Nummer 332 - Februar 2002 | Theater

Shakespeare auf kolumbianischer Bühne

Interview mit Farley Velasquez, Regisseur der Theatergruppe „Hora 25“

Anne Lindenberg

Warum hast du dir ausgerechnet Shakespeare ausgesucht und nicht etwa einen modernen kolumbianischen Autor, der doch sicherlich viel besser dazu geeignet wäre, die Lebensumstände und Probleme in Kolumbien zu repräsentieren?

Die kolumbianische Dramaturgie ist noch sehr jung. Die kolumbianischen Dramaturgen haben eigentlich gerade erst mit dem Schreiben begonnen. Sie interessieren mich aber eher weniger, obwohl einige von ihnen wirklich sehr gut schreiben. Shakespeare stellt eine sehr große Herausforderung für mich dar. Es gefiel mir, den schwierigsten Mann auszuwählen, den man auf die Bühne bringen kann, und zu möglichst guten Resultaten zu kommen. Auf unserer Suche nach einer Dramaturgie, die wichtige Dinge zu sagen hat, haben wir auch andere Autoren bearbeitet, aber bei Shakespeare hatten wir das Gefühl immer zu wichtigen Aussagen zu gelangen, so sehr wir ihn auch auseinandernahmen, veränderten und zerstörten.

Ist es dir leicht gefallen, „Macbeth“ auf kolumbianische Verhältnisse zu übertragen?

Ja, wirklich sehr. Schließlich repräsentiert Macbeth ja auch einen Mann, der den König verrät und umbringt. Über Macbeth zu sprechen ist sehr ähnlich, wie über die Anführer der bewaffneten Bewegungen Kolumbiens zu sprechen. Es kam uns so vor, als hätte Shakespeare den Figuren die gleichen Worte in den Mund gelegt, die ein Anführer der Paramilitärs einmal in einer Fernsehübertragung gesagt hat: „Ich habe dieses Jahr 900 Personen umgebracht, aber keine Einzige von ihnen war unschuldig.“ Dieser Kommentar hat mich noch einmal mehr über Shakespeare nachdenken lassen. Es schien mir, als hätte sich in all den Jahren kaum etwas geändert, als würde die Menschheit noch immer zwischen Liebe und der Macht des Todes navigieren und den Krieg als Vorwand dafür ausnutzen, den Menschen zu einem angeblich besseren Dasein zu verhelfen. Fast schien es uns ein bisschen so, als hätte Shakespeare die kolumbianische Realität gekannt.

Ist Shakespeare sehr bekannt in Kolumbien?

In Theaterkreisen und dem Publikum, das sich fürs Theater interessiert, ist Shakespeare natürlich genügend bekannt. Aber niemand möchte mehr einen klassischen Shakespeare auf der Bühne sehen. Sie wollen sehen, was aus Shakespeare inzwischen geworden ist, was er uns im 21. Jahrhundert noch zu sagen hat. Wir sind heutzutage keine Könige mehr, wir sind Bandenführer, Drogenbosse, Könige des Kapitalismus. Wir sind George Bush, Usama, wir sind andere Könige, Könige die ihre Kavallerie gegen Panzer eingetauscht haben. Ich glaube, wenn Shakespeare noch am Leben wäre, wäre er sehr gelangweilt, wenn er sehen würde, dass man seine Stücke noch immer mit Speeren und Schwertern aufführt. Man muss, wie ich finde, Shakespeare so umsetzen, dass er unsere eigenen Sorgen, unsere eigenen Mängel, aber auch unsere eigenen Fähigkeiten widerspiegelt.

Wie hat das kolumbianische Publikum auf eure „Macbeth“-Adaption reagiert?

Ich denke, sie ist größtenteils auf positive Resonanz gestoßen. In den ärmsten Vierteln der Städte, in die wir mit unserem Stück kamen, haben die Jugendlichen aus den unteren Gesellschaftsschichten, die Shakespeare kaum oder gar nicht kennen, großes Erstaunen darüber geäußert, dass Shakespeare politische Stücke geschrieben haben soll, in denen es um Mafia und Drogen geht, was natürlich ja auch nicht wirklich der Fall ist, sondern eben nur in unserer Umsetzung des Stoffes. An dieser Reaktion kann man sehen, dass es uns wohl gelungen ist, auch diejenigen anzusprechen, die garantiert gelangweilt den Raum verlassen hätten, wenn man ihnen einen Shakespeare im klassischen Stil vorgesetzt hätte. So sagen sie: „Carajo – dieser Shakespeare hat etwas von uns allen!“

Gibt es Verbindungen zwischen der kolumbianischen und der deutschen, oder europäischen Theaterszene?

In Kolumbien werden viele deutsche Autoren gespielt. Die wohl meistgespieltesten sind Georg Büchner mit „Woyzek“ und Heiner Müller. Es gibt ganz sicher einige Verbindungen, da das europäische Theater auch uns viel zu sagen hat, und manchmal hat es sogar einiges gemeinsam mit dem kolumbianischen oder allgemein lateinamerikanischen Theater. Die gegenseitigen Einflüsse sind immer sehr wichtig, wenn verschiedene Kulturen aufeinander treffen.

Könntest du mir etwas genauer die kolumbianische Theaterszene beschreiben? Welche Bedeutung hat Theater in der kolumbianischen Gesellschaft?

In Kolumbien gibt es erst seit etwa 40 Jahren eine richtige Theatertradition. Es gibt ein paar Gruppen, die sehr regional geprägte Stücke in traditionellem Stil aufführen. Es gibt andere Gruppen, die sich auf professionellerem Niveau international bekannte Autoren inszenieren. In den großen Städten wird im Moment sehr viel kommerzielles Theater gemacht – eine Art Boulevardtheater, für ein Publikum, das sich an seichten Witzen erfreut. Und dann gibt es aber auch einige Gruppen, die, so wie wir, experimentelles Theater machen. Es gibt in Kolumbien Theatergruppen wie „La Candelaria“, die eine der ältesten Gruppen ist und eine wirklich sehr interessante Arbeit leistet, oder der auch das „Teatro Quimera“ der Stadt Medellín.
Obwohl das kolumbianische Theater momentan noch in seiner Entstehungsphase begriffen ist, ist es der Theaterarbeit trotzdem schon gelungen, sich als eine wichtige Bereicherung in der kolumbianischen Gesellschaft zu etablieren. Auch wenn sie natürlich noch mit sehr vielen Unzulänglichkeiten zu kämpfen hat, sei es auf akademischem oder auf technischem Niveau. Diese Schwierigkeiten sind zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass es in einem wirtschaftlich so problembehafteten Land wie Kolumbien für Schauspieler sehr schwierig ist, eine gute Ausbildung zu erhalten und sich künstlerisch zu entwickeln.

Inwieweit beeinflussen die politischen Ereignisse in Kolumbien das Theater? Oder umgekehrt: Inwieweit versucht das Theater, die politische Realität zu beeinflussen?

Das politisch orientierte Theater ist im Verlauf der Jahre immer schwächer geworden. Heute stehen die meisten Theatergruppen der Politik etwas reserviert gegenüber. Sie begeben sich in Gefahr, wenn sie sich zu sehr in die Politik einmischen. Dennoch gibt es einige Gruppen, die sich eine politisch engagierte Theatertradition vorbehalten und so versuchen, politisch relevante Themen anzusprechen, um das Land politisch zu unterstützen und die Menschheit zu verändern. Trotz der sehr starken politischen Verfolgung in Kolumbien. Aber das sind wirklich nur sehr wenige Gruppen.

Versucht ihr direkten Einfluss auf die Gesellschaft auszuüben, z.B. mit Hilfe von Workshops oder der Zusammenarbeit mit Straßenprojekten?

Wir bieten regelmäßig Workshops an im Raum Medellín. Das gehört zu unserer Routine und zu unserer Vorstellung von Theaterarbeit. Das Theater ist im Bewusstsein der meisten Kolumbianer ziemlich abwesend, weil sie sich in ihrem Alltag viel zu sehr den Problemen des täglichen Überlebens widmen müssen, als dass sie dem Theater große Aufmerksamkeit schenken könnten. Für die meisten Menschen geht es in erster Linie darum, das zum Leben notwendige Geld nach Hause zu bringen. Ein 17-jähriger Junge zum Beispiel, der eine Theaterausbildung erhalten möchte, befindet sich in einer äußerst schwierigen Situation. Der Druck von Seiten des Elternhauses ist oft sehr groß, es wird von ihm verlangt, zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen, und dieser Aufgabe ist das Theater leider eher abträglich. Es ist eine sehr schwierige Situation, aber dennoch gibt es auch hier Leute, die den Widerständen trotzen und Theater machen.

Wart ihr mit eurer Arbeit schon einmal konkreten Repressionen von Seiten des Staates oder anderen Institutionen ausgesetzt?

Es gab durchaus schon Momente, in denen wir unter Repressionen zu leiden hatten. Vor allem während der Jahre 1990-94, auf Grund einiger Stücke, die sich kritisch mit der Situation in den Gefängnissen und anderen sozialen Problemen unserer Gesellschaft auseinander setzten. Aber wir konnten nie genau verorten, von welcher Seite diese Repressionen eigentlich kamen. Dazu gibt es in Kolumbien viel zu viele bewaffnete Fronten. Die meisten Theatergruppen haben schon einmal unter Repressionen zu leiden gehabt. Obwohl heute sicherlich viel mehr Gewalt herrscht als früher, genießen wir inzwischen aber auch ein bisschen mehr künstlerische Freiheit, und die Gruppen suchen nach intelligenten Strategien, um sich nicht zu offensichtlich in die Politik einzumischen. Das müssen sie tun, weil sie sich sonst wirklich in Gefahr begeben würden.

Gibt es in Kolumbien noch eine neutrale Zivilgesellschaft, oder ist man als Kolumbianer automatisch einbezogen in die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den bewaffneten Fronten?

Hierin sehe ich eines der ganz großen Probleme der kolumbianischen Gesellschaft. Die Leute wollen, beziehungsweise können sich nicht positionieren. Politische Ignoranz und Unkenntnis sind sehr verbreitete Phänomene in Kolumbien. Davon profitiert vor allem die Rechte sehr stark. Die Guerilla und die ganze linke Bewegung bietet für die meisten Leute keine wirkliche Alternative. Dazu hat sie sich zu vielen Massakern und Entführungen schuldig gemacht. Auch ich sehe in den Aktionen der Guerilla keinen wirklichen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft. Dennoch bin ich der Meinung, dass eine Gegenposition zur Regierung, die sich auch artikuliert, sehr, sehr wichtig ist. Auf beiden Seiten wurden schwerwiegende politische Fehler begangen, so dass beide Seiten viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt haben. Sieht man sich vor die zwei bestehenden Alternativen gestellt – was bleibt einem da viel anderes übrig, als eine mehr oder weniger neutrale Position zu beziehen? An dieser Frage scheiden sich wirklich die Geister, aber die große Mehrheit der Kolumbianer ist gegen die Gewalt.

KASTEN

Die Theatergruppe “Hora 25” aus Kolumbien

Aus dem Bedürfnis heraus, die sozialen und politischen Probleme ihrer Herkunfts- und Schaffensstadt Medellín besser zu verstehen und auf sie zu reagieren, gründete ein Haufen junger Schauspieler und Tänzer 1994 die Theatergruppe „Hora 25“. Mit zahlreichen Produktionen waren sie seitdem auf beinahe allen südamerikanischen Theaterfestivals präsent. Im Rahmen des Berliner „Maulhelden“-Festivals im Tempodrom waren sie mit ihrer sehr kolumbianischen „Macbeth“-Adaption „New Gangsters B.F.A. “erstmals auch in Deutschland zu bestaunen In dem Stück haben Shakespeares Helden die Welt der höfischen Intrigen verlassen und ihre Schwerter gegen Pistolen eingetauscht. „B.F.A.“ steht als Synonym für das Drogenkartell einer Art shakespearschen Pablo Escobars. Mit dem Ineinandergreifen von shakespearschen Elementen und einer eigenen experimentellen Ästhetik, die sie selbst als „reflexiv und riskierend“ bezeichnen, will die Gruppe „Hora 25“ deutlich machen, dass sich an den Grundzügen der Thematik von Macbeth wenig geändert hat. Wer sich eine Stunde lang in den Bann der überzeugend dargestellten kolumbianischen Welt und ihrer Charaktere schlagen lassen möchte, dem seien die folgenden Vorstellungen ans Herz gelegt. Ende der ersten Februarwoche spielt „Hora 25“ in Hamburg und am 10., 11., 12. Februar ist in Bremen im „Jungen Theater im Güterbahnhof“ zwar nicht „New Gangsters B.F.A.“, aber die Erzählung „Alguien desordena estas rosas“ von García Márquez zu sehen.

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