Kultur | Nummer 479 - Mai 2014

Schmerzhaft, aber notwendig

Das Theaterstück „Justicia Negada“ behandelt Feminizide in Mexiko

Die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez liefert seit zwölf Jahren den Stoff für die Theatergruppe Telón de Arena. Ihre Stücke bieten Raum für den Austausch von Erfahrungen mit Ungleichheit, Gewalt gegen Frauen und Drogenhandel. Mit „Justicia Negada“ (Verwehrte Gerechtigkeit) tourten die Künstler_innen zuletzt durch Deutschland.

Jan-Holger Hennies

Es ist dunkel im Theatersaal. Im schummrigen Licht der wenigen Lampen leuchten die auf der Bühne verteilten Kerzen umso heller. Plötzlich wird die tiefe Stille von melancholischen Celloklängen durchbrochen. Drei Frauen mit verbundenen Augen in schwarzen Gewändern sprechen sich gegenseitig Mut zu, während sie über einen Sandweg irren – auf der Suche nach ihren verschwundenen Töchtern, auf der Suche nach Gerechtigkeit. Zwischen ihnen stehen große grobe Holzstühle.
„Ich habe Theater in Mexiko-Stadt studiert und war 17 Jahre nicht in Ciudad Juárez“, erklärt Perla de la Rosa, Autorin und Regisseurin des Stücks gegenüber LN. „Als ich 2001 wiederkam, ist mir die große Ungerechtigkeit aufgefallen. Es gab die Frauenmorde, den Autoritarismus – eine Stadt fast wie aus dem Mittelalter.“ Dieser Beschreibung folgend bettete sie die reale Geschichte des ersten Feminizids, der jemals vor dem Interamerikanischen Gerichtshof verhandelt wurde, in eine mythische Erzählung ein: Es ist die Erzählung von Astraea, Göttin der Wahrheit, die mit wenigen Verbündeten gegen den Engel des Abgrunds, Abaddon, und dessen Scharen von Ratten- und Adlermännern kämpft. Diese hatten zuvor die Tochter der Göttin entführt und geopfert.
Astraea und ihre Verbündeten sind in der Wirklichkeit die drei Mütter Josefina González, Irma Monreal und Benita Monárrez, die auf der Suche nach Gerechtigkeit für die Entführung und Ermordung ihrer Töchter bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof ziehen mussten. Der Fall „Campo-Algodonero gegen Mexiko“ wurde so zum Präzedenzfall, in dem der Staat Mexiko 2009 erstmals dafür verurteilt wurde, das Leben und die Integrität der Frauen in Ciudad Juárez nicht zu garantieren. Doch auch Jahre später sind viele der Auflagen durch den Staat nicht erfüllt worden.
Viele der im Stück gesprochenen Texte sind Originalzitate aus den Gerichtsverhandlungen. Die Regisseurin und Schauspieler_innen trafen sich persönlich mit den Müttern. „Josefina González wird nie zu euch kommen, um mit euch zu reden. Aber heute ist genau das die Intention – dass sie bei euch ist, dass ihre Stimme gehört wird, dass ihr Schmerz fühlbar wird“, betont Perla de la Rosa. Eigentlich hatte sie das Stück inszenieren wollen, um dem Sieg der Mütter über den Staat Mexiko einen angemessenen Platz zu geben. Ein Stück mit guter Botschaft sollte es werden. „Doch das war nicht möglich. Nur ein Jahr nach der Urteilsverkündung wurde im Dezember 2010 Marisela Escobedo in Ciudad Juárez umgebracht. Von welchem Sieg sollten wir da noch sprechen?“ Escobedo war erschossen worden, während sie für ihre 2008 ermordete Tochter protestiert hatte. Aus dem Theaterstück wurde eine pessimistische Darstellung der mexikanischen Realität.
Und so hören die Zuschauer_innen die Zeugenaussagen der Mütter über die Behörden, die die Ermittlungen verschleppen; über die Bestechungsversuche der Regierung, um mit den eigenen Ermittlungen aufzuhören; über die selbst getragenen Kosten der DNA-Tests, um ihre Töchter identifizieren zu können. „Ich will, dass ihre Präsenz fühlbar wird. Die ungeheure Kraft, die sie mir vermittelt hat, weitergeben“, erklärt Guadalupe de la Mora, die die Aussagen von Benita Monárrez spricht. Dabei füge sie den Aussagen keine zusätzliche Dramatik bei, so die Schauspielerin.
„Wir kommen als Künstler und nicht als Aktivisten“, erklärte Perla de la Rosa vor der Tournee durch Deutschland den Mexikaner_innen, die sie fragten, warum sie ein solch negatives Bild von Mexiko im Ausland verbreiten wolle. Gleichzeitig betont sie, dass das Theater von Telón de Arena eine Stimme sein soll. Wie schmal der Grad zwischen Kunst und Politik ist, zeigt sich auch an den Reaktionen der Zuschauer_innen in Mexiko. „In Juárez will man nichts von diesen Themen wissen. Aber wenn die Leute dann kommen, sind sie nachher dankbar und sagen, dass sie die Themen gar nicht richtig kannten“, erzählt Guadalupe de la Mora. „Dann kommt ihnen das Theater als etwas Notwendiges vor. Schmerzhaft, aber notwendig.“ Doch ebenso trifft das Theater von Telón de Arena auf offene Ablehnung der Unternehmer_innen in Ciudad Juárez. „Sie sagen, wir sollten schweigen, nicht mehr von den Toten reden, weil wir Tourismus und Investitionen brauchen“, so Perla de la Rosa. „Die Forderung nach Gerechtigkeit wird in dieser Stadt geächtet, weil sie ein schlechtes Bild von der Stadt erzeugt.“ Drohungen habe es aber nie gegeben, da man das Theater überhaupt nicht als wirkmächtig genug sähe.
De la Rosa weiß um die geringe Reichweite des Theaters, auch wenn Telón de Arena bereits sechs internationale Tourneen hinter sich hat. Allerdings könne die Kunst ganz andere Diskurse anregen und, wie Guadalupe de la Mora hinzufügt, ein Ort sein, um bei den Menschen die Sensibilität für bestimmte Probleme zu verstärken. Für das Thema Feminizide sei das heute wichtiger als je zuvor, betont Perla de la Rosa: „Inzwischen gibt es ein großes Schweigen, dabei steigt die Anzahl der verschwundenen Frauen fortwährend. Und dazugekommen ist das Verschwinden von Jungen. Es wird getan, als ob das Problem längst gelöst wäre. Das ist eine Lüge!“

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