Mexiko | Nummer 479 - Mai 2014

„Solange die Täter an der Macht sind, gibt es keine Gerechtigkeit“

Interview mit dem Menschenrechtsverteidiger David Bermúdez, der Opfer von politischer Gewalt und Angehörige von Verschwundenen begleitet

Laut Angaben der mexikanischen Regierung sind im Zeitraum 2006 bis 2012 über 26.000 Menschen verschwunden. Nichtregierungsorganisationen gehen von deutlich mehr Fällen aus. Aufgrund der Nachlässigkeit oder Komplizenschaft der Behörden begeben sich die Angehörigen meist selbst auf die Suche nach den Verschwundenen. Die LN sprachen mit David Bermúdez über die Rolle des mexikanischen Staates und seiner Medienstrategie sowie über die Situation der Angehörigen.

Interview: Eva Bräth

Aus der Zeit des Schmutzigen Krieges in den 1960er und 1970er sind sehr viele Fälle von Verschwindenlassen bekannt. Wie sieht die Situation in Mexiko heute aus?
Verschwindenlassen ist eine Form politischer Gewalt, die im Kontext autoritärer Regime auftritt. Die Regierungen wenden diese Form der Repression gegen Aktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen an. Die Praktik hat seit dem Schmutzigen Krieg nicht aufgehört zu existieren. Sie trat in unterschiedlichen Phasen des sozialen Widerstands auf. Beispielsweise 1994 und 1996, als die EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, Anm. d. Red.) und die EPR (Revolutionäre Volksarmee, Anm. d. Red.) mobilisierten. Aber in der jüngeren Vergangenheit gibt es eine Veränderung dahingehend, dass Verschwinden nicht mehr unbedingt politische Hintergründe hat.

Was sind die Gründe dafür?
Der Drogenkrieg, den die Regierung unter Felipe Calderón 2006 begonnen hat, hat einen drastischen Anstieg von verschwundenen Personen ausgelöst. Insbesondere die Militarisierung der Sicherheitspolitik und Militäreinsätze zur Bekämpfung der Drogenkriminalität haben dazu beigetragen. Heute sind alle Bevölkerungsgruppen vom Verschwinden betroffen. Menschen werden Opfer, weil sie sich in Gebieten von Militäreinsätze befinden. Oder, weil sich dort Banden der Organisierten Kriminalität bekämpfen.

Von wie vielen Fällen kann man ausgehen?
Bislang gibt es kein offizielles Register, das es erlaubt, die Fälle von Verschwindenlassen von den anderen Fällen des Verschwindens abzugrenzen. Verschwindenlassen liegt vor, wenn staatliche Akteure beteiligt sind. Anfangs sprach die Regierung nicht von Verschwundenen, sondern von Entführten, um eine Verbindung zur Kriminalität anstatt zu Menschenrechtsverletzungen vorzugeben. In Mexiko weiß man in der Mehrheit der Fälle nicht, wer die Täter sind. Die Regierung hat 2013 einen Bericht vorgelegt, in dem sie von 26.121 verschwundenen Personen im Zeitraum 2006 bis 2012 spricht. Bei den Zahlen handelt es sich nur um angezeigte Fälle. Man kann davon ausgehen, dass es tatsächlich mehr sind. Der Bericht ist Teil einer Legitimationsstrategie. Die staatliche Medienstrategie ist derzeit eine der größten Schwierigkeiten für die Betroffenen.

Wie sieht diese Strategie genau aus?
Mit der offiziellen Version soll vermieden werden, dass darüber gesprochen wird, wie schwerwiegend die Situation ist. Aus dem gleichen Grund gibt es auch keine verlässlichen Zahlen und Informationen. Außerdem besteht eine Strategie darin, die Verantwortung auf die Gesamtgesellschaft abzuwälzen. Dieser Diskurs setzt sich fest. Als wir mit Eltern in Ciudad Juárez sprachen, fühlten sie sich zunächst schuldig, weil ihre Kinder verschwunden waren. Es wird dann ausgeblendet, dass es Drogenkartelle und korrupte Behörden gibt. In der gemeinsamen Analyse haben sie die tatsächliche Situation erkannt. Die erste Reaktion besteht dann immer in großer Angst, weil sie sich klar werden, welche Dimensionen mit dem Fall verwoben sind. Aber es ist auch die Grundlage dafür, Rechte einzufordern.

Gibt es ein Muster des Verschwindenlassens?
In den Regionen, wo Militäreinsätze durchgeführt werden, ist die Zahl besonders hoch. Zunächst waren das die nördlichen Bundesstaaten, aber jetzt sind auch Michoacán und Veracruz stark betroffen. Im Norden sind vor allem Frauen betroffen, im Rest des Landes junge Frauen und Männer, fast immer aus der Mittel- oder Unterschicht. Unter den Menschenrechtsaktivist_innen, die ohnehin einer besonders hohen Gefahr ausgesetzt sind, verschwinden diejenigen am häufigsten, die ein bestimmtes Territorium verteidigen, also Widerstand gegen Großprojekte wie Minen, Staudämme oder Straßen leisten.
Sowohl die Organisierte Kriminalität als auch die Polizei wenden viele Praktiken an, um in der Bevölkerung Schrecken zu verbreiten, Territorien zu kontrollieren und sich aneignen zu können. Anschließend wird die wirtschaftliche und soziale Kontrolle dieser Regionen angestrebt.

Und diese Verbreitung eines Klimas der Angst funktioniert?
Ich glaube schon. Seit Beginn des Drogenkriegs hat sich die Anzahl der Kartelle vervielfacht und sie haben an Stärke gewonnen. Sowohl ihre Wirtschaftskraft als auch ihre territoriale Ausdehnung sind sehr hoch. Das ist einer der Faktoren, der die hohen Raten der Straflosigkeit erklärt. Denn die Grausamkeiten, die begangen werden, sind nur möglich, weil die Gesellschaft verunsichert ist. Weil sie verängstigt und damit beschäftigt ist, sich um Notfälle zu kümmern. Für etwas anderes gibt es derzeit kaum Möglichkeit.

Wie gehen die Behörden mit Anzeigen um?
Es gibt eine sehr hohe Nachlässigkeit der Behörden, die Situation anzuerkennen. Außerdem sind die lokalen Behörden sehr stark mit dem Drogenhandel verwoben. Aus den uns bekannten Fällen wissen wir, was das „Wagnis“ einer Anzeige nach sich zieht. Oft verharmlosen die Behörden den Vorfall, raten von einer Anzeige ab oder schüchtern die Angehörigen ein. Wenn die Anzeige akzeptiert wird, bedeutet das eine Vielzahl bürokratischer Prozesse – und keinerlei Ergebnisse. Die Angehörigen sehen sich normalerweise in der Notwendigkeit, selbst zu suchen. Weil sie wissen möchten, wo die Verschwundenen sind, setzen sie sich sehr gefährlichen Situationen aus. Sie begeben sich an Orte und stellen dort Fragen, wo es die Polizei nicht wagen würde.

Womit müssen sie auf ihrer Suche rechnen?
Angehörige, die die ermittelnden Behörden wegen Unterlassung anzeigen, verschwinden oft selbst oder werden umgebracht. Der offensichtlichste Fall ist wahrscheinlich der Marisela Escobedos (Aktivistin, die sich für die Aufklärung des Mordes an ihrer Tochter einsetzte und auf offener Straße erschossen wurde, Anm. d. Red.). Wenn in diesem Fall, der öffentlich sichtbar war, nichts passiert, kann man sich vorstellen, wie hoch die Zahl ähnlicher Fälle ist.
Im Sozialleben geschieht etwas Schreckliches: Inmitten von Angst und Gewalt verändert sich die Perspektive der Menschen. Alles ist polarisiert, die Realität wird in Gut und Böse eingeteilt. Wenn der Sohn der Nachbarin verschwindet, heißt es: „Ob er in etwas verwickelt war?“ Obgleich er nichts Unrechtes getan hat, lastet auf den Familien ein Stigma. Wenn sie nicht mit Anschuldigungen konfrontiert werden, bekommen sie Mitleid.

Zusätzlich zur Ungewissheit über den Verbleib eines geliebten Menschen haben die Angehörigen also noch mit vielen anderen Schwierigkeiten zu kämpfen…
Das, was sich auf der alltäglichen Ebene abspielt, wiederholt sich auf allen Ebenen des Justizsystems. Die Angehörigen werden als Opfer stigmatisiert und aus einer paternalistischen und klientelistischen Sichtweise heraus behandelt. Beispielsweise müssen sie eine sogenannte Todesvermutung unterschreiben, wenn sie auf Leistungen wie einen Bankkredit oder eine Pension Zugriff haben möchten. Dann lastet ein unglaublicher Druck auf ihnen. Diese Regelung hängt damit zusammen, dass Verschwindenlassen in Mexiko nicht als eigene Straftat klassifiziert und es kein spezielles Gesetz dafür gibt. Oft verschwindet die Person mit dem Haupteinkommen. Ebenso geben Angehörige für die Suche ihre Arbeit auf. Die ökonomischen Implikationen sind enorm. Viele Familien fallen auseinander, weil einige Anzeige erstatten möchten und andere nicht; einige die Suche einstellen, andere, meistens die Mütter, weitersuchen wollen. Hinzu kommen die psychologischen Folgen. Der Trauerprozess und Schmerz ist ganz anders als bei einem Todesfall; er hört nie auf. Es gibt eine fortdauernde Ungewissheit und Sorge.

Wie können unter diesen Bedingungen Veränderungen erreicht werden?
Die Angehörigen können sich am besten untereinander helfen und verstehen. Wenn ihnen Menschen aus anderen Kontexten darin zustimmen, dass der Staat verantwortlich ist, gibt es ihnen aber auch Gewicht und Legitimität. Denn sie kämpfen dafür, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Wenn jemand für sie Position ergreift, gibt ihnen das unglaublich viel Kraft. Ich denke, auf diese Weise kann die Situation verändert werden. Auch wenn es pessimistisch klingt, glaube ich, dass diese Veränderung jetzt noch nicht möglich ist. Es ist nahezu unmöglich, dass es Gerichtsverfahren und Gerechtigkeit gibt, solange die Täter an der Macht sind. Zur Zeit sind sie es; und sie setzen ihre Strategie fort, wie man am Umgang mit den Verbrechen des Schmutzigen Krieges sehen kann. Dennoch gelingt es, nach und nach Dinge aufzubauen. Die Familien erkennen, dass ihre Arbeit anderen nützen wird.

Welche rechtlichen Mittel gibt es, um das Verschwindenlassen sanktionieren zu können?
Es gibt keine nationale Gesetzgebung für diese Menschenrechtsverletzung, nur einige Bundesstaaten haben Gesetze erlassen. Die existierenden Gesetze sind weder untereinander noch auf internationale Standards abgestimmt. Ein solches Allgemeines Gesetz, das mit der Konvention der Vereinten Nationen abgestimmt ist, wäre notwendig. Es gibt einige Vorschläge für das Gesetz. Im Grunde wäre es sehr einfach, sich an die Interamerikanische Konvention anzulehnen. Auf internationaler Ebene hat Mexiko die Zuständigkeit des Komitees gegen Verschwindenlassen der Vereinten Nationen nicht anerkannt, nur die obligatorische Konvention unterzeichnet. Das Komitee kann deswegen nur Eilaktionen durchführen, aber keine Klage einreichen.

Welche Maßnahmen sind zusätzlich notwendig, um Verschwindenlassen zu bekämpfen?
Es müssten Ergebnisse erzielt werden. Es gibt viele Fälle, in denen die Beteiligung der Marine, Armee oder Bundespolizei dokumentiert sind. Nicht nur Menschenrechtsverteidiger, sondern auch die staatlichen Menschenrechtskommissionen führen ein Verzeichnis solcher Fälle. Jedoch ist weder der Verbleib der Opfer noch der Täter bekannt. Die Straflosigkeit beträgt in diesem Bereich 99 Prozent. Darüber hinaus wäre die Schaffung einer landesweiten Datenbank wichtig, an der nicht nur die Regierung, sondern auch Aktivisten und Akademiker mitwirken. Angeblich wird daran gearbeitet. Präsident Enrique Peña Nieto hat angekündigt, eine Sondereinheit der Staatsanwaltschaft einzurichten. Mehr bürokratische Apparate zu schaffen, wird jedoch nichts ändern, wenn keine integrale Menschenrechtspolitik umgesetzt wird.

Infokasten

David Bermúdez ist Pädagoge und auf die psychosoziale Begleitung von Opfern politischer Gewalt spezialisiert. Der Menschenrechtsaktivist ist seit vier Jahren in einer Arbeitsgruppe zum Thema Verschwindenlassen aktiv, die Familienangehörige von Verschwundenen begleitet. Die Familien werden juristisch, ökonomisch und psychologisch unterstützt. Er arbeitet eng mit den Nichtregierungsorganisationen Servicios y asesoría para la paz (SERAPAZ) und LUNA zusammen. Bis 2013 war er Direktor von SERAPAZ.

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