Argentinien | Nummer 381 - März 2006

Strafverfolgung der Militärs kommt in Gang

30 Jahre Kampf gegen Straflosigkeit in Argentinien und Deutschland

Seit fast drei Jahrzehnten kämpfen Menschenrechtsgruppen und JuristInnen in Argentinien und Europa gegen die Straflosigkeit der argentinischen Diktatoren. In Deutschland versuchte die Koalition gegen Straflosigkeit eine Auslieferung der ehemaligen Juntachefs anzustrengen. In Argentinien selbst kam erst mit dem Regierungsantritt von Néstor Kirchner und der Anullierung der Amnestiegesetze 2005 wieder Bewegung in die Strafverfolgung der Militärs.

Wolfgang Kaleck

Langsam wird es ernst für die argentinischen Militärs. Das lassen die Meldungen der regierungsnahen Tageszeitung Página 12 nach der Aufhebung der Amnestiegesetze im Sommer letzten Jahres erkennen. Nach den im Januar von der Menschenrechtsorganisation CELS veröffentlichten Zahlen sind derzeit 1.004 Verfahren mit 503 beschuldigten Militärs anhängig, von denen sich 204 in Untersuchungshaft befinden. Die so genannten Mega-Fälle („mega-causas”) Primer Cuerpo del Ejército, ESMA und Plan Cóndor sollen in diesem und im nächsten Jahr verhandelt werden. Staatsanwalt Delgado beantragte in den letzten Tagen die mündliche Verhandlung gegen die Ex-Militärs Acosta, Bignone und Nicolaides im Verfahren wegen systematischen Raubes von Kindern Oppositioneller. Die Cámara Federal beschloss kürzlich die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft gegen Ex-Juntachef Videla und elf andere Militärs. Ihnen wird die Bildung einer kriminellen Vereinigung, die Teilnahme am Plan Cóndor sowie die grenzüberschreitende Repression von RegimegegnerInnen in den Diktaturen des Cono Sur in den 1970er und 80er Jahren zur Last gelegt.
Argentiniens Menschenrechtsbewegung hat in den langen Jahren seit dem Ende der Diktatur schon viele Höhen und Tiefen erlebt. Zunächst die große Hauptverhandlung gegen die Kommandeure des Regimes, in der am 10. Dezember 1985 fünf der neun Angeklagten wegen Mordes, Freiheitsberaubung, Folter, Nötigung oder Raub zu langjährigen, teilweise auch lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Ein Ereignis, das in seiner Einzigartigkeit viel zu wenig gewürdigt wird. In welchem Land wurden so kurz nach Beendigung eines Regimes die Menschenrechtsverletzer ohne Anstoß von außen vor Gericht gestellt? In Deutschland jedenfalls gewiss nicht: Die Alliierten Militärtribunale und die Nürnberger Prozesse, auf denen im Grunde der Internationale Strafgerichtshof und das heutige Völkerstrafrecht beruhen, wurden in Deutschland lange als Siegerjustiz gescholten. Auch später, in Eigenverantwortung, stellte man nur einen Bruchteil der Naziverbrecher vor Gericht.
Allerdings folgten in Argentinien auf den Hauptprozess lange Jahre der Straflosigkeit. Aufgrund des enormen Drucks der Militärs erließ die demokratische Regierung eine Serie von Amnestiegesetzen beziehungsweise Begnadigungsakten gegen verurteilte Militärs. Zum Beispiel das Schlusspunktgesetz im Dezember 1986 und das Befehlsgehorsamsgesetz im Juni 1987.

Lücken der Straflosigkeit

Trotz dieser Gesetze bemühten sich argentinische Menschenrechtsorganisationen und JuristInnen, mit verschiedenen juristischen Begründungen und in allen Instanzen, eine Strafverfolgung der Militärs zu erreichen. So wurde festgestellt, dass die Amnestiegesetzgebung Lücken hinsichtlich der Verfolgung in Fällen von Eigentumsdelikten und Kindesentführung aufwies. Deswegen kam es in den 1990er Jahren zu Strafverfahren gegen ehemalige Militärs. Auch in Italien, Frankreich, Schweden, Belgien und der Schweiz wurden zum Teil umfangreiche Ermittlungsverfahren gegen argentinische Militärs eingeleitet. Seit 1998 versucht die deutsche Koalition gegen Straflosigkeit (siehe Kasten, S. 25), nach spanischem Vorbild, argentinische Militärs vor deutsche Gerichte zu bringen. Nach dem zögerlichen Beginn der Ermittlungen waren über mehrere Jahre drei Staatsanwälte in Nürnberg-Fürth mit Ermittlungen gegen 89 Militärs beschäftigt. Dort, sowie in der Deutschen Botschaft in Buenos Aires, wurden circa 50 Personen als ZeugInnen vernommen. Unter ihnen befanden sich Opfer der Militärdiktatur, Familienangehörige und ExpertInnen. Zahlreiche Gerichtsurteile aus verschiedenen Ländern wurden durch die deutschen Staatsanwaltschaft ausgewertet.

Auslieferung an die BRD

Der größte Erfolg der politischen und juristischen Arbeit in Deutschland waren die Haftbefehle wegen der Tötungen von Elisabeth Käsemann und Klaus Zieschank. Sie wurden vom Amtsgericht Nürnberg-Fürth am 28.11.2003 gegen die ehemaligen Militärjuntachefs Videla und Massera sowie gegen den Ex-General Suárez Mason erlassen. Es erfolgte die Ausschreibung zur Fahndung über Interpol. Das Auslieferungsgesuch der Bundesregierung wurde dem argentinischen Außenministerium im März 2004 übergeben. Vor wenigen Wochen wurde es von dem zuständigen Gericht abgelehnt. Die Bundesregierung hat jedoch über ihren argentinischen Anwalt Pablo Jakoby Rechtsmittel eingelegt.

Ende der Amnestie

Seit dem Regierungsantritt des amtierenden Präsidenten Néstor Kirchner tut sich vor allem in Argentinien selbst sehr viel: Am 25. August 2003 annullierte der Senat das Schlusspunkt- und Befehlsgehorsamsgesetz. Am 14. Juli 2004 bestätigte die erste Kammer des Bundesgerichts die Gültigkeit der Annullierung und die Fortsetzung der wieder eröffneten Verfahren gegen die Militärs. Im Mai 2005 erklärte der neue Oberste Staatsanwalt Esteban Righi die Gesetze ebenfalls für verfassungswidrig, was vom Obersten Gericht im Juni desselben Jahres bestätigt wurde. Damit wurde erneut der juristische Weg für Strafverfahren gegen Militärs in Argentinien frei gemacht.
Zu Recht wird nach wie vor kritisiert, dass die wenigen Militärs, die sich tatsächlich in Untersuchungshaft befinden (die über 70jährigen stehen unter Hausarrest), nicht in normalen Haftanstalten, sondern von der Justiz weitestgehend unkontrolliert in Militäreinrichtungen einsitzen. Auch die verfassungswidrigen Begnadigungen des ehemaligen Präsidenten Menem sind noch immer in Kraft. Doch der Druck der argentinischen Menschenrechtsbewegung und die europäischen Verfahren haben viel bewirkt.
Auch die Erfolge der Madres de Plaza de Mayo sind nicht hoch genug zu bewerten. Die Militärjuntas hatten alles daran gesetzt, ihre Repression weitestgehend im Verborgenen auszuüben. Dazu schufen sie ein System geheimer Haftanstalten, ließen zehntausende Personen inhaftieren und verschwinden. Die argentinische Gesellschaft sollte für Jahrzehnte verändert werden. Dieser Versuch ist im großen und ganzen gescheitert. Zwar schien sich das Gesellschaftsmodell der Miliärs zunächst durchgesetzt zu haben und das Land wurde durch die seit der Diktatur angestiegenen Auslandsschulden Land wirtschaftlich verwüstet.
Doch die Repression der Diktatur wird in den großen Gerichtsverfahren der nächsten Monate erneut thematisiert werden. Die verantwortlichen Militärs werden hoffentlich für ihre historisch bereits feststehenden, in den Prozessen aber mühsam im einzelnen nachzuweisenden Verbrechen abgeurteilt. Hierin sind sich die verschiedenen Menschenrechtsorganisationen noch einig.
Ansonsten hat sich die Bewegung maßlos zerstritten und zwar an der Frage, inwieweit die Regierung Kirchner unterstützt werden soll. ProtagonistInnen der Menschenrechtsgruppen sitzen an Kirchners Kabinettstisch, Prominente wie Estela Carlotto, Präsidentin der Großmütter der Plaza de Mayo, fehlen bei keinem Empfang. Da andere Gruppen auf ihrem regierungskritischen Ansatz beharren, wird um die großen Projekte der (nicht-juristischen) Vergangenheitsaufarbeitung, wie die Ausgestaltung des ehemaligen Folterlagers der ESMA und das Erinnerungsarchiv, dauerhaft aber wenig effektiv gestritten. Zumindest jedoch so effektiv, dass die juristischen Projekte kaum weiterentwickelt werden.

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