Film | Nummer 394 - April 2007

Spiel des Lebens

In Chile wurde PLAY als bester Film des Jahres 2005 ausgezeichnet.

Anja Wiethorn

Das junge Mapuche-Mädchen mit den langen schwarzen Haaren versucht sich zu konzentrieren. Geübt bedient sie die beiden Joysticks des Spielautomaten in dem modernen Shoppingcenter in Santiago de Chile. Kurze Zeit später sieht man den virtuellen Gegner des Computerspiels, wie er bewusstlos am Boden liegt. Über Cristinas Gesicht huscht ein schwaches Lächeln. Sie freut sich über ihren Sieg. Mit ihren großen, dunklen Augen blickt Cristina durch die Spielhalle. Niemand der anwesenden Computerspieler bemerkt sie, da jeder auf den eigenen Bildschrim starrt.
Mit dieser Szene beginnt der chilenische Film PLAY. Die Regisseurin und Drehbuchautorin Alicia Schersom zeigt in ihrem Spielfilmdebüt eine Facette des modernen Großstadtlebens in Santiago de Chile. Die Protagonistin Cristina stammt aus dem Süden Chiles. Sie ist fremd in der Großstadt und hat weder Freunde noch Verwandte in Santiago. Fern der Heimat kümmert sie sich als private Krankenpflegerin um einen alten Mann. In ihrer Freizeit spielt sie „Streetfighter II“ oder streift durch die Straßen Santiagos.
Beim Müll raustragen entdeckt Cristina eine Aktentasche in der Abfalltonne. Sie nimmt diese mit auf ihr Zimmer. Akribisch untersucht sie den Inhalt, der ihr intime Details über das Leben des Besitzers verrät. Cristina taucht in eine andere Welt ein. Sie raucht die Zigaretten des Besitzers und hört mit seinem MP3-Player Musik.
Tristán ist der Besitzer der Aktentasche. Er ist ein junger Architekt aus der Oberschicht, der gerade von seiner Geliebten Irene verlassen wurde. Aufgrund eines Streiks der Bauarbeiter ist er vorrübergehend arbeitslos. Ruhelos wandert er durch Santiago. Detektivisch dringt Cristina immer tiefer in sein Leben ein. Anfangs beobachtet sie ihn nur. Dann folgt sie Tristán, ohne dass er diese Annäherung bemerkt. Doch irgendwann wird er auf sie aufmerksam.
Einsamkeit ist das bestimmende Gefühl des Films. Mit sehr viel Feingefühl nähert sich Alicia Scherson diesem Thema. Verschiedene Formen des Alleinseins werden behandelt. Der Film zeigt Menschen, die kaum soziale Kontakte besitzen, also von der Außenwelt isoliert sind. Aber auch in Begleitung oder sogar in einer Liebesbeziehung kann man sich einsam fühlen. Zwischenmenschliche Kommunikation findet in dem Film kaum statt. Wenn doch, verliert sie sich in Oberflächlichkeiten.
Zwar leben die dargestellten Menschen in der gleichen Stadt, aber sie leben nicht gemeinsam, sondern bewegen sich in separaten Parallelräumen. Ihre Lebenswelten kreisen in Umlaufbahnen aneinander vorbei. Doch trotz aller sozialer und kultureller Unterschiede haben sie eine Gemeinsamkeit: Sie befinden sich auf der Suche nach Liebe und Glück.
Auch Cristiana ist auf der Suche. Tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt versucht sie in der Großstadt ein neues Leben zu führen, vielleicht sogar ihre heterogene Identität zu entschlüsseln. Mit der Zeit beschattet sie nicht nur Tristán, sondern ebenfalls seine Ex-Freundin Irene. Die selbstbewusste Frau entwickelt sich für Cristina zu einer Art Vorbild. Wie der Titel schon andeutet, sehen die Protagonisten das Leben als Spiel. Für Cristiana bedeutet dieses Spiel immer weniger ihr eigenes Leben zu leben, sondern Irene nachzuahmen.
Bei der filmischen Umsetzung überzeugt Alicia Scherson mit ihrer Sensibilität für Bild- und Sounddesign. Sie bringt einzelne Momentaufnahmen mit Soundeffekten in einen neuen Bedeutungszusammenhang. Mancherorts verschmilzt die Wirklichkeit mit der magischen Traumwelt. Während Cristina ihrem kranken Patienten Geschichten über exotische Völker vorliest, hört der Zuschauer indigene Musik.
Zugleich offenbaren die fantastischen Elemente die individuellen Wirklichkeitserfahrungen der Protagonisten, so dass sich für den Zuschauer die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion stellt. Bei aller Melancholie und Fantasie ist der Film aber auch streckenweise lustig. Exemplarisch dafür steht der junge Gärtner Manuel. Während er die Hecken der städtischen Parkanlagen stutzt, sehnt er sich nach einem ursprünglichen Leben in der Natur, hört aber über Kopfhörer lautdröhnende Technobeats.
Alicia Scherson hat mit PLAY einen Spielfilm geschaffen, der sich nicht in ein bestimmtes Genre einordnen lässt. Der Zuschauer sollte sich dem Film hingeben und die intensiven Bilder und Klänge auf sich wirken lassen, ohne jede einzelne Szene zu hinterfragen. Das Leben ist ein Rätsel. PLAY spielt mit seinen Geheimnissen.

Play, Chile 2005, Buch und Regie Alicia Scherson, 105 Minuten, Kinostart: 15. März 2007.

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