Mexiko | Nummer 384 - Juni 2006

Silhouetten hinter Milchglasscheiben

Hintergrund-Reportage zu der brutalen Polizeigewalt in Atenco

„Nach Santiaguito?“ fragen wir den Tankwart. „Etwa fünf Minuten den Hügel hinauf, nicht zu verfehlen“, entgegnet er uns, wischt sich die öligen Hände an seinem ausgebleichten Overall ab und fügt hinzu: „Ihr werdet schon erwartet.“ Dann winkt er mit seinem grünen Fähnchen das nächste Auto an die Zapfsäule, einen Streifenwagen der Polizei des Bundesstaates.

Marco Pulquo

Staub wirbelt durch die offenen Fenster und wir müssen die Augen fest zusammenkneifen, um die Wachtürme der Haftanstalt Santiaguito vom Horizont zu unterscheiden. Hier, hinter doppelreihigem Stacheldraht und grauen Stahlbetonmauern, werden seit fast drei Wochen die Gefangenen von Atenco festgehalten.
Der Tankwart sollte Recht behalten, wir werden erwartet. Aber statt des befürchteten Polzeiaufgebots sind vor dem Haupteingang der Haftanstalt ausschließlich Demonstranten zu sehen. „Presos políticos libertad“ („Freiheit für die politischen Gefangenen“), skandieren sie unablässig. Als ein Wärter hinter dem Gitterzaun vorbeischlendert, erntet er wütende Drohungen. „Wir wissen, wo deine Familie wohnt, wir werden dir schon zeigen, wie sich das anfühlt.“ Unbeeindruckt verschwindet er im nächsten Treppenaufgang. Erst ein vorbeidröhnender LKW erstickt die wüsten Beschimpfungen. Dann setzen erneut die Sprechchöre ein: „Es lebe Atenco, der Kampf geht weiter.“

Vor dem Sturm

Anfang Mai kommt es in der Gemeinde Atenco, in der Nähe von Mexiko Stadt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizeieinheiten und einem Bündnis aus Blumenhändlerinnen und Campesinos . Die Lage eskaliert: stundenlange Straßenschlachten, entführte Polizisten, brutale Festnahmen. Ein Ordnungshüter erschießt einen 14-jährigen Jungen. Das besetzte Atenco, in dem sich etwa 300 DemonstrantInnen verschanzt hatten, wird schließlich von über 3.500 Polizisten gestürmt. Während der Festnahmen von mehr als 200 Menschen und dem Transport in die Gefängnisse kommt es zu massiven Übergriffen. Folter, sexueller Missbrauch und Vergewaltigung – inzwischen liegen bei verschiedenen Menschenrechtsorganisationen über 200 Anzeigen gegen die Ordnungshüter vor.
Wie ein recht banaler Konflikt zwischen einem Dutzend Straßenhändlerinnen und dem Gemeinderat eine solch brutale Repression auslösen konnte, scheint zunächst unerklärlich. Im Grunde wollten die Marktfrauen lediglich weiterhin an ihrer angestammten Ecke am Mercado Belisario Domínguez Blumen verkaufen, und zwar auch nach dem Bau des neuen Einkaufszentrums. Aber Atenco und die umliegenden Gemeinden sind nicht irgendwelche Dörfer. Vor vier Jahren hatten sich die Einwohner hier zusammengeschlossen, um den geplanten Bau eines Großflughafens zu verhindern. Als die Regierung sich weigerte, über die Zwangsenteignungen neu zu verhandeln, wurde der Streit auf der Straße ausgetragen. Nach mehreren gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Gemeindemitgliedern ließ die Regierung schließlich von ihrem Vorhaben ab. Der Mythos vom unbeugsamen Atenco war geboren und mit ihm die revolutionäre Campesin@-Organisation „Front der Gemeinden in Verteidigung der Erde“ (FPDT).
Jetzt, im Wahljahr 2006, warben allerdings gleich zwei Parteien damit, Atenco doch noch einen Flughafen zu verpassen: die Regierungspartei Nationale Aktion (PAN) und die Institutionelle Revolutionäre Partei (PRI). Zum runden Tisch, an dem sich die FPDT alle vierzehn Tage mit bundesstaatlichen Vertretern traf, schickte Gouverneur Enrique Peña Nieto von der PRI am Ende nur noch Staatsdiener untersten Ranges. Während dieser Verhandlungen war bis Ende April auch über die Zukunft der Blumenhänderinnen aus Texcoco gestritten worden – ohne Ergebnis. Bei einem der letzten Treffen schließlich umstellten Polizeieinheiten des Kommandos „Dragones“ den Verhandlungsort und bedrohten die Abgesandten der FPDT mit ihren Waffen. Der Dialog war endgültig gescheitert.
Zwei Tage vor dem „Sturm auf Atenco“ hatten sich die Straßenhändlerinnen auf lokaler Ebene dann doch noch mit dem Gemeinderat geeinigt, weiterhin ihre Blumenstände aufbauen zu dürfen. Deshalb ist bis heute unklar, warum am Morgen des 3. Mai drei Busladungen Staatspolizisten in der Nähe des Marktes stationiert waren und warum versuchte wurde, die Frauen zu vertreiben. Andererseits ist auffallend, dass die Blumenverkäuferinnen zu dieser frühen Stunde eine Schar Macheten tragender Anhänger der FDTP mitbrachten. Niemand schien dem „sozialen Frieden“ an diesem Morgen so recht getraut zu haben…

Einschüchtern statt Aufarbeiten

Auch vor dem Gefängnis Santiaguito in Toluca sind heute einige Macheten zu sehen, allerdings aus Holz und Pappe. „Am letzten Freitag haben sie versucht, uns die Dinger abzunehmen,“ erzählt Adriana, eine Bewohnerin aus Atenco und Mitglied der FPDT. „Auf dem Weg zu einer Demonstration am vergangenen Freitag haben uns mehr als 40 Patrouillen eingekreist. Die wollten unsere Macheten haben, aber wir haben uns geweigert. Schließlich sind wir ins Dorf zurückgefahren, haben sie abgelegt und sind ohne Macheten zu der marcha (Demonstration) losgezogen. Die Polizei provoziert uns noch immer. Wir lassen uns aber auf nichts ein.“
Das angegraute Haar unter einem Strohhut gebündelt und zornig mit ihrer Machetenattrappe gestikulierend, ist Adriana inzwischen fast jeden Tag vor dem Gefängnis Santiaguito anzutreffen. Sie hatte Glück und konnte sich während des Polizeieinsatzes in einem sicheren Haus in Atenco verstecken. „Es war nicht einfach. In die Parteilokale zum Beispiel ließen sie kaum jemanden hinein. Studenten wurden allesamt abgewiesen. Viele, die sich in Wohnhäusern versteckten, wurden später von den dort lebenden Familien verraten – aus Angst, nehme ich an. Und dann gab es da noch die Hubschrauber, die ausspähten, wohin wir liefen.“
Auch vor dem Knast, der offiziell als „Zentrum für Prävention und soziale Wiedereingliederung“ etikettiert ist, gibt es heute anscheinend ein paar Leute in Zivil, die dokumentieren, wer genau den Parkplatz belagert. Ein Fotograf und ein Kameramann wollen keine Angaben machen, für wen sie hier Bilder sammeln. Bevor sie zur Rede gestellt werden können, sind sie verschwunden.
Überwachen und Einschüchtern, so sollen bereits freigekommene Gefangene, ihre Familien, UnterstützterInnen und die freien Medien diszipliniert werden. Die Notrufnummer des unabhängigen Medienzentrums in Mexiko Stadt (CML) beispielsweise wurde unlängst geklont, um dann über diese Nummer Drohanrufe an verschiedene AktivistInnen zu tätigen. Eine Studentin der Universität UNAM wird inzwischen fast täglich von anonymen Anrufern mit dem Tod bedroht und aufgefordert, ihr politisches Engagement einzustellen. Inzwischen hat sie eine Anzeige gegen Unbekannt aufgegeben.
Plötzlich Gedränge vor der Spiegelglasfassade am Haupteingang von Santiaguito. In dem im Erdgeschoss untergebrachten Saal der Zweiten Strafgerichtskammer von Toluca finden heute die ersten Anhörungen der Angeklagten statt. Hinter dem Spiegelglas und einer gegenüberliegenden Milchglasscheibe tauchen immer wieder neue Silhouetten auf, suchen ihrerseits nach bekannten Umrissen vor dem Gerichtstrakt. Mit Handzeichen werden Botschaften ausgetauscht und versucht, die Anwesenheit der Gefangenen zu überprüfen, denn es ist nicht ganz klar, wie viele Personen sich noch in Haft befinden. Zwischen 25 und 28 Namen stehen auf den unterschiedlichen Listen der UnterstützerInnen.

Isolieren und Verleugnen

Immer wieder werden Gefangene in andere Haftanstalten oder Krankenhäuser verlegt, ohne ihre Familien oder juristischen Vertreter darüber zu informieren. Estela, vom unabhängigen Radiosender Pacheco hat einen dieser nächtlichen Gefangenentransporte miterlebt. Zusammen mit ein paar dutzend weiterer AktivistInnen kampiert sie seit über einer Woche an der südlichen Eingangsschleuse von Santiaguito. Zelte, Plastikplanen und Transparente säumen den Stacheldrahtzaun. Tag und Nacht hallen zwei Lautsprecher in Richtung der Gefängnismauern. Mal werden Briefe vorgelesen, mal wird gesungen. In der vergangenen Woche unterbrach jedoch ein Polizeieinsatz den nächtlichen Knastfunk.
„Plötzlich waren überall Mitglieder der Staatspolizei und bewaffnete Beamte in Zivil. Sie haben die ganze Straße gesperrt und begannen die Leute aus dem Protestcamp einzuschüchtern. Dann holten sie einen der Gefangenen ab. Am nächsten Tag informieren uns einige der Häftlinge, zu denen wir Telefonkontakt haben, dass der inhaftierte Hector Galindo, ein rechtlicher Vertreter der FPDT, über Nacht verschwunden sei. So konnten wir uns dann zusammenreimen, wer da nachts transportiert wurde. Am Nachmittag haben uns Anwälte informiert, dass er in das Hochsicherheitsgefängnis Las Palmas überführt wurde.“
In einem anderen Fall gelang es, geplante Gefangenentransporte zu verhindern. Die beiden Studentinnen Marina Selvas Goméz und Zuellen Gabriela sollten ebenfalls nach Las Palmas verlegt werden, „angeblich um medizinische Untersuchungen durchzuführen“, berichtet Estela. „Erst die Intervention des Menschenrechtszentrums Augustin Pro Juárez konnte das verhindern.“ Die beiden Gefangenen befürchteten nämlich, dass die Verlegung nur einer weiteren Isolation dienen sollte, um ihre Anschuldigungen gegen die Polizei zu vertuschen.
Marina und Zuellen haben beide ausgesagt, während des Transports von Atenco nach Santiaguito sexuell missbraucht worden zu sein. Die Anwälte der beiden jungen Frauen berichten, ihre Mandantinnen hätten mehrfach versucht, Anzeige gegen die Polizisten zu stellen, aber niemand sei darauf eingegangen. Auch die Vaginalinfektionen, Folgen des Missbrauchs sind medizinisch nur unzureichend versorgt worden. Zuellen hat gegenüber der Tageszeitung La Jornada, außerdem berichtet, dass ihr gedroht wurde, auf die Krankenstation verlegt zu werden, falls ihre Regelblutungen ausbleiben sollten.

Staatliche Gewalt gegen Frauen

Die Liste der einzeln dokumentierten Menschenrechtsverletzungen während des Polizeieinsatzes in Atenco ist lang und grausam. Ein Rollstuhlfahrer im Rentenalter wurde von den Einsatzkräften brutal zusammengeschlagen, mehrere Menschen erlitten Schädelbrüche von den Schlägen und Tritten der Polizisten. Der Arzt Fernando Rubí Apreza erinnert sich außerdem, in Atenco zahlreiche Verletzte mit Schusswunden gesehen zu haben. Diese wurden jedoch allesamt in ein unbekanntes Krankenhaus gebracht. Von ihnen gibt es bisher keine Neuigkeiten.
Im Zentrum des Zorns stehen jedoch die sexuellen Übergriffe gegen die weiblichen Verhafteten und die Einwohnerinnen von Atenco. Vor allem die Gleichgültigkeit und Arroganz der politisch Verantwortlichen hat die Wut noch gesteigert. Die Kommentare reichen von dreister Verleugnung der sexuellen Übergriffe bis zu wagen Versprechen, einzelne Vergehen aufzuklären. Gouverneur Peña Nieto wiederholte erst kürzlich, dass die Polizeibeamten zwar „wenig professionell, aber doch menschlich“ gehandelt hätten.
Die nationale Menschenrechtskommission (CNDH) hat inzwischen mehrfach bestätigt, dass sieben Anzeigen wegen Vergewaltigung vorliegen und 16 weitere Fälle von sexuellem Missbrauch denunziert wurden. Nichts desto trotz behauptet ausgerechnet die nationale Frauenbeauftragte Patricia Espinosa weiterhin aus Mangel an „realen Beweisen“ nicht handeln zu können.
Susana Thalía Pedroza vom CNDH weist solche Forderungen als zynisch zurück, denn der mexikanische Staat fordert als Beweis für Vergewaltigungen ein gynäkologisches Gutachten. „Inzwischen sind über zwei Wochen vergangen. Ist doch bereits klar, wie ein solches Gutachten dann ausfällt“, meinte die Menschenrechtlerin auf einer Pressekonferenz. Sie besteht deshalb darauf, psychologische Gutachten einzuholen, die zusammen mit ergänzendem Bildmaterial ebenso geeignet seien, die sexuellen Vergehen nachzuweisen.
Die Übergriffe der Polizeibeamten während der Festnahmen und den Transporten in die Haftanstalten sind jedoch nicht – wie das meist der Fall ist – auf Rachegelüste, Aufputschmittel und Triebhaftigkeit zu reduzieren. Nur wenige KritikerInnen haben für das volle Ausmaß der sechsstündigen Erniedrigungen in den Gefangenentransportern so deutliche Worte gefunden wie die Feministin Lydia Cacho.
„Die Folter und Vergewaltigungen der Frauen von Atenco sind das Produkt einer strukturellen Frauenfeindlichkeit,“ schreibt Cacho in einem Artikel in La Jornada. „Die Polizisten bereiteten sich ein Festmahl mit diesen Frauen; entsprechend des in Mexiko üblichen traditionellen Verhaltenskodex und des polizeilichen Sadismus. […] Diese sexuelle Folter muss aufgeklärt werden, und zwar mit aller Konsequenz. Die betroffenen Frauen als Lügnerinnen zu bezeichnen, das ist Staatsgewalt, das ist Komplizenschaft.“
Für Adriana steht dagegen fest, dass auch die meisten Zeitungen in Mexiko an dieser gezielten Verleumdung beteiligt sind. Sie erzählt, in ihrer Gemeinde seien noch mehr Frauen sexuell missbraucht wurden, aus Scham würden sie jedoch keine Anzeige erstatten. „Frauen aus Atenco wurden während der Polizeirazzien in ihren Häusern vergewaltigt, oftmals vor den Augen ihrer Ehemänner.“ Sie überlegt kurz, zieht die Schultern nach oben: „Was sonst kann ich dir noch sagen?“
„Dort sind sie die Schweine,“ schreit plötzlich jemand und alle Blicke richten sich auf einen herannahenden Polizei-Pickup. Auf der Ladefläche hocken drei Uniformierte, die schnell aufspringen und nach ihren Pump-Guns greifen, als sie die Demonstranten auf sich zurennen sehen. Im Nu ist das Auto eingekesselt, die Stimmung ist angespannt. Immer lauter werden die „Mörder“ und „Vergewaltiger“ Rufe. Viele Hände trommeln den Takt dazu, auf der Kühlerhaube und gegen die Fenster des Einsatzwagens. Im Gefängis machen sich Polizeibeamte zum Ausrücken bereit. Doch dazu kommt es nicht. Im Schrittempo kämpft sich der Fahrer durch die auseinanderweichende Menge. Fotos patschen auf die Windschutzscheibe, mit Gesichtern, die im Moment nur hinter Milchglasscheiben zu erahnen sind.

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