwa 270 Euro monatlich, was bei den hohen Lebenshaltungskosten in Chile nicht zum Leben reicht. Militär und Polizei verfügen über ein eigenes Rentensystem und müssen nicht, wie alle anderen Arbeitnehmer*innen, in die AFPs einzahlen. Ihre Renten liegen bei bis zu 6.700 Euro.
Wie in so vielen Bereichen in Chile ist das grundlegende Problem die Ungleichheit, die auf der Verfassung von 1980 und der neoliberalen Ausrichtung Chiles seit Pinochet fußt. Die Beiträge der Arbeitnehmer*innen investieren die AFPs in die großen Unternehmen, die den reichsten Familien Chiles gehören. Zum Beispiel besitzen die AFPs zwölf Prozent des Zellstoffproduzenten CMPC, das Unternehmen der milliardenschweren Familie Matte. Erst 2015 wurde bekannt, wie CMPC über zehn Jahren mit Preisabsprachen die Preise für Toilettenpapier, Windeln und ähnliche Hygieneartikel hochgehalten hatte.
Auch die politische Elite steht im Fokus der Debatte. Seit 1980 wählen die AFPs Politiker*innen in ihre Verwaltungsräte. Als die Regierung unter Michelle Bachelet 2006 eine Reform des Rentensystems vorbereitete, haben die AFP ihre Verwaltungsräte mit Politiker*innen aus Bachelets Koalition verstärkt. AFP Cuprum, eine von den sechs AFPs hat zwischen 2004 und 2012 die Wahlkämpfe für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen der beiden großen Parteienbündnisse finanziert, sowohl des Mitte-links Bündnisses Nueva Mayoría als auch der rechten Alianza.
So profitiert, wie auch im Bildungs- oder Gesundheitssektor, vor allem eine kleine vermögende Elite aus Politik und Privatwirtschaft, während Studierende und Renter*innen von der Unterstützung der Familien und Krediten abhängig sind.
In den vergangenen Jahren hat die chilenische Regierung eine Reihe von Reformen vorgenommen, die aber nicht ausreichend sind, wie etwa bei der Bildungsreform. Trotz der massiven Studierendenproteste seit 2011 für eine kostenfreie Bildung und den Versprechungen der Regierung Bachelets im Wahlkampf und danach, gibt es bis heute keine Lösung. Das hat der Bevölkerung ein ungutes Gefühl vermittelt. Jetzt kommt die große Unzufriedenheit vieler Chilen*innen mit der großen Ungleichheit, dem ungenügenden Sozialsystem und den schleppenden Veränderungen zum Vorschein. Die Bevölkerung fordert radikale Veränderungen.
Deswegen soll ihr mit Hilfe der großen Medien Angst gemacht werden. Man würde in kommunistische Zeiten zurückfallen, sollte der Staat anfangen, das Rentensystem zu regulieren. Aber die chilenischen Bürger*innen sind reifer geworden und fordern Mitsprache und Veränderungen. “Wir wollen an diesen Diskussionen teilnehmen und wollen nicht, dass die Politiker und Unternehmer in vier Wänden die Entscheidungen für uns treffen, wie bei Arbeits- und Bildungsreform”, sagt Luis Mesena von der sozialen Bewegung “No + AFP”.
Die Regierung Bachelets gerät zunehmend unter Druck. Sie weiß, dass die Forderungen nach höheren Renten vermutlich noch stärker sein werden als jene nach kostenfreier Bildung in den vergangenen fünf Jahren. „Die Renten dauerhaft zu erhöhen und das System effektiver und solidarischer zu machen, ist eine sehr schwierige Aufgabe, denn mit der Zukunft der Arbeitnehmer*innen und unserer Wirtschaft spielt man nicht”, erklärte Bachelet in einer Fernsehansprache. Sie und ihr Kabinett wissen, dass sich ihnen eine große Chance bietet, um die Zustimmungsrate in der Bevölkerung, die momentan gerade bei schwachen 20 Prozent liegt, wieder anzuheben. Doch die Wirklichkeit ist, dass eine Reform des Rentensystems in ihrem Regierungsprogramm keine Priorität hat. Bachelet verspricht trotzdem Veränderungen: “Wir haben die Forderungen und die Vorschläge  der Bevölkerung gehört. Es ist Zeit zu handeln”.
Zu den konkreten Vorschlägen, die bislang aus dem Präsidentenpalast La Moneda kommen, gehört die Erhöhung des monatlichen Beitrags von zehn auf 15 Prozent in den nächsten zehn Jahren, die von den Arbeitgeber*innen bezahlt werden soll. Außerdem soll an der Schaffung einer staatlichen AFP gearbeitet werden, in der die Beitragszahler*innen über gewählte Vertreter*innen Mitbestimmungsrechte bei Investitionen und Vorstandswahlen eingeräumt bekommen sollen.
Die Bevölkerung erwartet baldige Veränderungen. Viele fordern unter anderem die Erhöhung des Rentenalters, das Verbot der Gebühren, welche die AFPs für die Verwaltung erhebt, die Einführung eines Arbeitgeber*innenbeitrags und eine Stärkung der Solidaritätssäule. Aber es wird in Zukunft noch über viele Punkte geredet werden, da die Reform des Rentensystems zum alltäglichen Thema geworden ist. Die Regierung steht vor der Herausforderung, die schlimmste politische Krise seit der Rückkehr zur Demokratie zu überwinden.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren