Editorial | Nummer 486 - Dezember 2014

Strategische Komplizen

LN-Redaktion

Guerrero brennt. Seit der Nacht vom 26. September, als die Polizei in dem südmexikanischen Bundesstaat sechs Menschen ermordet und 43 Studenten verschleppt hat, reißen die Proteste nicht ab. Wütende Menschen blockieren den Flughafen von Acapulco, besetzen reihenweise Regierungsgebäude und Parteizentralen und stecken sie teilweise in Brand. Auch in anderen Teilen Mexikos kommt es zu Angriffen auf Staats- und Parteieinrichtungen. Das Land erlebt die schwersten politischen Unruhen seit Jahrzehnten.

Der Zorn der Menschen hat das richtige Ziel: die politische Klasse Mexikos. Die enge Verflechtung von Politik, Justiz, Polizei und organisierter Kriminalität führt zu immer mehr Gewaltexzessen. Die verzweifelten Angehörigen der Studenten wissen, dass sie von den staatlichen Vertreter_innen keine wirkliche Aufklärung erwarten können, handelt es sich bei den mutmaßlich ermordeten Studenten doch um ein Staatsverbrechen. Eines von so vielen in Mexiko. Aufgrund des berechtigten vollständigen Misstrauens gegen die mexikanischen Behörden erhoffen sich die Familien der Verschwundenen und Demonstrant_innen Hilfe aus dem Ausland: Der Fall müsse von internationalen Institutionen untersucht werden, das Ausland müsse Druck auf die mexikanische Regierung ausüben. Dabei ist dieser Fall nur die Spitze des Leichenberges – bei der Suche nach den Studenten fand man bislang 19 Massengräber, 26.000 Menschen gelten in Mexiko als „verschwunden“, Massaker unter Beteiligung von Polizei oder Militär sind Normalität.

In der Tat ist die mexikanische Regierung sensibel für Druck aus dem Ausland, das neoliberale Wirtschaftsmodell ist auf ausländisches Kapital, Technologie und Märkte angewiesen. Ebenso bedarf die fortschreitende Militarisierung des Landes der Kooperation mit dem Ausland. Seit seinem Amtsantritt 2012 macht Präsident Enrique Peña Nieto auf der internationalen Bühne auf bella figura und lässt sich als großer Modernisierer feiern. Seine Bildungs- und Steuerreformen, vor allem aber die Öffnung des mexikanischen Energiesektors sind ganz nach dem Geschmack des internationalen Kapitals. Das Lohnniveau der mexikanischen Arbeiter_innen ist in manchen Bereichen bereits unterhalb der chinesischen gesunken. Die Ratingagentur Moody‘s belohnte die Reformen bereits, als sie im Februar die Bonität Mexikos in die begehrte A-Kategorie hochstufte. Auch in Deutschland reagierten Außenpolitiker_innen und Wirtschaft wohlwollend, mehrere deutsche Konzerne haben Investitionen in dem Land angekündigt.

Deutschland ist einer der wichtigsten Handels- und Kooperationspartner Mexikos. Umgekehrt ist Mexiko aufgrund seiner zuverlässig neoliberalen Ausrichtung seit langem „strategischer Partner“ der deutschen Außenpolitik, zu dem die Beziehungen intensiviert werden sollen. Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Mexiko (das eigentlich eine Menschenrechtsklausel enthält) steht vor einer Neuauflage; im Januar soll ein Abkommen zur Kooperation deutscher und mexikanischer Polizeikräfte verabschiedet werden, das die Tür für weitere Waffen- und Sicherheitstechnologieexporte öffnet. Beide Vorhaben stehen auch nach dem Massaker von Iguala nicht zur Disposition, wie Staatssekretär Michael Roth (SPD) am 5. November in einer Fragestunde des Bundestags bekräftigte. Er sieht „keine Notwendigkeit von Konsequenzen für die Beziehungen“ – im Gegenteil. Trotz Beweisen für die Verstrickung von Politiker_innen auf allen Ebenen (inklusive Präsident Peña Nieto) in massive Menschenrechtsverletzungen, sieht die deutsche Regierung höchstens regional Probleme, während sie der mexikanischen Regierung ehrlichen Aufklärungswillen nicht nur in dem aktuellen Fall unterstellt.

Bei einer Straflosigkeit von Verbrechen von fast 100 Prozent könnte so viel Vertrauen verwundern. Doch „strategischer Partner“ ist eine Chiffre dafür, dass die wirtschaftliche Bedeutung eines Landes so groß ist, dass es quasi einen Blankoscheck für den Umgang mit seiner Bevölkerung besitzt. Wie hätte die Reaktion der deutschen Regierung wohl ausgesehen, wenn auf Kuba 43 oppositionelle Studenten vom Staat verschleppt und ermordet worden wären? Auf Unterstützung seitens der deutschen Regierung sollten die Menschen in Mexiko besser nicht hoffen.

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