Nummer 413 - November 2008 | Paraguay

Schwieriger Weg zum Wandel

Die nächsten Wochen werden zeigen, ob der neuen Regierung ein Aufbruch gelingt oder nicht

Am 15. August trat Fernando Lugo Méndez offiziell das Amt des Staatspräsidenten Paraguays an. In seiner ersten offiziellen Rede bezog er klar Position für die sozial Schwachen und Ausgeschlossenen. Doch ein rascher, tiefgreifender sozialer Wandel ist mit dem neuen Regierungschef noch lange nicht gesichert. Die alten Eliten haben insbesondere auf die Judikative weiterhin großen Einfluss.

Reto Sonderegger

Eine klare Linie sieht anders aus. In den ersten Tagen seiner Regierung positionierte sich Präsident Fernando Lugo Méndez zunächst an der Seite von Venezuela, Bolivien und Ecuador. Direkt nach seiner Amtseinführung empfing er seinen venezolanischen Amtskollegen Hugo Chávez. Doch inzwischen hat er mehrfach abgewiegelt und sich auf Chile und Uruguay als Vorbilder berufen. Je nachdem, woher der Druck kommt, gibt er – zumindest in seinen Reden – nach.
Die größte Kraft der Regierung ist die Unterstützung und das Vertrauen vieler gesellschaftlicher Sektoren, die ihre Hoffnungen in Lugo setzen. Nach der jahrzehntelangen Herrschaft der Colorado-Partei hoffen die bisher vom politischen System Ausgeschlossenen auf einen grundlegenden Wandel. Doch deshalb steht die Regierung auch unter einem enormen Druck: Wenn sie es nicht schafft, schnell spürbare Lösungen für die drängendsten sozialen Probleme zu finden, könnte es mit dieser Unterstützung schnell wieder vorbei sein.
Die Regierung wird es nicht leicht haben, die Erwartungen zu erfüllen. Das größte Problem sind die Altlasten des vorhergehenden Systems. Die Colorado-Partei und die mit ihr verbündeten AgrarunternehmerInnen besitzen weiterhin Einfluss auf die Legislative und Judikative des Landes. Im Parlament haben die Abgeordneten der Opposition eine Mehrheit.
Und auch innerhalb der staatlichen Institutionen sind die alten Mächte noch präsent. In den Ministerien wurden nur die Führungskader ausgewechselt. Das bedeutet, dass der größte Teil der alten MitarbeiterInnen übernommen wurde. Diese werden wohl innerhalb der betreffenden Institutionen mindestens passiven Widerstand leisten.
Aus diesem Grund vermochte es die neue Regierung bisher nicht, einen strukturellen Wandel einzuleiten. Vielmehr handelt es sich um einen Übergangsprozess, der verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren Möglichkeiten bietet, sich zu organisieren und Kräfte zu akkumulieren.
Wichtigste Plattform der „neuen“ politischen Akteure ist die Sozial-Populäre Front (FSP). Die FSP wurde nach dem Wahlsieg vom 20. April von verschiedenen Basisorganisationen als Instanz gegründet, welche die Debatten, Analysen und Vorschläge der sozialen Bewegungen bündeln und der neuen Regierung vortragen soll. Damit wollen die beteiligten Organisationen eine Politik der öffentlichen Hand erreichen, die auch wirklich für die Interessen der Armen und Ausgeschlossenen arbeitet. In der FSP sind über 100 Organisationen vereinigt. Darunter sind Kleinbauern und -bäuerinnen, Indígenas, Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Obdachlose, arbeitende Kinder, KünstlerInnen, StudentInnen, RentnerInnen, kleine und mittlere Unternehmen und die Sozialpastorale der katholischen Kirche. Dabei betont die FSP, von der neuen Regierung unabhängig zu sein. Wichtigstes Ergebnis der Arbeit ist ein so genannter agrarischer Notstandsplan. Er zielt darauf ab, die bäuerliche Familienlandwirtschaft wieder zu beleben und zu stärken.
Das Landwirtschaftsministerium hat diesen Plan aber bislang nicht akzeptiert. Der neue Landwirtschaftsminister Cándido Vera Bejarano ist ein Mann ohne neue Visionen. Er will mit Gentechnologie die Welt vor dem Hunger retten. Andererseits ist die FSP bei der Agrarreformbehörde INDERT auf offene Ohren gestoßen. In der obersten Hierarchie der Behörde sitzen seit Lugos Regierungsantritt Vertrauensleute der FSP. Auch im Gesundheitsministerium oder der Indigenenbehörde INDI sitzen nun Leute aus den sozialen Bewegungen oder wenigstens solche, die deren Vertrauen genießen, auf verantwortungsvollen Posten.
Ein anderes Problem ist, dass es die Regierung bis heute nicht geschafft hat, materielle Antworten auf die Klagen der Bevölkerung zu finden. Dies hat seine Gründe auch in der fünfmonatigen Übergangszeit zwischen April und August, also dem Wahlsieg Lugos und seiner Amtsübernahme. In dieser Zeit plünderten die Mitglieder der früheren Regierung regelrecht die Institutionen des Staates: Gelder landeten in den Taschen der PolitikerInnen und etliche Archive wurden zerstört, um Spuren zu vernichten. Der damalige Präsident Nicanor Duarte Frutos sabotierte alle Versuche, derartige Exzesse zu kontrollieren oder einzudämmen.
Um diese von Korruption geprägte Situation zu beenden, wären juristische Schritte und Gerichtsverfahren nötig. Die Justiz liegt jedoch weiterhin in den Händen der Mafia aus GroßgrundbesitzerInnen sowie Drogen- und Waffenschmugglern um den ehemaligen Präsidenten Nicanor Duarte Frutos. Das Justizsystem ist das Bollwerk der Colorado-Partei. Sämtliche Mitglieder des Obersten Gerichtshofes wurden auf Fingerzeig Duarte Frutos‘ ernannt. Eine unabhängige Justiz existiert nicht einmal in Ansätzen. Auch die Staatsanwaltschaft wird von der Colorado-Partei kontrolliert.
Doch langsam bekommt die Hegemonie der Colorados und ihrer Verbündeten Risse. Auf dem Land mobilisieren derzeit Landlose, Indigene sowie Kleinbäuerinnen und -bauern in 130 Zeltlagern gegen die mechanisierte und gentechnische Landwirtschaft in Monokulturen. Sie fordern, dass der Großgrundbesitz neu vermessen wird, um irregulär angeeignetes Staatsland zu identifizieren. Dazu legte die Agrarreformbehörde INDERT kürzlich einen Bericht vor, wonach fast acht Millionen Hektar Staatsland illegal an die Parteielite, Militärs und UnternehmerInnen verteilt wurde. Die Landlosen fordern die Enteignung und Neuverteilung dieser illegal angeeigneten Ländereien.
Auf der anderen Seite mobilisieren die Landlosen, Indigenen und Kleinbäuerinnen und -bauern gegen Umweltverschmutzung und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Dabei geht es vor allem um die massive Besprühung von Sojamonokulturen mit Pestiziden, von denen die Gemeinden betroffen sind, die neben den Latifundien liegen. Dabei erhalten sie auch Unterstützung vom Gesundheitsministerium, das immer stärker die negativen Folgen des massiven Pestizideinsatzes für die Bevölkerung in Paraguay thematisiert. Ebenfalls wenden sich die Menschen in den Protestcamps gegen die Vernichtung von Sumpflandschaften und den letzten Wäldern.
Obwohl sich die Camps nicht auf Privatland befinden, geht die Staatsanwaltschaft repressiv gegen die Mobilisierungen vor. Seit dem 15. August räumte die Polizei bereits 27 Protestcamps. Dabei wurden viele Leute verhaftet und verletzt. Doch die Repression der GroßgrundbesitzerInnen und der mit ihnen verbündeten Staatsanwaltschaft beschränkt sich nicht auf Räumungen. Am 4. August wurde in Paraguarí Sindulfo Britez, ein Anführer der paraguayischen Bauernbewegung MCP, in seinem eigenen Haus ermordet. Mutmaßlich waren die TäterInnen AuftragsmörderInnen, die von GroßgrundbesitzerInnen bezahlt wurden. Am 3. Oktober wurde Bienvenido Melgarejo ermordet, diesmal waren die Täter PolizistInnen. Es gibt Berichte, dass sich um die 800 brasilianische Paramilitärs in Paraguay befinden, die im Auftrag der GroßgrundbesitzerInnen die anstehende Soja-Aussaat schützen sollen.
In der Provinz San Pedro stoppten Kleinbäuerinnen und -bauern schon einige Traktoren der Sojabauern und wurden dafür kriminalisiert. Die Spannung steigt täglich. Die Systemfrage in der Landwirtschaft wird sich in Paraguay in den nächsten Wochen noch dringlicher stellen, denn für die Kleinbäuerinnen und Landlosen geht es ums Überleben. Wenn sie es nicht schaffen, in diesem Jahr die Sojaexpansion zu bremsen, sind sie zum Untergang verurteilt.
Die alten Eliten aus Colorado-PolitikerInnen, Militärs, UnternehmerInnen und GroßgrundbesitzerInnen, die seit Jahrzehnten daran gewöhnt sind, die praktischen AlleinherrscherInnen Paraguays zu sein, versuchten noch aggressiver, ihre Macht zu bewahren. Anfang September machte Präsident Fernando Lugo im Fernsehen eine Putschverschwörung öffentlich. Dabei handelte es sich um ein Treffen im Haus des Ex-Generals Lino César Oviedo mit Ex-Präsident Nicanor Duarte Frutos, Generalstaatsanwalt Rubén Candia Amarilla und Juan Manuel Morales vom Obersten Wahlgericht. Zu ihrem Treffen luden sie General Máximo Díaz ein, Verbindungsmann zwischen Parlament und Streitkräften. Von ihm wollten sie wissen, was das Heer von der Krise im Senat hält, wo die Regierung kaum über Rückhalt verfügt. Der General antwortete, dass dies ein politisches Problem sei und er sich als Militär dazu nicht äußern könne. Am nächsten Morgen berichtete er dem Präsidenten von dem Treffen. Wegen General Díaz‘ Warnungen konnte dieser Putschversuch im Keim erstickt werden. Doch zeigt sich, dass der Konflikt um die Zukunft Paraguays noch viel Sprengstoff birgt.
Der soziale Prozess, den Lugo auf den Präsidentensitz gehievt hat, ist von seiner Schwäche und Improvisation gekennzeichnet. Keinesfalls kann man den Prozess in Paraguay mit dem in Bolivien vergleichen, wo die sozialen Bewegungen der Motor der Veränderung waren.
Die nächsten Wochen werden wegweisend sein. Der Wille von Lugo, die Familien der Kleinbäuerinnen und -bauern vor der Vergiftungen durch Pestizide zu schützen, scheint da zu sein. Doch der Druck der SojaproduzentInnen ist enorm. Es bleibt zu hoffen, dass sich die neue Regierung in diesem Spannungsfeld geschickt und strategisch verhält und Paraguay eine weitere Eskalation der Gewalt erspart bleibt.

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