Kolumbien | Nummer 445/446 - Juli/August 2011

Schwierige Wiedergutmachung

Mit dem „Opfergesetz“ (Ley de Víctimas) sollen die Opfer des kolumbianischen Konflikts erstmals umfassende Entschädigung erfahren

Wohl nur selten in der jüngeren Geschichte Kolumbiens wurden derart hohe Erwartungen mit einem Gesetzesvorhaben verknüpft. Am 10. Juni wurde das als historisch gefeierte Opfergesetz in Bogotá ratifiziert. Zuvor hatte eine breite Mehrheit der VertreterInnen fast aller Parteien das Gesetz angenommen. Nach mehr als 40 Jahren der bewaffneten Auseinandersetzung in Kolumbien sollen nun die Opfer in den Mittelpunkt der Friedensbemühungen gestellt werden: Nicht weniger als vier Millionen Bürgerkriegsgeschädigten soll die finanzielle und symbolische Reparation zugute kommen und entwendete Ländereien sollen zurückgegeben werden.

Christian Konrad

Der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos sparte am 10. Juni nicht mit großen Worten: „Wie kein anderes Land hat Kolumbien die enorme Aufgabe angenommen, die Opfer zu entschädigen, die Ländereien zurückzuerstatten und die Wunden zu schließen, ohne den Konflikt, der uns ausbluten lässt, beendet zu haben. […] Nie zuvor hat ein Staat sich auf diese Weise dazu verpflichtet, eine moralische Schuld der Gesellschaft zu begleichen.“
In der Tat markiert das Gesetz einen Einschnitt im Umgang mit den Opfern und eine Kehrtwende gegenüber der Regierungspolitik unter dem vorigen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez. Darüber sind sich KritikerInnen und BefürworterInnen weitgehend einig, auch wenn sich diese Kehrtwende bislang vor allem auf die Rhetorik beschränkt. Während die Vorgängerregierung den Schwerpunkt auf die militärische Bekämpfung der Guerrillagruppen legte, das Humanitäre Völkerrecht mit Füßen trat, die Binnenvertriebenen zu einfachen MigrantInnen umdeutete, MenschenrechtsverteidigerInnen in einem Atemzug mit den Aufständischen nannte und nicht einmal die Existenz des bewaffneten Konflikts politisch eingestand, scheint die Regierung Santos andere Wege zu gehen. Es überrascht, dass nach den sicherheitspolitischen Exzessen der Uribe-Jahre Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte neuerdings zentrale Bestandteile des Regierungsdiskurses sind. Zumal mit Santos ein Vertreter der traditionellen hauptstädtischen Oberschicht das Präsidentenamt besetzt. Santos galt bis zu seinem Amtsantritt noch als Verfechter des Uribismo und nahm unter Uribe in seiner Funktion als Verteidigungsminister eine zentrale Rolle in dessen Kabinett ein. Die Fortführung des status quo war also vorprogrammiert, weshalb eine derart radikale Wende zunächst Misstrauen weckt.
So war es Santos persönlich, der das Opfergesetz zu einem zentralen Anliegen seiner Regierungspolitik erklärte. Unter Uribe war eine ähnliche Gesetzesinitiative 2009 noch an der Regierungsmehrheit gescheitert. Damals wurde argumentiert, das Gesetz stelle eine Gefahr für die Politik der „Demokratischen Sicherheit“ dar, da die Opfer von Guerrilla und Paramilitärs mit den Opfern der staatlichen Sicherheitskräfte auf eine Stufe gestellt würden. Auch letztere müssten dann mit Verfahren rechnen. Die aktuelle Version des Gesetzes sieht eben diese Regelung vor – das bedeutet allerdings nicht, dass der kolumbianische Staat damit seine Verantwortung bei den verübten Verbrechen anerkennt. Als weiteres Argument waren immer wieder die unzureichenden finanziellen Mittel ins Feld geführt. Eine Einigung wurde nun letztlich damit erzielt, dass das gesamte Vorhaben unter fiskalpolitischen Vorbehalt gestellt wurde. Die Finanzierung der Entschädigungen ist also keineswegs sicher.
Neu ist außerdem, dass in dem Gesetzestext vom „internen bewaffneten Konflikt“ die Rede ist. Faktisch ist das ein Eingeständnis des Bürgerkriegs und steht in offenem Widerspruch zur acht Jahre währenden Uribe-Ära. So lässt sich sogar von einem Zerwürfnis des Ex-Präsidenten mit einigen seiner ehemaligen Mitstreiter sprechen. Dennoch stimmten am Ende alle Parteien der Koalition der Nationalen Einheit (La U, Konservative Partei, Liberale Partei, Cambio Radical), PIN, die Grüne Partei und der Vertreter der afrokolumbianischen Gemeinschaft, Jair Acuña, den insgesamt 208 Artikeln zu. Als einzige Partei widersetzte sich das Linksbündnis Alternativer Demokratischer Pol der Zustimmung zum Entwurf. Deren Senator Iván Cepeda argumentierte, der Gesetzentwurf sei bereits zwischen dem Präsidenten und den Parteien der Regierungskoalition abgestimmt gewesen. Während der nachfolgenden Debatten habe man keine ernstzunehmende Möglichkeit mehr gehabt, Einfluss zu nehmen. Seine Partei allein brachte 105 Änderungsvorschläge ein, die jedoch keine Beachtung fanden. Cepeda bezeichnete das Gesetz dennoch als „wichtig“, aber mit „schweren Fehlern“. Er kündigte den Gang vor das Verfassungsgericht an, um Nachbesserungen zu erwirken.
Als Opfer gelten laut dem Gesetz „diejenigen Personen, die individuell oder kollektiv seit dem 1. Januar 1985 einen Schaden infolge von Verstößen gegen das Humanitäre Völkerrecht oder schwere und deutliche Verletzungen gegen die internationalen Normen der Menschenrechte im Rahmen des internen bewaffneten Konflikts erlitten haben.“ Gemeint sind damit Vertriebene, Entführte, Verschwundene, Opfer von politischen Morden wie GewerkschaftsführerInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen und AktivistInnen. Bei Entführung und Ermordung haben auch dem Opfer nahestehende Personen Anrecht auf Entschädigung. Mitglieder der illegalen bewaffneten Gruppen werden von dem Gesetz nicht erfasst, es sei denn, es handelt sich um Kinder und Jugendliche, die noch vor Vollendung ihres 18. Lebensjahres die Waffen niedergelegt haben.
Insgesamt besteht das Gesetz aus fünf Bestandteilen, die zusammengenommen für eine umfassende Entschädigung sorgen sollen: ein Programm zur psychosozialen Betreuung, ein Programm zur administrativen Entschädigung, die Landrückgabe, die immaterielle Entschädigung und eine Garantie der Nicht-Wiederholung. Der Staat verpflichtet sich zur Schaffung eines nationalen Opferregisters. Darin wird aufgenommen, wer über den rechtlichen Weg seinen Opferstatus nachweisen kann, wobei hier keine großen Hürden errichten werden sollen. Die psychosoziale Betreuung soll bei der Verarbeitung der erlebten Traumata Hilfestellung leisten. Bei der administrativen Entschädigung hat das Opfer die Wahl, einen so genannten contrato de transacción zu unterzeichnen, um eine finanzielle Entschädigung zu bekommen. Dabei verpflichtet die Person sich allerdings, jede künftige Schadensersatzklage auf rechtlichem Weg zu unterlassen. Das Programm zur Landrückgabe sieht eine Umschreibung geraubter Besitztitel an seine vorherigen Besitzer vor. An dieser Stelle bemüht sich das Gesetz offensichtlich, der komplexen Realität des Landraubs in Kolumbien Rechnung zu tragen. Derzeit ist die Rede von zwei Millionen Hektar Land, die in den kommenden zehn Jahren umverteilt werden sollen. So lang ist das Gesetz zunächst gültig. Mit dem Argument der gesetzlichen Verjährungsfrist bei der Überschreibung von Landtiteln werden hierbei jedoch nur Grundstücke berücksichtigt, die nach dem 1. Januar 1991 geraubt oder überschrieben wurden.
Die immaterielle Entschädigung sieht eine symbolische Wiedergutmachung für alle Opfer des Konflikts vor, ungeachtet des Zeitpunkts des Geschehens. Hierzu soll unter anderem ein Gedenktag für die Opfer (10. Dezember) ins Leben gerufen sowie ein Erinnerungs- und Dokumentationszentrum errichtet werden. Bei der „Garantie zur Nicht-Wiederholung“ handelt es sich nach den Worten des Präsidenten um „eine ganze Palette von Maßnahmen, die sicherstellen sollen, dass die Menschenrechtsverletzungen nicht wieder vorkommen.“
Die Reaktion der Zivilgesellschaft auf das Gesetz hält sich in Grenzen. Weitgehend einstimmiger Jubel kam zwar aus den großen Medienhäusern des Landes, doch eine öffentliche Debatte fand nicht statt. Selbst die sozialen Organisationen und Opferverbände in Kolumbien scheinen sich ob der plötzlichen Hinwendung zu ihren Anliegen unschlüssig: Man begrüßt mehrheitlich die Schaffung eines Opfergesetzes – immerhin ist es auch Ergebnis ihres zähen und langjährigen Kampfes um politische Anerkennung. Dennoch ist das Misstrauen groß: Die Reaktionen bewegen sich zwischen verhaltener Zustimmung und radikaler Ablehnung. Unter anderem hatte die Regierung es nicht für notwendig erachtet, die Opferverbände an dem Gesetzgebungsverfahren ausreichend zu beteiligen. Die Nationale Bewegung der Opfer von Staatsverbrechen (MOVICE) hatte schon früh die Einrichtung öffentlicher Anhörungen angeregt, in denen die umstrittensten Punkte diskutiert werden sollten – vergebens. Umstrittene Punkte gab es nicht wenige: Eine zentrale Frage drehte sich um die Jahreszahl, ab wann das Gesetz rückwirkend greifen soll. Mit jedem einzelnen Jahr werden schließlich Tausende von Opfern einbezogen oder von einer Entschädigung ausgeschlossen. Angesichts des Jahrzehnte währenden Konflikts ist die heutige Regelung natürlich unzureichend, um alle Geschädigten zu erfassen. Auch die zwei Millionen Hektar Land, die an Vertriebene verteilt werden sollen, bleiben weit hinter den rund sieben Millionen Hektar zurück, die schätzungsweise illegal erworben oder gewaltsam angeeignet wurden.
Selbstverständlich wird zudem heftig kritisiert, dass die Opfer die finanzielle Entschädigung nur annehmen können, wenn sie damit auf den Rechtsweg verzichten. Der Staat kauft sich damit von seiner Verantwortung frei – zumal es sich bei den Opfern häufig um Personen handelt, die auf finanzielle Hilfe nur schwer verzichten können. Die meisten Vertriebenen leben unter der Armutsgrenze. Die unsichere Finanzierung des Vorhabens ist ein weiteres Problem. Aller Voraussicht nach wird hier das Verfassungsgericht für Klarheit sorgen müssen. Das UN-Menschenrechtsbüro kritisiert außerdem die Selektion von Opfern, die nicht mit dem Humanitären Völkerrecht in Einklang stehe.
Und angesichts des andauernden Konflikts und der täglich neuen Opfer von Gewalt und Vertreibung bleibt die Regierung eine Antwort schuldig, wie sie die Sicherheit der RückkehrerInnen in ihren Heimatgegenden sicherstellen möchte. Eine doppelte Entschädigung ist in dem Gesetz ausdrücklich ausgeschlossen. Selbst wenn die eigentlichen Besitzer auf ihr Land zurückkehren können, ist dies keine Garantie einer nachhaltigen sozialen Verbesserung in den ländlichen Regionen, sagt Marco Romero von der Nichtsregierungsorganisation CODHES, denn „wirtschaftlich ist dies eine neoliberale Regierung und ein Prozess der sozialen Entwicklung wird jenseits der Landrückgabe nicht möglich sein.“ So hat sich Kolumbien ein wohlklingendes Gesetz verpasst, das mehr verspricht als es halten kann. Trotz positiver Ansätze steht es der umfassenden und nachhaltigen Entschädigung der Opfer selbst im Wege und kann daher lediglich als Zwischenschritt zu einem ernst gemeinten Opfergesetz betrachtet werden.
Ungeachtet dessen ist Präsident Santos Beifall auf der internationalen Bühne sicher. Bei der feierlichen Ratifizierung des Gesetzes am 10. Juni war UN-Generalsekretär Ban Ki-moon anwesend; Kolumbien ist derzeit Mitglied im Sicherheitsrat der UN. Nach der Vermittlung Kolumbiens und Venezuelas bei der Rückkehr des 2009 gestürzten honduranischen Ex-Präsidenten Manuel Zelayas nach Honduras dürfte das Gesetz eine weitere Trumpfkarte bei der internationalen Rehabilitierung Kolumbiens bedeuten. Der Ratifizierung der anvisierten Freihandelsverträge mit Europäischer Union und den USA wird es jedenfalls nicht schaden.
Ob Santos die außerparlamentarische Opposition innerhalb Kolumbiens so leicht einwickeln kann, ist allerdings fraglich: Am 13. Juni zogen sich die Menschenrechtsorganisationen von der Mesa Nacional de Garantías zurück, einem Runden Tisch zwischen Zivilgesellschaft und Regierung. Sie protestierten damit gegen den Mord an der Aktivistin Ana Fabricia Córdoba – selbst eine von ihrem Land Vertriebene – wenige Tage zuvor in Medellín, und damit wenige Tage vor der Verabschiedung des gefeierten Gesetzes. Die Regierung hatte ihr den zustehenden Schutz verweigert. Im Jahr 2011 wurden bereits 20 MenschenrechtsverteidigerInnen ermordet.

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