Literatur | Nummer 416 - Februar 2009

Rückkehr zur Geographie der Kindheit

Mit seinem preisgekrönten Roman Casi nunca liefert Daniel Sada eine Satire auf das Leben in der mexikanischen Provinz

José Antonio Salinas, Übers. Inga Opitz

Alles schien darauf hinzuweisen, dass die Erzählkunst Daniel Sadas nach Luces artificiales (seinem Übergangsroman aus dem Jahr 2002, der die Hauptfiguren aus dem trockenen Nordosten Mexikos in die große Stadt führt) die Dörfer Coahuilas für immer hinter sich gelassen habe. Ritmo Delta (2005) und La duración de los empeños simples (2006), seine beiden nachfolgenden Stadtromane, waren der scheinbare Beweis dafür. Doch mit Casi nunca, seinem neuesten Werk, kehrt Sada ausgehend von Oaxaca zu seinen alten geographischen Obesessionen zurück: den dürren Dörfern und Ranchos Coahuilas‘. Während die geographischen Angaben in Sadas Porque parece mentira la verdad nunca se sabe (1999) einen metaphorischen Charakter aufweisen (Mexiko verwandelt sich hier etwa in Mágico, Coahuila in Capila, Saltillo in Brinquillo, Sacramento in Salimento und Lamadrid in Remadrín), stellt Casi nunca die Rückkehr zur realen mexikanischen Geographie dar.
In dem Roman, dessen Handlung Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts spielt, erzählt Sada die Geschichte einer Dreiecksbeziehung. Demetrio Sordo, ein Agronom, der auf einem rancho in Oaxaca lebt und arbeitet, muss sich zwischen zwei gegensätzlichen Frauen entscheiden, die seinen Lebensweg kreuzen: Mireya, der Prostituierten, die in einem Bordell in Oaxaca arbeitet, und Renata, einer ultra-konservativen jungen Frau aus Sacramento im Bundesstaat Coahuila. Wie schon in Una de dos (1994) ist es die Einladung zu einer Hochzeit, die das Liebesleben der Figuren auf den Kopf stellen wird. In beiden Werken sind zwei Frauen im Leben eines Mannes präsent, doch während sich in Una de dos die beiden Frauen entscheiden müssen, welche von beiden den Liebhaber letztendlich bekommen soll (der aufgrund der extremen Ähnlichkeit der Zwillingsschwestern selbst gar nicht weiß, dass er es mit zwei Frauen zu tun hat), steht in Casi nunca diesmal der Mann vor dem Dilemma.
Casi nunca wird mit der unverwechselbaren Stimme Daniel Sadas erzählt. Weit entfernt von der barocken Struktur von Porque parece mentira und der metrischen Erzählform seiner ersten Romane bleibt Sadas Stil im Kern unverändert: der verbale Einfallsreichtum, die Verschmelzung von Hoch- und Umgangssprache und der Humor, der seine Werke auszeichnet, lassen sich auch in Casi nunca wiederfinden.
Der Erzählstil des Romans ist von Ironie und Groteske geprägt, zwei Elementen, die den satirischen Charakter des Textes ausmachen. So liegt die Größe von Sadas Erzählkunst nicht nur in den formalen Aspekten seiner Werke: viele seiner Texte erfüllen als Satire auch die Funktion von Sozialkritik. In vorangegangenen Büchern verspottet der Autor etwa den politischen Zynismus, die Gewalt und den Kazikismus Mexikos (Porque parece mentira), den maßlosen Schönheitskult (Luces artificiales), Verleger, die mehr am Geld als an der literarischen Qualität von Büchern interessiert sind (Ritmo Delta) oder Alltagsobsessionen (La duración de los empeños simples). In Casi nunca schließlich zielen die satirischen Spitzen vor allem auf moralischen Konservativismus und soziale Heuchelei.
Wie in anderen seiner Romane sind auch hier die Hauptfiguren dem Spott des Erzählers ausgesetzt. Und auch das Dorf Sacramento, in dem Sada selbst seine Kindheit und Jugend verbrachte, entgeht seinen Sticheleien nicht: „Die Hochzeit würde in Sacramento, Coahuila, stattfinden, einem universellen, kulturellen Zentrum, Luxemburg etwa überlegen.“ Einige Seiten später fügt der Erzähler, dessen Urteile auf ironische Weise die dörfliche Mentalität widerspiegeln, hinzu: „Eine Klarstellung: Sacramento war ein entsetzliches Dorf. Ein Dorf mitten in der Wüste, festgenagelt in einem weiten Tal: unabwendbare Hässlichkeit, – doch die Dorfbewohnerinnen… Göttliche Weisheit, mit der Tendenz zur Kompensation? Oder nicht? Man müsste schauen, ob sie tatsächlich alle engelsgleich sind… – und heiß! Und das Wünschenswerteste: geschickte Köchinnen im Alltag.“
Der egozentrische und unsensible Demetrio hat keine anderen Ziele im Leben als korrupt und vermögend zu sein, um den Respekt seiner Landsmänner zu gewinnen. Aber mit Renata an seiner Seite wäre er „in den Augen der Gesellschaft ein anständiger Mann, da er eine anständige Frau geheiratet haben würde; eine Ignorantin, eine Analphabetin zwar (das war schon irgendwie Mist), aber mit großartigen moralischen Prinzipien. Na?“
Während ihres kindlichen Anbändelns erlaubt Renata Demetrio ausschließlich, ihr die Hand zu küssen. Eines schönen Tages schließlich versucht der potenzielle Verlobte diese Grenze zu überschreiten: während des genehmigten Handkusses lässt er die Zungenspitze herausschnellen und leckt seiner Angebeteten über den Handrücken. Die übertrieben dramatische Reaktion von Tochter und Mutter kann nicht mehr als Gelächter beim Leser hervorrufen: Renata rennt, nachdem sie Demetrio ihre Hand mit dem vorwurfsvollen Ausruf „Ich dachte, ich hätte es mit einem Gentleman zu tun… ich will dich nicht wiedersehen!“ entrissen hat, in Richtung ihres Schreibwarenladens, „empört, unter unaufhörlichem Tränenfluss, wie ein kleines Mädchen, dem der Kinderschreck oder jemand Schlimmeres erschienen ist“. Die informierte Mutter beschimpft den Agronom voller Entrüstung: „Verschwinden Sie, Sie Schuft! Ihnen fehlt der Respekt vor meiner Tochter! Verschwinden Sie und lassen Sie sich hier nie wieder blicken!“
Unbeeindruckt vom schwindelerregenden Fortschreiten unserer Zeit weist das Werk Sadas seinen eigenen Rhythmus auf. Der Entstehungsprozess seiner Texte zieht sich häufig in die Länge, doch vielleicht heben sie sich gerade deshalb von der Kurzlebigkeit vieler heutiger Publikationen ab. Bevor seine Geschichten in den Druck gelangen, haben sie zunächst oft jahrelang ihre Runden im Kopf des Autors gedreht. 20 Jahre lang reifte etwa die Idee zu Porque parece mentira in Sada heran – und 25 Jahre wartete er, bis er die Geschichte von Casi nunca zu Papier brachte, zu der er durch eine wahre Begebenheit inspiriert wurde.
Der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro schreibt in seinem Chronikband Safari accidental, Daniel Sada habe mit Porque parece mentira la verdad nunca se sabe „den mexikanischen Roman erneuert“. Tatsächlich ist Daniel Sada, obwohl er international noch nicht sehr bekannt ist, einer der großen lateinamerikanischen Erzählkünstler der Gegenwart. Nach Jahrzehnten mühsamer Arbeit und zahlreichen veröffentlichten Werken wird ihm nach und nach die Anerkennung zuteil, die er verdient hat. So erhielt er im November 2008 in Spanien mit dem Premio Herralde de Novela für Casi nunca einen der wichtigsten Literaturpreise des spanischen Sprachraums. Hoffentlich wird dieser mit dazu beitragen, den LeserInnenkreis seiner meisterhaften Fiktionen zu vergrößern.

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