Nicaragua | Nummer 270 - Dezember 1996

Stimmenvermehrung und Urnenklau

Bei den Wahlen ging vieles nicht mit rechten Dingen zu

Arnoldo Alemán wird neuer Präsident Nicaraguas. Nach langem Hin und Her veröffentlichte der Oberste Wahlrat am 8. November, drei Wochen nach den Wahlen, das vorläufige amtliche Endergebnis. Auf Alemán sollen 51 Prozent der Stimmen entfallen sein. Damit erhielt der Kandidat der Liberalen Allianz (AL) gut 13 Prozent mehr als Daniel Ortega von der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN), der auf 37,7 Prozent kam.

Ralf Streck

20. Oktober, der Tag der Wahl. Wiwili im Norden Nicaraguas: Hier hatte die FSLN den Vorsitz über die Wahlbüros. Die Wahl verlief im Stadtgebiet und den angrenzenden Gemeinden im wesentlichen ruhig und geordnet. Erste Meldungen über massive Unregelmäßigkeiten trafen am 21. Oktober ein, als die Ergebnisse aus Gegenden unter dem Einfluß der Recontra eintrudelten, zu denen lange Anfahrtszeiten benötigt werden. In manchen Wahlbüros hatte die FSLN nicht eine einzige Stimme erhalten, und das, obwohl dort FSLN-Mitglieder Funktionen als WahlbeisitzerInnen und Vorsitzende der Wahlbüros innehatten. Ihre Stimmen tauchten in der abschließenden Zählung nicht auf. Dieses Paradox läßt sich nur mit der Anwesenheit von bewaffneten Recontras, in zwei Fällen sogar im Wahlbüro selbst, erklären. In La Colonia “überwachte” gar der berüchtigte Recontra-Führer El Diablo die Wahl bewaffnet.
Weiter in Richtung Managua. Auf dem Weg, in Jinotega und Matagalpa, neue Hiobsbotschaften: Zahlreiche Unregelmäßigkeiten waren beobachtet und dokumentiert worden. Darunter besonders beliebt: das Verschwindenlassen von Wahlscheinen und Fälschungen der Wahldokumente.
Nur ein Beispiel sei hier genannt: In einem Wahlbüro in Matagalpa wurden von 193 gelieferten Wahlscheinen 151 benutzt. Daraus wurden im Laufe der Niederschrift wundersame 750 Stimmen, von denen 646 auf die AL entfielen. Dabei durften nicht mehr als 400 Personen pro Wahlbüro ihre Stimme abgeben. Trotzdem unterschrieben der Präsident des Wahlbüros und der des regionalen Wahlrates – beide Parteigänger der AL – die Wahlniederschrift und sendeten sie per Telegramm an den Obersten Wahlrat.
Die telegrafische Übermittlung bot noch eine weitere Möglichkeit der Fälschung. Der Vorsitzende des Wahlbüros war beim Telegrafieren oft allein, konnte also noch einmal kurzfristig die Zahlen frisieren, bevor er sie nach Managua schickte. Überall aus dem Land waren Meldungen über ähnliche Unregelmäßigkeiten von Seiten und zugunsten der Liberalen Allianz zu verzeichnen.

Fälschungen waren geplant

Daß die Unregelmäßigkeiten durchaus einer gewissen Systematik folgten, bestätigte der Präsident des Wahlbüros 5900 in Managua, selbst ein Aktivist der Liberalen Allianz: “Vor vierzehn Tagen wurden wir angewiesen, die Zahlen zu ändern, sollte die AL verlieren.” Nach seiner Aussage sei dies in 37 der 38 Wahlbüros im 6. Distrikt Managuas auch geschehen. “Die Präsidenten der Wahlbüros, die die AL stellte, trafen sich drei Mal. Dort wurden wir instruiert, die Zahlen zu ändern, falls wir verlieren.” Das war auch nötig, denn nach seinem Bekunden hatte die FSLN in allen 38 Wahlbüros des 6. Distriktes von Managua gewonnen.
Es gab allerdings noch weitere Formen des Wahlbetrugs: Urnen wurden verbrannt und im ganzen Land tauchten Wahlzettel auf Müllkippen auf. Zudem wurden an den Grenzen Salvadorianer und Honduraner festgesetzt, die offenbar mit falschen Papieren gewählt hatten.
Im Büro und in einem Lager des Präsidenten des regionalen Wahlrates in Matagalpa, Alberto Blandón Baltizón wurden 28.300 Wahlscheine gefunden. Während der Untersuchung des Lagers wurden außerdem zwei weitere Funktionäre des Wahlrates in flagranti beim Manipulieren von Wahldokumenten entdeckt. Die beiden sind wie Blandón Baltizón Aktivisten der Liberalen Allianz.
Blandón ist zudem eine Vertrauensperson des erzkonservativen Kardinals Obando y Bravo. Der hatte schon im Endspurt des Wahlkampfs noch einmal deutlich gemacht, auf welcher Seite er stand. In der Messe anläßlich des Geburtstages der Präsidentin Doña Violeta Chamorro, erklärte er in Anspielung auf die in Nicaragua übliche schwarz-rote Korallenschlange, die auch die Farben der FSLN sind: “Man muß die Giftschlange beizeiten töten.” Danach ließ er Alemán aus der Bibel lesen. Die Messe wurde live über mehrere Fernsehkanäle übertragen und bedeutete im katholischen Nicaragua einiges zugunsten der Liberalen Allianz.

Wahlbeobachter nahmen ihre Aufgabe nicht ernst

Arnoldo Alemán erklärte sich schon in der Wahlnacht um vier Uhr – pünktlich zum Frühstücksfernsehen in den USA – nach “Auszählung” von nur zwei Prozent der Stimmen zum Wahlsieger. Diverse Wahlbeobachtergruppen gaben schließlich der Wahl den Persilschein. Viele, wie die der Europäischen Union, hatten sich allerdings gar nicht erst die Mühe gemacht, die Auszählung und die Übertragung der Daten zu überwachen. Sie waren nach “getaner Arbeit” bereits am Tag nach der Wahl abgereist. Als sich die Vorwürfe, zuerst vom “Christlichen Weg Nicaraguas” und danach von diversen anderen Parteien häuften, wurde eine Überprüfung der Wahl unvermeidlich. So kamen Forderungen nach einer Überprüfung auch aus der Gruppe um Ex-US-Präsident Carter und den Ex-Präsidenten Costa Ricas, Oscar Arías.
Am 22. Oktober gab der Oberste Wahlrat seinen letzten vorläufigen Bericht ab. Er werde auf die Anfechtungsanträge vieler Parteien eingehen, hieß es. Die Präsidentin des Wahlrates betonte mehrfach, die vorläufigen Ergebnisse seien auf der Basis der empfangenen Daten erstellt worden.
Währenddessen ging Alemán zum Angriff über und behauptete, es werde versucht, das Wahlergebnis zu verschleiern: “Es wurde eine nicht zu rechtfertigende Unsicherheit geschaffen. Spekulationen, Gerüchte und tendenziöse sowie provokative Desinformationen wurden gefördert. Man macht sich über das Votum des Volkes lustig. Das ist niederträchtig und nicht demokratisch.”
Während in den wenigen Bezirken, in denen die AL nicht vorsaß, die Überprüfung der Zählung zügig vorankam, gab es besonders in Matagalpa, Managua, Boaco, Chontales und Carazo erhebliche Behinderungen. Beisitzer des Wahlrates von Managua aus zwölf Parteien berichteten auf einer gemeinsamen Pressekonferenz von ihren Problemen. Die Beschwerden richteten sich vor allem gegen den Präsidenten der AL, Cesar Membreño: “Herr Dr. Membreño behandelt die Zählung, als wäre sie ein bloßes Zusammenrechnen der vorgelegten Wahlprotokolle, ohne die Widersprüchlichkeiten zu beachten, die in vielen Protokollen der Wahlbüros enthalten sind”. Der Beisitzer des Bündnisses “Brot und Kraft” gab an, daß in Managua, von den bisher überprüften Protokollen fast alle in sich nicht schlüssig seien. “Ich würde sagen, die Wahl in Managua ist nichtig.”
Für Managua, das mehr als ein Drittel aller Wahlberechtigten des Landes stellt, ergibt sich insgesamt folgendes trauriges Ergebnis: Elf Wahlbüros funktionierten überhaupt nicht, von 204 waren die Stimmen nicht auszählbar und in einer noch unbekannten Zahl von Wahlbüros waren die Angaben unvollständig. Laut der Beisitzer wurden in 1.400 der 2.300 Wahlbüros Unregelmäßigkeiten festgestellt.

FSLN übt Zurückhaltung

Am 31. Oktober hatte sich auch die FSLN den Forderungen von neun anderen Parteien angeschlossen, die Wahl für Managua und Matagalpa zu annullieren. Offiziell sprach sie jedoch weiterhin nicht von Wahlbetrug. Auf einer Pressekonferenz erklärte Mónica Baltodano zu dem Widerspruch, daß die Parteizeitung Barricada von Wahlbetrug sprach, die Partei dagegen nicht: “Es ist offensichtlich, daß der Wahlprozeß gespickt war mit Betrügereien, aber die FSLN als Partei muß in dieser Situation sehr verantwortlich handeln und wird erst nach Abschluß der vom Gesetz vorgesehenen Prüfungen ein Urteil abgeben”.
Mit dem mangelnden politischen Willen der FSLN, die Wahlen als Betrug anzugreifen, setzt sie ihre bereits vor der Wahl wenig kämpferische Politik fort. Denn schon in der Wahlvorbereitung unterließ es die FSLN, einem möglichen Wahlbetrug entgegenzuwirken Ortega meinte dazu selbstkritisch, die FSLN sei einfältig gewesen und habe mit einem solchen Betrug nicht gerechnet. Erst durch die Überprüfung der Wahl sei das Ausmaß der Wahlfälschung erkannt worden. Er kündigte lediglich die Anfechtung der Wahlen in Managua und Matagalpa an.

Anbiederung an alte Feinde

Anstatt auf die Mobilisierung der Bevölkerung zu setzen, hatte die FSLN versucht mit einer Politik der Versöhnung zu gewinnen. Diese Strategie hatte eine extreme Anbiederung an die USA, an die Contra, die Kirche und Unternehmerkreise zum Inhalt. Anders ist die Rede Ortegas vor mehreren hunderttausend Menschen am 16. Oktober nicht zu verstehen, als er von der Contra, als “unseren Brüdern des Nationalen Widerstandes” sprach. Weiter sagte er: “Wir trafen uns mit 5.000 Bauern, die diesen Widerstand bildeten, auf dem historischen Treffen am 18. September in Managua. Vor Gott, dem Volk und dem Vaterland haben wir geschworen, daß niemals wieder Blut der Brüder Nicaraguas fließen wird. Und genauso schworen wir auf dem historischen Treffen mit den Unternehmern und im Abkommen mit den Demobilisierten des Heeres, vor Gott, dem Volk und dem Vaterland, daß niemals wieder der Militärdienst nach Nicaragua zurückkehren wird.”
Ortega bezeichnete Nicaragua als eine Familie, in der es Streit, aber auch Versöhnung gibt. Zur Versöhnung mit den USA sagte er, daß die Vereinigten Staaten auch die Sandinistische Befreiungsfront als Sieger anererkennen und mit ihr in der Regierung zusammenarbeiten würden. “Wir unsererseits können den Vereinigten Staaten sagen, daß wir bereit sind, aufrichtige und respektvolle Beziehungen zu unterhalten. Beziehungen, die ein Beispiel für die Völker dieser Erde sein können.” Immer wieder bekräftigte er, daß in der Regierungszeit von 1979 bis 1990 viele Fehler gemacht wurden. Alle seien Sünder und perfekt sei nur Gott. Er benannte nicht einmal ungefähr, wo die Fehler lagen.
Die Wahlkampagne war eine Fortsetzung der Politik der letzten Jahre. Anstatt klare Oppositionspolitik zu machen, wurde “von unten regiert”. Diese Parole hatten die SandinistInnen nach der Wahlniederlage 1990 ausgegeben. Ausgerechnet Alemán bediente sich ihrer und verkaufte sich erfolgreich als Oppositionskraft gegenüber der Regierung Chamorro und der FSLN. Die FSLN hat ihre eigene Geschichte und die Errungenschaften der Revolution, wie Bildung und Gesundheitsversorgung, nicht eingesetzt und die positive wie negative Geschichtsaufarbeitung ihren GegnerInnen überlassen. Die Analyse der Situation war mangelhaft. Dazu kam, daß es dem gegnerischen Lager gelang, in der Bevölkerung Hoffnung zu wecken. Verschätzt hat sich die FSLN schließlich auch mit der Erwartung, daß Unternehmer, die USA und die Kirchenoberen zur Versöhnung bereit seien.

Notwendige Demokratisierung und Rückbesinnung

Innerparteilich blickt die FSLN auf eine zunehmende Vertikalisierung, mit der Ortega seine oben beschriebene Linie gegenüber den fortschrittlichen Kräften durchdrücken konnte. Anstatt klare Perspektiven aufzuzeigen, wurden Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit auf Kosten des Anbiederungskurses fallengelassen. Dies könnte so weiter gehen, liegen doch Einladungen von Alemán zu einer “Nationalen Konzertation für Frieden, Fortschritt und Beschäftigung” vor. Auch hat es bereits Verhandlungen zwischen FSLN und AL gegeben, selbst wenn Mónica Baltodano dies am 1. November dementierte.
In dieser Situation kommt es meiner Meinung nach für die FSLN darauf an, sich auf traditionelle Werte der Revolution zu besinnen, die nach wie vor ihre Gültigkeit haben: Die Bevölkerung zur Verteidigung der wenigen noch bestehenden Errungenschaften der Revolution von 1979 zu organisieren, sollte daher auf der Tagesordnung stehen und nicht Gespräche mit Alemán zu führen.
Egal wie sich die SandinistInnen verhalten werden, unter der Regierung Alemán wird es sicherlich zu harten Auseinandersetzungen kommen. Die Frage ist nur, wann und unter welcher Perspektive und welcher Führung sich diese Kämpfe entwikkeln werden.

KASTEN:
Vor den Wahlen brachte die AL Flugblätter in Umlauf, in denen ihre Anhänger instruiert wurden, was zu tun sei, falls der Sieg angezweifelt würde. Der im folgenden dokumentierte Text entstammt einem dieser Flugblätter.

Liberale:
Der Sieg der Liberalen steht bevor. In wenigen Tagen werden wir ihn auf den Straßen feiern können, aber bis dahin müssen wir wachsam sein. Unsere sandinistischen Feinde sind Meister der Wahlmanipulation. Du mußt vorbereitet sein, unseren Sieg zu verteidigen.Wenn sie verkünden, daß wir verloren haben, glaub ihnen nicht, die Sandinokommunisten haben Freunde im Obersten Wahlrat. Falls das passiert, ist es notwendig, daß Du mit Deinem Koordinator Kontakt aufnimmst, um mit der Durchführung unseres Plans zur Verteidigung des Sieges zu beginnen.
Denk daran, daß Du früh wählen gehst und daß Du, falls Du ein Auto hast, es beim nächsten Kampagnenbüro meldest.
Hör nicht auf die Kampagne, die die Kommunisten über die Wahrheitskommission führen (Alemán hat angekündigt, eine sogenannte “Wahrheitskommission” unter seinem Vorsitz einzurichten, wo über die Rechtmäßigkeit von Enteignungen und Eigentumsübertragungen sowie Menschenrechtsverletzungen unter der sandinistischen Regierung entschieden werden soll; Anm. des Übersetzers).
Wir werden sofort nach dem Wahlsieg unseres Führers Dr. Alemán damit beginnen, eine Bestandsaufnahme allen Eigentums von Sandinisten und Regierungsfunktionären zu machen, die uns Rechenschaft über ihr korruptes Handeln ablegen müssen. Wir brauchen Deine Unterstützung, in dem Du uns die Namen der Eigentümer von Privatbesitz, Autos, Betrieben etc. nennst, die sich in den Händen von Sandinisten oder korrupten Funktionären dieser Regierung befinden, die sich auf Deine Kosten bereichert haben.
Wenn Du im Gefängnis warst oder einen Angehörigen hast, der von den Sandinokommunisten mißhandelt wurde, ist jetzt der Augenblick gekommen, ihnen die Rechnung zu präsentieren. Es ist notwendig, daß Du sie anzeigst, daß Du sie meldest, um sie vor der Wahrheitskommission zur Rechenschaft zu ziehen. All’ sie müssen für ihre Verbrechen bezahlen und deswegen werden wir sie vor die Kommission bringen, der unser zukünftiger Präsident vorstehen wird. Die Gerichte und das Gefängnis werden ihr nahes Schicksal sein.
Wir sind Dir dankbar, wenn Du unseren Koordinator der Kampagne der Konfiszierten, Sr. Gabriel Levy, Tel.: 249 66 53 oder 088 20 135, über alle Ereignisse informierst oder die Adressen der Piñata-Sandinisten nennst (Als Piñata werden in Nicaragua die Eigentumsübertragungen an sandinistische Funktionäre in Zeit vor der Regierungsübergabe 1990 bezeichnet; Anm. des Übersetzers). Vergiß nicht, daß wir nur regieren werden können, wenn wir uns völlig von der Macht der Sandinisten und ihrer Verbündeten in der jetzigen Regierung befreien.
Hochachtungsvoll

SILVIO CALDERON GUERRERO
REPRESENTANTE LEGAL
ALIANZA LIBERAL
(Übersetzung: Arndt Massenbach)

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