Linke in Lateinamerika | Nummer 325/326 - Juli/August 2001

Socialismo brasileiro

Brasiliens Landlosenbewegung MST ist die entschiedenste Stimme der brasilianischen Linken – Auf den zweiten Blick offenbart sich so manche Ungereimtheit

Obwohl die Bewegung der landlosen Landarbeiter (MST) erheblich weniger Mitglieder hinter sich hat als etwa die Landarbeitergewerkschaft CONTAG, gilt sie als wichtigste soziale Organisation Brasiliens, wenn nicht Lateinamerikas. Eine Bestandsaufnahme jenseits von romantisierender Schwarz-Weiß-Malerei bleibt schwierig.

Gerhard Dilger

Die Medienwirksamkeit der MST beruht zu einem guten Teil auf ihren relativ militanten Aktionsformen, vor allem den Landbesetzungen. Dazu kommen der geschickte Einsatz von Symbolen – Mahnwachen vor der Präsidentenfazenda, Zerstörung von Gentechfeldern – und die bewusste Polarisierung des politischen Diskurses. Immer wieder legt sie glaubwürdig Wert auf ihre prinzipielle Gegnerschaft zur Regierung von Präsident Fernando Henrique Cardoso. Diese Polarisierung überträgt sich allerdings auch auf die Medien und selbst die akademische Diskussion über Landfragen, was dazu führt, dass es bis heute keine wirklich offene Debatte über Ziele, Methoden, Aktionsformen oder auch Fehler der MST gibt. Auch deswegen können die folgenden Überlegungen nicht mehr als ein Denkanstoß sein.

Mehr Demokratie wagen?

Seit ihrer Gründung 1984 hat die MST manch herkömmliches Organisationsschema der Linken gemieden: Mitglieder werden ganze Familien, nicht nur die männlichen Familienoberhäupter. Auch Angehörige anderer Berufe haben Zugang. Zu dieser „populären“ Komponente kommen noch das gewerkschaftliche und das politische Element, in gut marxistischer Terminologie: Agrarreform als Bestandteil des „Klassenkampfes“. Allerdings besteht kein Hang zur Parteipolitik, wobei die Arbeiterpartei PT seit jeher als natürlicher Verbündeter gilt.
Wichtige Organisationsprinzipien sind sowohl die kollektive Führung, welche Korruption und Kooptation verhindern und auch besseren Schutz vor Repression bieten soll, als auch die Arbeitsteilung nach dem Motto: „Was würdest du gerne innerhalb der MST tun?“ Außerdem sind Disziplin, Weiterbildung und Basisbezug wichtige Bestandteile der Strukturen der MST. Kritiker wie der Agrarsoziologe Zander Navarro aus Porto Alegre werfen der MST vor, „undemokratisch“ zu sein, denn tonangebend sei „eine kleine Gruppe nationaler Führungspersönlichkeiten“, wogegen sich Aktive aus dem Mittelbau durch ein „militaristisches Ethos und eine quasi religiöse Hingabe“ auszeichneten. Tatsächlich sind die informellen MST-Strukturen nicht sehr transparent und aufgrund der politischen Verfolgung durch die Justizbehörden oder die Landpolizei (siehe Kasten) werden eher konspirative Tendenzen noch gefördert. Allerdings herrscht auch kein in der KP-Tradition stehender „demokratischer Zentralismus“, da die bundesstaatliche Ebene im Verhältnis zur nationalen Leitung hohe Autonomie genießt.
Vielleicht kann man die starke Betonung MST-interner Aus- und Fortbildung als langfristigen Beitrag zur Demokratisierung verstehen, da normalerweise die Armen Brasiliens kaum Zugang zu Bildung haben.

Gewaltfreiheit mit Fragezeichen

Bei der Ausbildung der Kader werden nicht nur die marxistischen Klassiker gelesen, sondern auch brasilianische Denker wie Florestan Fernandes, Celso Furtado, Paulo Freire, Darcy Ribeiro, Frei Betto oder Leonardo Boff. Weitere Ikonen sind Che Guevara, José Martí, aber auch die Vertreter der Gewaltfreiheit Gandhi und Martin Luther King gelten als Vorbilder. Allen Verleumdungen zum Trotz lehnt die MST den bewaffneten Kampf ab. Der strukturellen und oft auch physischen Gewalt, der die Landlosen ausgesetzt sind, begegnen diese lediglich mit Gewalt gegen Sachen, so mit der Plünderung eines Supermarktes oder durch Demolierung einer Büroeinrichtung. Begierig greifen die Presse und vor allem auch die Fernsehstationen jene Details auf, die dazu dienen, das Zerrbild von der MST als einem Haufen extremistischer Randalierer zu verstärken. Im Gegenzug zur Darstellung der MST als gewalttätige Organisation, wird in den meisten „bürgerlichen“ Printmedien die Regierung als gutwillig und verhandlungsbereit präsentiert.
Alle großen Zeitungen, überraschend vehement auch die linksliberale Folha de So Paulo, haben sich im letzten Jahr auf die MST eingeschossen. Hauptvorwurf der Presse ist die Erhebung von angeblich irregulären Mitgliedsbeiträgen, im Schnitt drei Prozent der Produktion. Diese Beiträge werden als pedágio (Maut) diffamiert (die Erhebung von hohen Autobahngebühren durch private Konzessionäre ist denkbar unbeliebt). Die Beiträge werden oft kollektiv erhoben. Außerdem finanziert sich die MST auch aus Staatsmitteln, etwa wenn ein ähnlicher Prozentsatz von staatlichen Krediten für die Kooperativen direkt an die Organisation weitergelitet wird. Für Kritiker wie Navarro sind dies unmoralische „korporative Praktiken“. Darüber hinaus sollen der MST in manchen Jahren staatliche Gelder von über zehn Millionen DM allein für Bildungs- oder Gesundheitsmaßnahme zugeflossen sein. Nun hat die Regierung auch an dieseer Stelle die Daumenschrauben angezogen.
Man kann den MST-Oberen kaum widersprechen, wenn sie das Agieren der stark oligopolistisch geprägten Presse darauf zurückführen, dass das brasilianische Bürgertum nichts mehr fürchtet als das „organisierte Volk“. Doch ab und zu schießen sie ein Eigentor: So, wenn João Pedro Stedile zur Zerstörung von Mautstellen aufruft, dies Wochen später tatsächlich gemacht wird, und anschließend sechs MST-Mitglieder monatelang als regelrechte „politische Gefangene“ in Haft sitzen. Oder wenn Gilmar Mauro (MST São Paulo) kundgibt, dass er Lust hätte, einen Molotovcocktail ins Folha-Gebäude zu werfen. Solche Kraftmeiereien sind nicht nur ein gefundenes Fressen für die MST-Gegner, sondern stoßen auch gemäßigtere Bündnispartner vor den Kopf, etwa aus Kirchenkreisen, der PT oder Landarbeitergewerkschaften. Und sie kosten auch bei der Bevölkerung Sympathien.

Welche Landwirtschaft?

Während das Ziel einer binnenzentrierten Landwirtschaft innerhalb der MST Konsens ist, herrscht in Bezug auf die favorisierten Produktionsweisen ein munterer Pluralismus. Mitte der Neunzigerjahre favorisierte Stedile das „Kollektiveigentum an Produktionsmitteln“ und die Entwicklung hoch mechanisierter Agroindustrien, doch mittlerweile relativiert er dies. Mauro plädierte vor kurzem für arbeitsintensiven Bioanbau und eine Übernahme des europäischen Konzepts einer multifunktionalen Landwirtschaft („Der Bauer als Hüter der Erde und der Natur“). Auch die Realität in den Camps und den teilweise schon seit Jahren funktionierenden Kooperativen lässt sich nicht über einen Kamm scheren – aber das ist wieder ein anderes Kapitel.

KASTEN:
Wider das neoliberale Agrarmodell – die Stimme der MST
João Pedro Stedile (Mitglied der nationalen Leitung):

Ein Prozent der Eigentümer, das sind rund 40.000 Familien, besitzen die Hälfte allen bebaubaren Bodens in Brasilien, während der Rest unter den fünf Millionen mittleren und kleinen Bauernbetrieben aufgeteilt ist. 4,5 Millionen Familien leben zudem auf dem Land, ohne ein einziges Stück davon ihr Eigen zu nennen.
Wir träumten davon, die Armut und die Ungleichheit abzuschaffen, indem wir gegen den Großgrundbesitz kämpften. Wir versuchten, aus den Erfahrungen früherer Bauernbewegungen zu lernen, tauschten uns mit Organisationen anderer Länder aus und praktizierten von Beginn an einen Kampf der Massenmobilisierung. Wir wollten Boden, Kapital und Erziehung für alle. Unsere Aktionen waren Landbesetzungen und damit gewannen wir massiven Zulauf. In 16 Jahren besetzten wir über 2.000 Fazendas. 350.000 Familien wurden angesiedelt. Insgesamt gewannen wir sieben Millionen Hektar aus Großgrundbesitz für uns zurück.
Doch wir konnten das ungerechte System nicht ändern. Im letzten Jahrzehnt wurden wir mit noch größeren Herausforderungen konfrontiert. Die brasilianischen Eliten sahen keinen anderen Weg aus der Krise als die Unterordnung der Industrie unter ausländisches Kapital. Sie fügten sich also voll und ganz in die weltweite neoliberale Wirtschaftspolitik ein. Die Regierung Fernando Henrique Cardoso steht ganz im Zeichen dieser Richtung. Auch die Landwirtschaft wurde diesem Modell untergeordnet – brasilianische Unternehmer müssen nun mit großen internationalen Firmen konkurrieren.
Wir sollen uns am nordamerikanischen Modell orientieren und uns modernisieren. In Wirklichkeit profitieren von solchen Maßnahmen nur große Exportbetriebe, der Handel wird oligopolisiert und unsere Agroindustrie an ausländische Unternehmen verkauft. Schlimmer noch: Wesentliche öffentlichen Rechte der Bauern wie Kredite, Forschung, technische Hilfen und Geräte werden gestrichen. Sogar Fachleute in der Politik geben zu, dass dieses Modell
Familienbetrieben keinen Platz mehr lässt. Nur 18 Prozent aller gegenwärtigen Betriebe werden überleben. Kann man sich vorstellen, welch eine enorme Abwanderungswelle dies auslösen wird?
Angesichts eines solchen Modells wird die Idee einer klassischen Landreform mit gerechter Verteilung des Landes zur Ernährung aller immer mehr zum naiven Traum. So ist auch die Beteuerung der Regierung, dass sie die Landreform unterstützt, pure Fantasie. Immer dann, wenn sich die Landbesetzungen in ein Problem für sie verwandeln, betreibt sie eine Politik der sozialen Entschädigung. Doch in Wirklichkeit geht die immer ungleichere Verteilung weiter und unsere Industrie und der Handel unterstehen zunehmend großen multinationalen Konzernen.
Unser Kampf kann jetzt nicht mehr nur ein Kampf um den Boden sein. Viel wichtiger ist nun der erneute Wechsel des Wirtschaftsmodells. Wir machen weiter mit Landbesetzungen, Märschen und Demonstrationen. Doch wir tun uns auch mit anderen sozialen Bewegungen zusammen, mit Gewerkschaften und Kirchen, um gemeinsam die mächtigen Multis und die absurden Importe von Produkten zu bekämpfen, die auch bei uns produziert werden könnten.
Nestlé, Leite Gloria und Parmalat, drei multinationale Firmen, kontrollieren in Brasilien den gesamten Milchmarkt. Ebenso kontrollieren nur sechs multinationale Getreidefirmen den gesamten Getreidehandel des Landes. Weil wir unseren Kampf ausgeweitet haben, erklärten uns die Regierenden zum Feind. Und sie bekämpfen uns mit allen möglichen Waffen: über die Justiz – über 180 Verfahren sind gegen uns anhängig –, über die Medien – mit unverhüllten Lügen über uns – und über die Bespitzelung durch die politische Landpolizei.

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