Mexiko | Nummer 309 - März 2000

Säuberung auf ganzer Linie

Nach der gewaltsamen Räumung der UNAM ist eine Rückkehr zum normalen Lehrbetrieb nicht abzusehen

Mit der Räumung der von Studenten und Studentinnen besetzten Gebäude am frühen Morgen des 6. Februar beendete die Regierung den Streik gewaltsam. Der mexikanische Präsident selbst, Ernesto Zedillo ordnete die Räumung, bei der insgesamt über 900 Studierende festgenommen wurden, an. Ob sich nun auch die Privatisierungsvorhaben der mexikanischen Regierung im Bildungssektor durchsetzen lassen, hängt vor allem von der Bewegung der Studierenden ab, die sich neu organisieren muss.

Winnie Enderlein

Unter Protest nehmen nach fast zehn Monaten Hochschulstreik derzeit viele der Einrichtungen auf dem Gelände der Ciudad Universitaria, dem Campus der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) ihren Betrieb wieder auf. Seit dem 20. April letzten Jahres ging hier nichts mehr: als Reaktion auf die Ankündigung des damaligen Rektors Barnés, Studiengebühren einzuführen, wurde in der Universität der Streik ausgerufen. Der Allgemeine Streikrat (spanisch abgekürzt CGH) formierte sich und einige der universitären Einrichtungen wurden von protestierenden Studenten und Studentinnen besetzt. Ihre Forderungen waren klar: keine Studiengebühren und keinerlei Privatisierung des Bildungssystems. Nun, nach der Räumung und den Festnahmen kommt eine weitere Forderung der Studierenden hinzu: sofortige Freilassung der politischen Gefangenen.
Juan Ramón de la Fuente, amtierender Rektor der UNAM, konnte sich eines Siegeslächeln nicht enthalten, als er vom Chef der Präventiven Bundespolizei, Konteradmiral Wilfredo Robledo, in der Universitätsstadt willkommen geheißen wurde. Der Anwalt der Universitätsleitung, Fernando Serrano, der den Rektor begleitete, begrüßte den Konteradmiral mit einem „Danke“. Drei Tage lang, von Sonntag bis Mittwoch, war das Gelände der UNAM von der Bundespolizei besetzt gewesen. Diese Zeit wurde vor allem dazu genutzt, die Spuren des Streiks zu beseitigen. Besonders großen Wert legten die Offiziellen auf die Entfernung von Graffiti und politischen Slogans, deutlichster Ausdruck der universitären Streikkultur an den Wänden der ehemals besetzten Gebäude. Alles, was an den Ausstand erinnern könnte, wurde getilgt. Nach dem Wunsch des Rektors soll wieder „Normalität“ in Mexikos nationale Universität einkehren.
Für die Truppen der Präventiven Bundespolizei, ursprünglich zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität geschaffen, war die Räumung innerhalb von kurzer Zeit der zweite Einsatz auf Universitätsgelände gewesen. Einige Tage zuvor, am 1. Februar, hatten sie ein der Uni angeschlossenes Gymnasium, die Prepa 3, gestürmt und dabei 175 Streikende verhaftet. Offiziell wurde die Polizeiaktion damit begründet, es hätten Gewalttätigkeiten zwischen Streikenden und Arbeitern stattgefunden, die eine Intervention der Staatsorgane erforderten. Dieser Version wird von kritischen Beobachtern wenig Vertrauen entgegengebracht, da der Zusammenstoß mit hoher Wahrscheinlichkeit inszeniert war. Auch in der Vergangenheit hatten oftmals bezahlte Unruhestifter und Provokateure versucht, den Streik in Misskredit zu bringen.
Die Einmischung der sogenannten „Armee in Polizeiuniform“ in interne Angelegenheiten der autonomen Hochschule rief deutliche Proteste in Bevölkerung und progressiver Presse hervor. Nur zu gut erinnern sich viele noch an das Massaker, das die Armee 1968 an einer Studentenversammlung auf dem Platz der Drei Kulturen verübte, bei dem hunderte von unbewaffneten StudentInnen erschossen wurden (siehe LN 293/305). Eine Welle der Empörung und des Entsetzens löste vor diesem Hintergrund die endgültige Räumung des Campus der UNAM am 6. Februar aus. Bei der überraschenden Polizeiaktion wurden weitere 737 Studierende festgenommen und ins Gefängnis überführt. Die meisten von ihnen hatten sich auf einer Ratsversammlung des CGH befunden.
Die Anklagen der Staatsanwaltschaft reichen von Sabotage, Meuterei und Körperverletzung bis hin zu Raub und Terrorismus. Nach einzelnen, derer die Polizei nicht habhaft werden kann, wird noch immer gefahndet. Ein großer Teil der kriminalisierten HochschülerInnen ist minderjährig.

Hunderttausend protestieren

Eine Spontandemonstration noch am gleichen Sonntag bildete den Auftakt der Proteste, die mit einer Massendemonstration am Mittwoch darauf ihren stärksten Ausdruck finden sollte. Eine herausragende Rolle in der Demonstration spielten die Eltern der Festgenommenen. Sie bildeten einen eigenen Demonstrationsblock und verliehen ihrer Wut und Verzweiflung am deutlichsten Ausdruck. Hunderttausend Menschen füllten am Ende des Protestmarsches den Platz vor dem Regierungspalast in Mexiko-Stadt, um die Abschlusskundgebung zu hören. Aus verschiedenen anderen mexikanischen Städten trafen Nachrichten von Solidaritätsaktionen ein, internationale Protestschreiben gegen die Maßnahmen der Regierung wurden vom Podium aus verlesen. „Sofortige Freilassung der politischen Gefangenen“ und „Nicht eine Stimme für die PRI“ (Partei der Institutionalisierten Revolution) zählten zu den meistgerufenen Slogans. Es war der gleiche Mittwoch, an dem Ramón de la Fuente die Universitätshoheit aus den Händen der Polizei entgegennahm und sich für die „Normalisierung“ der Verhältnisse aussprach.
Gefährdung der
Gesellschaft
In den vergangenen Tagen wurden immer wieder einige der Inhaftierten auf freien Fuß gesetzt. Teilweise aufgrund der Kautionsgesetzgebung, die nach Einschätzung von KritikerInnen für sämtliche der erhobenen Anklagen zutreffen müsste, aber nur bei wenigen zur Anwendung kommt. Teilweise hat die Universitätsleitung ihre Anzeige gegen einzelne Studierende zurückgenommen. Ein bisher unbekannter Straftatbestand wird einem Teil der Inhaftierten vorgeworfen: sie sollen nach Meinung der Haftrichter „die Gesellschaft gefährden“. Mit dieser Begründung wird u.a. der Freiheitsentzug einiger herausragender Persönlichkeiten des Streikrates gerechtfertigt. BeobachterInnen konstatieren, dass dies ein Versuch der Regierung sei, der Bewegung ungeachtet der basisdemokratischen Strukturen ihre Führer vorzuenthalten.
In einem der berüchtigsten Gefängnis der Stadt, dem Reclusorio Norte, sitzt die Mehrzahl der inhaftierten Studenten und Studentinnen ein. Die Rechtsanwälte der Gefangenen, Javier Cruz und Hilario Ibarra, äußerten sich besorgt über die Haftbedingungen. Nach ihren Aussagen ist die Nahrungsmittel- und Wasserversorgung unzureichend. Auch eine angemessene ärztliche Versorgung der Verletzten und Kranken finde nicht statt. Verwunderung zeigten die Anwälte außerdem über die ihrer Meinung nach fragwürdige Rolle der Nationalen Menschenrechtskommission. Die Kommission hatte sich weder zur Räumung der Universität noch zu Misshandlungen von StudentInnen durch die Polizei geäußert. Seit der Räumung reißen in Mexiko-Stadt unterschiedlichste Solidaritätsaktivitäten zur Unterstützung der Gefangenen nicht ab.

Charakter der Kontrahenten

Der Widerstand gegen die Reformpläne der Universitätsführung, mit dem sich ebenso eine große Anzahl Studierender aber auch Lehrkräfte und andere Angestellte der Hochschule identifizierten, ließ sich auch von offizieller Seite nicht ignorieren. Die Hochschulverwaltung und Regierung entschied sich bald für eine Politik der harten Hand: während in der Öffentlichkeit immer wieder der Wille zum Dialog betont wurde, ergriffen die Autoritäten verdeckt Repressionsmaßnahmen gegen die Streikenden. Kriminalisierung, Einsatz von Schlägertrupps und agents provocateurs gegen die Bewegung hatten jedoch zur Folge, dass sich Teile des CGH radikalisierten. Damit war für die Regierung wenig gewonnen. Juan Ramón de la Fuente wurde nach sechs Monaten Streik von Präsident Zedillo zum neuen Rektor gemacht, nachdem sein Vorgänger Barnés durch die anhaltenden Proteste gezwungen worden war, zurückzutreten. De la Fuente gilt als Repräsentant des neoliberalen Wirtschaftskurs der PRI. Als Gesundheitsminister hatte er erfolgreich weite Teile des Gesundheitswesens privatisiert.
Zu dem begründeten Misstrauen gegenüber den Verhandlungsangeboten von Seiten der Regierung reihte sich unter den Befürwortern des Streiks zwischenzeitlich ebenfalls wenig Interesse für einen Dialog: unter den involvierten Studenten und Studentinnen war eine Art Streikeuphorie entfacht. Das Leben innerhalb der besetzten Universitätsgebäude bedeutete für viele erstmals die Möglichkeit, unabhängig von ihren Familien und selbstbestimmt mit Gleichgesinnten zusammenzuleben.
Gleichzeitig wurden basisdemokratische Formen der Entscheidungsfindung praktiziert. In aufreibenden Vollversammlungen, die oft ganze Nächte andauerten, wurde der Kurs für die Verhandlungen mit der Universitätsleitung festgelegt. Selbstorganisierung und direkte politische Beteiligung für die einzelnen machte den Streik zu einer einzigartigen Erfahrung für ihre Anhänger. Zeitweilig war die Streikbewegung sehr mit sich selbst beschäftigt.
Bei den Verhandlungen am 10. Dezember letzten Jahres wurde noch einmal bekräftigt, dass eine Lösung des Konflikts nur über einen Dialog zu erreichen sei. Öffentlich bejahten beide Seiten ihren Willen zum Dialog – über weite Strecken der Auseinandersetzung war jedoch von diesem Willen sowohl seitens der Universitätsführung als auch seitens des CGH wenig zu spüren.

Wettlauf der Umfragen

Mitte Januar änderte Rektor Ramón de la Fuente die Taktik. Ohne weiter auf die Forderungen des CGH einzugehen setzte er für den 20. Januar ein Plebiszit an, das über die Legitimität des Streiks entscheiden sollte. Mit Hilfe einer immensen Werbekampagne, bei der ihm sämtliche Medien zur Seite standen, hoffte er, dem CGH die Basis zu entziehen. Es sollte eine Umfrage unter allen Angehörigen der Universität sein. Zunächst schien der CGH in einer Zwickmühle. Ein demokratisches Plebiszit konnte nicht einfach abgelehnt werden, auch wenn es unter unfairen, weil von der Unileitung bestimmten Regeln stattfand. Andererseits musste derart mit einer Niederlage, sprich einem Votum gegen die Fortführung des Streiks gerechnet werden. Auch machte sich innerhalb der Studentenschaft eine gewisse Streikmüdigkeit bemerkbar. Sowohl universitätsintern als auch außerhalb des Campus setzten die StreikgegnerInnen große Hoffnungen auf das Plebiszit des Rektorats. Mit einer überraschenden Idee und unglaublicher Organisationsarbeit gelang es dem Streikrat jedoch, die Niederlage abzuwenden. In weniger als fünf Tagen koordinierte der CGH eine eigene Umfrage, bei der die gesamte Bevölkerung Mexikos zur Teilnahme aufgefordert wurde.
Der Streikrat machte selbständig und ohne Hilfe der Presse Werbung in eigener Sache und erhielt erstaunlichen Zuspruch aus weiten Teilen der Gesellschaft – nach Angaben des CGH sprachen sich auch überwiegende Teile der Studentenschaft für eine Fortführung des Streiks aus. Die Ergebnisse mit einem positiven Votum für die Weiterführung des Ausstandes lagen bereits am 19. Januar vor und kamen damit dem Plebiszit des Rektorats zuvor. Statt geschwächt ging der CGH aus den Umfragen nun gestärkt hervor – die konkreten Zahlen spielten in dem Machtkampf eine untergeordnete Rolle. Beide Seiten warfen sich zudem gegenseitig vor, Ergebnisse gefälscht zu haben. Die Taktik von Rektorat und Regierung, den CGH über die Umfrage in die Ecke zu drängen, blieb ohne Erfolg.Vieles weist darauf hin, dass sich Rektorat und Regierung die Option, die Bewegung gewaltsam zu unterdrücken, seit langer Zeit offenhielten. Es ist mittlerweile bekannt, dass Ramón de la Fuente über alle am Streik Beteiligten persönliche Daten sammelte. Spätestens seit dem gescheiterten Plebiszit wurden konkrete Vorbereitungen getroffen, den Streik zu zerschlagen.

Meister des doppelten Diskurses

Die Strategie von Rektorat und Regierung im Umgang mit den Streikenden an der UNAM hat einige BeobachterInnen an einen anderen Konflikt erinnert, in den der mexikanische Staat verwickelt ist.
Die Auseinandersetzungen mit der EZLN (Nationale Zapatistische Befreiungsarmee) weisen, was die Diskrepanz von offizieller und inoffizieller Politik der Regierung angeht, verblüffende Ähnlichkeiten mit den Maßnahmen auf, die im Fall der studentischen Streikbewegung ergriffen wurden. Der vierte Jahrestag des Abkommens von San Andrés am 16. Februar machte noch einmal deutlich, dass keine der Versprechungen des Präsidenten bisher eingelöst wurden. In der Öffentlichkeit signalisierten die Autoritäten immer Dialogbereitschaft, während gleichzeitig mit unterschiedlichen Strategien die gewaltsame Auflösung der zapatistischen Bewegung verfolgt wurde.

Zuckerbrot und Peitsche

In beiden Konflikten zeigt die mexikanische Regierung ihre Unfähigkeit, auf soziale Bewegungen einzugehen.
Das alte Politikschema des Zuckerbrot und Peitsche mit der die PRI seit Jahrzehnten regiert, kommt immer wieder zum Vorschein. Emanzipationsbewegungen werden zugelassen, aber wenn sich der Regierungsapparat bedroht fühlt, zögert er nicht, harte Repressionsmaßnahmen zu ergreifen. Dass sich der Streik von diesem Schlag der Staatsorgane erholen kann, wird als unwahrscheinlich angesehen.
Aus ihm und den Solidaritätsaktionen könnte jedoch eine Bewegung der Studierenden entstehen, die in ihrer Dynamik den Privatisierungsvorhaben von Universitätsleitung und Regierung weiterhin etwas entgegenzusetzen hat. So schnell wie Rektor Ramón de la Fuente es sich wünscht wird wohl eine „Normalisierung“ an der UNAM nicht eintreten.

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