Argentinien | Nummer 235 - Januar 1994

Stabiles Zweiparteieneinerlei

Verfassungsreform ohne Plebiszit

Vor wenigen Wochen schien es, als würde die Kampagne um die Volksbefra­gung zur Verfassungsreform zu einer erbitterten Medienschlacht zwischen den Befür­worterInnen, hauptsächlich von der Peronistischen Partei (PJ), und den Gegne­rInnen aus der Opposition führen. Überraschenderweise vollzog jedoch Ex-Präsi­dent Raul Alfonsín nur wenige Tage nach seiner Wiederwahl zum Prä­sidenten der größten Oppo­sitionspartei UCR (Radikale BürgerInnenunion) eine Kehrtwendung. In einer “historischen” Übereinkunft mit Präsident Carlos Menem wich er voll­kommen von seiner früheren Position ab. Das Plebiszit wurde suspendiert, und der Weg ist nun frei für eine Verfassungsreform in Menems Sinne, ohne daß er große Zugeständnisse machen mußte.

Silke Steinhilber

Die Notwendigkeit einer Reform der gel­tenden Verfassung von 1853 ist in allen politischen Lagern unumstritten. Während ihrer Regierungszeit unter­nahm auch die heutige Oppositions­partei UCR Anstren­gungen, eine Ver­fassungsänderung durch­zusetzen, die damals Alfonsíns zweite Kandi­datur ermöglichen sollte. Sie schei­terte je­doch kläglich. Zwei der wich­tigsten Forderungen der UCR, damals wie heute, waren die Einführung des Po­stens eines Premier­ministers oder “Koordi­nierungs­ministers” sowie die Si­cherung der Unab­hängigkeit der Ju­stiz. Gerade diese letzte Forderung ist umso be­deutender, da Präsi­dent Me­nem 1990 den Obersten Gerichts­hof kurzerhand von 5 auf 9 Richter erwei­terte und gleich­zeitig eine vorläu­fige “Nachrücksperre” ver­hängte. So sind die Mehrheitsverhältnisse heute ein­deutig zu­gunsten Menems verscho­ben, da nur noch drei Richter aus der Zeit vor seinem Amts­antritt stammen.
Vor allem das linke Oppositionsbünd­nis Frente Grande aus peronistischen Dis-sidentInnen, Kommu­nistInnen und anderen Grup­pen hat aber viel weiter­gehende Forde­rungen erhoben. Allein schon die Art, wie die Verfassungsän­derung ohne jeden par­tizipativen Dis­kussionsprozeß durchge­peitscht werden sollte, spiegelt ihrer Mei­nung nach das dahintersteckende autori­täre Gesell­schaftsmodell wider. Ihre kon­kreten Forderungen beziehen sich zum Bei­spiel auf eine Neustrukturierung des Militärs und Diskussionen über die Rolle der Kirche. Auch die rassisti­schen Inhalte der Verfassung, wie die katholische Mis­sionierung der Indí­genas, bleiben von der menemistischen Reform unberührt. Ganz zu schweigen von der fast monarchisti­schen Macht­fülle des Präsidenten.

Wiederwahl um jeden Preis

Denn mit seiner Reform zielte Carlos Menem ja ganz und gar nicht auf eine Be­schränkung seiner Machtfülle. Statt­dessen konzentrierte er sich ganz darauf, seine Wiederwahl bei den Prä­sidentschaftswah­len 1995 zu ermögli­chen. Bisher gestattete die Verfassung nämlich keine zweite Kan­didatur in direkter Folge.
Alle Diskussionen und Konflikte um die Reform drehten sich also um die Frage ei­ner zweiten Präsidentschaft.

“Fast alles ist Verhandlungsmasse”

Durch den Kauf der notwendigen Stim­men hatten die MenemistInnen ein Votum des Senats für die Reform erhalten. Sie waren dafür auch bereit die Anzahl der Änderungsvorschläge von 88 auf 25 zu reduzieren.
Menem erhoffte sich ein eindeutiges “Ja” zur Reform beim Plebiszit, das auf Ende November angesetzt war. Das sollte die Zustimmung im Parlament ermöglichen. Gleichzeitig signalisierte er der UCR aber ständig, ihre Zustim­mung sei auf dem Wege von Ver­handlungen zu erreichen.
Denn die Position der Radikalen Partei war ein keineswegs eindeutiges “Jein”. Die Gouverneure der Provinzen Rio Ne­gro und Chubut, Carlos Massaccesi und Carlos Maestro hatten schon ihre Zustim­mung erklärt, Angelóz in Cór­doba hatte auf Abstimmungsfreiheit plädiert. Die restlichen Funktionäre forderten entweder eine klare Kampa­gne für das “No” oder den Boykott des Plebiszits. Dem Na­tionalkommitee der UCR blieb deshalb nichts anderes übrig, als die Entschei­dung den einzelnen Provinz­vertreterIn­nen zu überlassen. Ex-Präsident Al­fonsín hatte während der gan­zen Dis­kussion auf seiner Ablehnung der Re­form plus Wiederwahl beharrt. Die Ausein­andersetzung zwischen ihm und Menem wurde in höchst polemischer Weise geführt. “Alfonsín ist ein unfä­higer Politiker, ich streite mich nicht mit Ver­sagern”, war von Menems Seite zu hören. Alfonsín hielt kräftig dage­gen: “Menem ist ein Verräter der De­mokratie und Weg­bereiter des Elends”.
Mehr oder weniger geheim fanden je­doch währenddessen Verhandlungen zwischen VertreterInnen von PJ und UCR statt. Der vorläufige Abschluß ist das Abkommen zwischen Menem und Al­fonsín, das beide umarmt der Öffent­lichkeit präsentierten. Die Zustimmung der UCR-Basis sollte allerdings noch auf dem Parteitag Anfang Dezember eingeholt werden.
Im Text des Abkommens ist kaum zu er­kennen, wo die MenemistInnen Zu­geständnisse an die Radikale Partei ma­chen mußten. Einzig deren Forde­rung nach einem Premierminister taucht wieder auf. Alle anderen Re­formvorschläge wa­ren sowieso fast all­gemeiner Konsens, und doch hat Al­fonsín die Kröte der Wieder­wahl Menems geschluckt.
Die Bedingung, die hinter den Kulis­sen dafür ausgehandelt wurde, war der Rück­tritt des Präsidenten des Obersten Ge­richtshofs Antonio Boggiano und zwei weiteren menemistischen Rich­tern. Prompt forderten kurz darauf Wirt­schaftsminister Cavallo und Ju­stizminister Maiorano die Richter zum “patriotischen Akt” des Rücktritts auf. Die Richter wei­gerten sich jedoch hartnäckig, ihr Amt niederzulegen. “Das Abkommen bewirkte ein erstes Wunder: es gibt endlich einen unab­hängigen und eigenständigen Ge-richts­hof”, bemerkte daraufhin der Kolum­nist Joaquín Morales Sola in der Zeit­schrift Noticias. Um dem Ultimatum der Radikalen gerecht zu werden, zeigte die Regierung dann aber zu­nehmende Be­reitschaft, ein Korrupti­onsverfahren gegen das Oberste Ge­richt einzuleiten. Die ein­mal erreichte Absprache mit der UCR sollte um kei­nen Preis gefährdet werden.

Chancen für die Frente Grande?

Während hinter ihrem Rücken die Kom­promiß-Verhandlungen liefen, versuchten andere VetreterInnen der UCR, die Mög­lichkeiten für eine ge­meinsame “Nein”-Kampagne aller op­positionellen Gruppen herauszufinden.
Jetzt hat die Frente Grande die Chance, sich im Gegensatz zur wan­kelmütigen UCR zu profilieren, und ihr Bündnis lan­desweit bekannt und wähl­bar zu machen. Denn nach ihrem guten Wahlergebnis in Buenos Aires und dem Gewinn von drei Abgeord­netensitzen ist dies der nächste Schritt, den sich die national noch relativ un­bedeutende Oppositionsbewegung vor­genommen hat. Mit dem bekannten Film­regisseur Fernando “Pino” Solanas scheint ihr Präsidentschaftskandidat für 1995 schon festzustehen. Und der mit knapp 14 Prozent in Buenos Aires wiedergewählte Abgeordnete Carlos “Chacho” Alvarez hat sogar gute Chancen, bei den ersten Bür­germei­sterwahlen ganz vorne dabeizu­sein.
Die Radikalen haben einmal mehr be­wiesen, daß “zweitstärkste Partei” nicht gleichbedeutend ist mit “Oppositions­partei”. Umso wichtiger erscheint also, ob es der Frente Grande gelingt, sich als linke Alterna­tive zum Zweiparteienei­nerlei zu eta­blieren.

Kasten:

Die im Abkommen zwischen PJ und UCR geplante Verfassungsreform
1. Reduzierung der Legislaturperioden von Präsident und Vizepräsident auf vier Jahre (früher sechs), Schaffung der Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl. Die Bedingung, der argentinische Präsident müsse katholisch sein, wird aufgehoben.
2. Direktwahl von Präsident und Vizepräsident in zwei Wahlgängen.
3. Schaffung des Postens eines “Kabinettchefs” oder “Koordinationsministers” als Ver­bindungsglied zwischen dem Präsidenten und dem Kongreß. Er wird vom Präsidenten er­nannt.
4. Die Exekutive kann keine Dekrete mit legislativem Charakter mehr erlassen, die das Straf-, Steuer- und Wahlrecht betreffen. Nur in Ausnahmefällen kann das Dekret in Über­einkunft mit den Ministern beschlossen werden.
5. In der Debatte über einen Gesetzentwurf können die legislativen Kammern nur noch dreimal (bisher fünfmal) intervenieren.
6. Direktwahl von drei Senatoren für jede Provinz, zwei stellt die Mehrheitspartei, einen die Opposition, und Reduzierung ihrer Mandatsdauer. (Bisher wurden zwei Senatoren für jede Provinz für die Dauer von neun Jahren gewählt.)
7. Direktwahl des Bürgermeisters der Hauptstadt, der bisher vom Präsidenten ernannt wurde. Buenos Aires erhält eine verfassungsrechtlich garantierte Autonomie.

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