Mexiko | Nummer 441 - März 2011

Streit im Paradies

Im Süden Mexikos wird der Ökotourismus auf Kosten der Bevölkerung entwickelt

Chiapas hat sich in den letzten Jahren als beliebtes Urlaubsziel für mexikanische und internationale TouristInnen profiliert. Naturschauplätze und die Ruinen der klassischen Maya-Zeit sind die Hauptattraktionen im südmexikanischen Bundesstaat. Dabei ist kaum bekannt, dass die Förderung des Tourismus durch die chiapanekische Regierung zunehmend zu Konflikten in den indigenen Gemeinden führt. Der Staat nutzt diese aus, um seine wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen.

Thomas Zapf

Die Nachricht erregte internationales Aufsehen: Bei einer Konfrontation zwischen indigenen Kleinbauern und -bäuerinnen nahe der Wasserfälle von Agua Azul wurde ein Mensch unter noch ungeklärten Umständen getötet, es gab mehrere Verletzte. Im Mittelpunkt standen aber 17 AusländerInnen, die wegen der Auseinandersetzung über 20 Stunden festsaßen und später mit Hubschraubern nach Palenque ausgeflogen wurden. Weniger Aufmerksamkeit gab es für die 117 Indígenas, die verhaftet und zur Polizeiwache gebracht wurden, um unter Androhung von Folter und ohne Beistand eines Übersetzers ihre Aussagen zu machen. Dabei handelt es sich um ihr Stück Land und den Zugang zu den Wasserfällen, an dem sich der Konflikt entzündet hatte und nun eskaliert war.
Neu ist dieser Streitpunkt allerdings nicht. Seit mehreren Jahren gibt es innerhalb der Gemeinde San Sebastián Bachajón im Landkreis Chilón einen Disput zwischen zwei Gruppen um das Kassenhäuschen, das auf dem Weg zu den Wasserfällen steht. Die einen gehören seit ein paar Jahren zur Anderen Kampagne, einer von der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) ins Leben gerufenen antikapitalistischen, pazifistischen Initiative für eine neue Verfassung. Sie wehren sich gegen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen auf ihrem Gemeindeland und stellen sich damit auch gegen staatlich initiierte Pläne zur Ausweitung des Ökotourismus, zu denen sie nicht befragt wurden und von denen sie mehr Schaden als Nutzen erwarten. Die zweite Gruppe, von ihren Kontrahenten aufgrund ihrer Verbindung zu den politischen Parteien oficialistas genannt, befürwortet die Pläne der Regierung. Sie steht dem Landrat von Chilón und der lokalen Vertretung der chiapanekischen Regierung im Landkreis nahe, die die touristische Entwicklung vorantreiben. Es geht aber zudem noch um die Einnahmen aus dem unabhängigen Kassenhäuschen, das neben dem offiziellen Kassenhäuschen von der Anderen Kampagne aufgebaut wurde. Nach unbestätigten Angaben wurden dort im zweiten Halbjahr 2010 über 400.000 Pesos (circa 23.800 Euro) an Eintritt eingenommen, an denen auch die Regierung interessiert ist.
Bereits im April 2009 waren die AnhängerInnen der Anderen Kampagne Opfer der Repression der chiapanekischen Regierung unter Juan Sabines Guerrero geworden. Damals waren sechs Tseltal-Indigene von San Sebastián Bachajón unter dem Vorwurf festgenommen worden, an Überfällen auf Reisebusse in der Region um Agua Azul beteiligt gewesen zu sein. AnhängerInnen der Anderen Kampagne blockierten daraufhin die Landstraße zwischen Palenque und Ocosingo, einer der Hauptverkehrswege im Nordosten von Chiapas, an der Kreuzung zu den Wasserfällen. Dies wurde als Vorwand für einen massiven Polizeieinsatz genutzt, bei dem das unabhängige Kassenhäuschen zerstört wurde. Der chiapanekischen Regierung schien dies ein Dorn im Auge gewesen zu sein, da sie nicht an den Einnahmen beteiligt wurden und das Häuschen außerdem in der Hand erklärter GegnerInnen der Regierung war. Noch Wochen danach war die Polizei in umliegenden Dörfern und an der Kreuzung nach Agua Azul stationiert. Als sie wieder abgezogen war, wurde das Kassenhäuschen von den AnhängerInnen der Anderen Kampagne erneut aufgebaut. Der Konflikt innerhalb der Gemeinde war allerdings nicht gelöst, wie sich Anfang Februar 2011 zeigen sollte.
Bei der Auseinandersetzung zwischen den beiden Gruppen am 2. Februar erlangte zunächst die Gruppe der oficialistas gewaltsam die Kontrolle über das Kassenhäuschen. Die AnhängerInnen der Anderen Kampagne versuchten daraufhin, dieses wieder zu erobern. Bei dieser Konfrontation gab es Verletzte auf beiden Seiten. Ein Mitglied der ersten Gruppe wurde durch einen Schuss so schwer verletzt, dass er seinen Verletzungen auf dem Weg ins Krankenhaus erlag. Infolgedessen kam es am Tag darauf zur Verhaftung der 117 AnhängerInnen der Anderen Kampagne, von denen 107 am 5. Februar wieder freigelassen wurden. Die restlichen zehn wurden ins nächstgelegene Gefängnis nahe Palenque gebracht, unter ihnen ein Minderjähriger und ein geistig Eingeschränkter. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba), welches die Verteidigung der zehn Männer übernommen hat, erklärte zu den Menschenrechtsverletzungen im Kontext der Verhaftung, dass „sie weder einen Anwalt noch einen Übersetzer hatten, zudem wurden sie von der Polizei bedroht und von Beamten der Staatsanwaltschaft eingeschüchtert“.
Die Pläne zum Ausbau des Ökotourismus in der Region haben das Konfliktpotential vor Ort dramatisch erhöht. Bereits Anfang Februar 2010 hatte es in einer Nachbargemeinde von Agua Azul einen gewaltsamen Übergriff gegeben, bei dem einer der Angreifer versehentlich von den eigenen Leuten erschossen wurde. Diese, aus Agua Azul stammend, hatten Ackerland der zapatistischen Gemeinde Bolom Ajaw besetzt, um es für ein geplantes Hotelprojekt an den dort gelegenen Wasserfällen zugänglich zu machen. Nachdem die ZapatistInnen erfolglos versucht hatten, die BesetzerInnen auf friedliche Weise zum Rückzug zu überreden, kam es zur Konfrontation zwischen beiden Gruppen. Das Menschenrechtszentrum Frayba, das den Fall ausführlich dokumentierte, erläuterte auch die Pläne der Regierung für die Region. Demnach soll Palenque zu einem „neuen Cancún“ werden. Die Stadt mit den Maya-Ruinen steht im Mittelpunkt eines regionalen Projekts zur Entwicklung des Tourismus mit dem Kürzel CIP-Palenque. Einen wichtigen Teil desselben bilden die Wasserfälle von Agua Azul und Bolom Ajaw. An letzteren sind Lodges geplant, für die Einnahmen zwischen 500 und 1.000 US-Dollar pro Nacht kalkuliert werden, die Anreise mit Hubschraubern von Palenque aus noch nicht mit eingerechnet.
Im Rahmen der Förderung des Tourismus in Chiapas ist zudem geplant, die Infrastruktur des Bundesstaates weiterzuentwickeln. Hierzu gehört der Bau einer Autobahn zwischen dem Kolonialstädtchen San Cristóbal de Las Casas und Palenque, die fast ausschließlich durch indigene Dörfer führen würde. In der Tsotsil-Gemeinde Mitzitón, 15 Kilometer außerhalb von San Cristóbal gelegen und geplanter Ausgangspunkt der Autobahn, regte sich bei einem Teil der BewohnerInnen Widerstand, als 2009 plötzlich Ingenieure mit Messgeräten im Dorf auftauchten. Sie schlossen sich der Anderen Kampagne an und machten ihre Opposition gegen das Projekt öffentlich, was ihnen Solidarität seitens anderer Gruppen in der von den ZapatistInnen initiierten Bewegung brachte, aber auch einen innerkommunitären Konflikt ausbrechen ließ. Denn ein anderer Teil des Dorfes sprach sich offen für den Bau der Autobahn aus und begann, die Protestaktion der AnhängerInnen der Anderen Kampagne zu stören und anzugreifen. Trauriger Höhepunkt war der Tod eines Autobahngegners im Juli 2009, als eine Gruppe von BefürworterInnen mit hoher Geschwindigkeit in eine Gruppe von GegnerInnen fuhr. Die chiapanekische Regierung hat mittlerweile verkündet, dass die Autobahn nicht gebaut werden soll, scheinbar aus Rücksicht auf die Proteste. Inoffiziell ist aber auch die Rede davon, dass der eigentliche Grund die fehlende Finanzierung des Projekts durch die föderale Regierung sei, die nach mexikanischem Recht für deren Bau zuständig ist.
Obwohl Mitzitón und San Sebastián Bachajón mehr als 100 Kilometer voneinander entfernt liegen, hat der Widerstand gegen die Pläne der Regierung die organisierten Gruppen in beiden Dörfern zusammengebracht. Ihre Zugehörigkeit zur Anderen Kampagne hat dies gefördert, wenn nicht gar erst möglich gemacht. Auf verschiedenen Treffen dieses Zusammenschlusses der pro-zapatistischen Bewegung gab es so die Möglichkeit zum Austausch. Und mehr als einmal haben sich beide Gruppen miteinander öffentlich solidarisiert, vor allem bei Protestaktionen, aber auch, wie jüngst in San Sebastián Bachajón geschehen, in Fällen von staatlicher Repression.
Die chiapanekische Regierung reagierte nach der Konfrontation bei Agua Azul am 2. Februar mit einer Medienkampagne, um sich als Schlichter zu präsentieren. In bezahlten Zeitungsanzeigen, unter anderem in der größten linken mexikanischen Tageszeitung La Jornada, wurde von einem Runden Tisch zwischen den BewohnerInnen von Agua Azul und San Sebastián Bachajón berichtet, an dem sich auch der Gouverneur Juan Sabines Guerrero eingefunden hatte, um dem Dialog beizuwohnen. Als Lösung des Konflikts wurde das Modell eines einzigen Kassenhäuschens präsentiert, das vom chiapanekischen Wirtschaftsministerium geführt werden soll. Ein kleiner „Schönheitsfehler“ hieran war allerdings, dass die Gruppe der Anderen Kampagne, die in den Konflikt involviert ist, nicht am Dialog beteiligt war. Diese hatte Verhandlungen mit der Regierung bereits ausgeschlossen, nachdem die oficialistas ihnen das Kassenhäuschen gewaltsam entrissen hatten. Das Netzwerk für den Frieden, ein Zusammenschluss lokaler Menschenrechtsorganisationen, machte in einer Stellungnahme zu den Geschehnissen deutlich, dass ein zuvor von den Konfliktparteien initiierter Dialog durch die Handlung der Regierung zunichte gemacht wurde. Die Regierung habe zunächst die gewaltsame Besetzung des unabhängigen Kassenhäuschens zugelassen, die andere Seite mit Repression überzogen und die Freilassung der Gefangenen an die Zustimmung der von der Regierung durchgesetzten Bedingungen geknüpft. In einer Erklärung der zehn Gefangenen Ende Februar hieß es dann auch, dass sie von Regierungsfunktionären im Gefängnis gedrängt worden seien, „deren Vorschläge zum Dialog zu akzeptieren“, um im Gegenzug ihre Freilassung zu erreichen.
Einen Tag vor der gewaltsamen Konfrontation bei Agua Azul war Präsident Felipe Calderón auf einem als privat erklärten Besuch in der Region, um das „Jahr des Tourismus“ in Chiapas öffentlichkeitswirksam zu fördern. Ob ein Zusammenhang zwischen seiner Reise und dem Vorfall besteht, bleibt unklar, kann aufgrund der zeitlichen Nähe aber nicht völlig ausgeschlossen werden. Sollten die mexikanische und die chiapanekische Regierung auf ihrer Strategie beharren, den Tourismus auf Kosten von Konflikten in den indigenen Gemeinden zu stärken, könnten sich die Medienberichte wie die von Anfang Februar über die 17 internationalen TouristInnen als kontraproduktiv erweisen und Chiapas als Urlaubsziel unattraktiv machen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren