Chile | Nummer 287 - Mai 1998

Streit im Sommerloch

Zwischen Verfassungsklagen und Dankbarkeitsgefühlen der Bevölkerung: der frischgekürte Senator Pinochet

Chile bleibt über die Figur des Augusto Pinochet auch nach acht Jahren vermeintlicher Aussöhnung zutiefst gespalten. Die Mutation des zuletzt unabsetzbaren Armeechefs zum nunmehr ebenso unabsetzbaren Ehrensenator sorgte für heftige innenpolitische Kontroversen. Den Medien war seit Jahresbeginn kein Thema zu schade, um die Gräben zwischen den Anhängern und Gegnern des Ex-Diktators immer tiefer werden zu lassen: Privatvermögen und Gesundheitszustand, Attentatspläne und Sicherheitsvorkehrungen, Verfassungsklagen und Strafanträge füllten das chilenische Sommerloch um den 82-jährigen Ex-General bis weit in den März hinein.

Michael Radsec

Der Streit begann mit einem jener gewohnt polemischen Interviews des Augusto Pinochet Ugarte. Um die Jahreswende 1997/98 hatte er linken ParlamentarierInnen damit gedroht, angeblich belastendes Material aus den Händen seines Geheimdienstes DINE (Dirección Nacional de Inteligencia del Ejército) gegen sie auf den Tisch zu legen, sollten diese es wagen, ihm einen politischen Pozeß zu machen. Ausgerechnet einige jüngere Vertreter der ansonsten um einen gütigen Ausgleich mit den Militärs bemühten Christdemokraten sahen deshalb die “Ehre und Sicherheit der Nation” verletzt und kündigten an, dem Ex-Diktator eine Verfassungsklage anzuhängen.
Angesichts der von Pinochet längst bekundeten Absicht, mit Beginn der neuen Legislaturperiode am 11. März 1998 im chilenischen Oberhaus einen Sitz auf Lebenszeit einnehmen zu wollen, war der Sinn einer solchen Klage nur zu offenkundig: Der Fünf-Sterne-General sollte zu einem Zeitpunkt, zu dem man sich im Lande der internationalen Öffentlichkeit gewiß sein konnte, im allerletzten Monent von seiner eigenen Verfassung ausgebremst werden. Die politische Rechte sah nun ihrerseits die “Nationale Sicherheit” in Gefahr. Wäre der zur Hälfte mit Militärs besetzte Consejo de Seguridad Nacional tatsächlich einberufen worden, wie von den Pinochetisten der Union Demócrata Independiente (UDI) und einigen Hardlinern von Renovación Nacional RN gefordert, hätte der Ex-Diktator höchstpersönlich darüber befinden dürfen, ob eine formal verfassungsgemäße Klage gegen ihn ebendiese “Nationale Sicherheit” bedroht.

Kalkulierte Inszenierung

Doch ganz soweit mußte es im spezifisch chilenischen System der checks and balances gar nicht kommen. Daß die Kritik an dem Ex-Diktator ins Leere läuft und gutgemeinte juristische Schritte gegen ihn bereits im Vorfeld versanden, hat viele Gründe. Heute muß man sich in der Rückschau beispielsweise fragen, ob die naive und halbherzige Vorgehensweise besagter Christdemokraten unter dem Mitte-Links-Regierungsbündnis Concertación nicht von Anbeginn zu einem Kalkül gehörte, das nur darauf abzielte, einen ebenso rasch verflogenen wie aufgekommenen Medienwirbel zu inszenieren, um darin das eigene, vermeintlich demokratischere Gesicht zu wahren. Denn merkwürdig mutete an, daß obschon die immer nur angedrohte Verfasssungsklage wegen der erforderlichen Zweidrittelmehrheiten in beiden Kammern a priori zum Scheitern verurteilt war, deren bloße Ankündigung für eine derart große Aufregung sorgen konnte. War es nur das Sommerloch? Oder aber konnte diese Rechnung schon deshalb nicht aufgehen, weil sie nie aufgehen sollte?
Gleichwohl: Staatspräsident und “Christtechnokrat” Eduardo Frei erschrak ob soviel politischen Trubels und schickte zunächst Innenminster Figueroa und Ex-Verteidigungsminister Pérez Yoma vor: Unisono erklärten sie im Januar eine wie auch immer geartete Verfassungsklage gegen Pinochet für “politisch unange-bracht”. Doch war insbesondere die Parteibasis der Democracia Cristiana DC so einfach nicht zur Staatsräson zu bringen. Frei mußte schließlich selbst – Anfang März in einer Ansprache an die Nation – seine widerspenstigen Parteigänger, wollten diese nicht “Gefangene ihrer eigenen Geschichte” bleiben, zu Besonnenheit und Vernunft ermahnen. Ricardo Lagos, vom Sozialismus geläuterter Sozialdemokrat und von der parlamentarischen Linken seit Jahren auserkorener Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 1999, nahm zusammen mit seiner Partido por la Democracia PPD erst einmal Abstand von einer Klage.
Der Vorgang ist symptomatisch und verweist darauf, daß in dem vom Konsens als der höchsten Maxime regierten Chile der 90er Jahre – SozialwissenschaftlerInnen sprechen inzwischen von einer conspiracy of consensus – ein Einvernehmen in den wirkich wichtigen Fragen nicht vorhanden ist. Die nachgerade pathologische Furcht davor, daß jeder offen ausgetragene Konflikt die Gesellschaft noch tiefer spalte, führt zusammen mit einer Abwendung immer größerer Teile der Bevölkerung von der Politik (die Partei der Nicht- und Protestwähler wurde bei den Parlamentswahlen im Dezember 1997 mit 40 Prozent stärkste Kraft) zu einer Melange, die politische Stabilität nur vorgaukelt. Bereits kleinste Erdstöße (wie zuletzt die von Pinocht aufgeschobene Amtsübergabe) genügen, um angesichts der fehlenden demokratischen Streitkultur und einem nach wie vor nicht gefestigten Institutionensystem die politische Klasse in helle Aufregung zu versetzen.

Verhängnisvolle Harmoniesucht

Hinzu kommt, daß dieser Klasse mittlerweile Führungsfiguren fehlen, die bereit wären, über den tagespolitischen Tellerrand hinauszuschauen. 1996 mußte mit dem Präsidialamtsminister Genaro Arriagada der vorläufig letzte Stratege unter Chiles Demokraten von der politischen Bühne Abschied nehmen. Seitdem ist weder eine gemeinsame Strategie der Concertación noch im Zusammenspiel mit außerparlamentarischen Gruppen erkennbar. Gerade beim jüngsten Vorgehen gegen Pinochet hat es sich, allem Medienwirbel um Verfassungsklagen und Strafanträgen zum Trotz, um kaum mehr als Einzelaktionen gehandelt. Mit großem Tohuwabohu angekündigte Sammlungsbewegungen (wie die des christdemokratischen Abgeordneten Jorge Lavandero um die sogenannte Frente Amplio para un Chile Democrático) sind reine Rhetorik geblieben.

Pinochet als Möchtegern-Großvater

Vor kaum mehr als zehn Jahren hatte sich die Lage noch ganz anders dargestellt. Über Massenmobilisierungen forderte die Mehrheit der ChilenInnen den Übergang zu freien Wahlen. Aber wollte diese immer nur knappe Mehrheit eigentlich jemals mehr? Schenkt man den Meinungsforschern Glauben, läßt sich diese Frage getrost verneinen. Ganze fünf Prozent der Chilenen erachteten in den letzten Umfragen die Ahndung und Sühnung der unter der Militärherrschaft begangenen Menschenrechtsverletzungen als überhaupt noch wichtig. Dies, obwohl 3.197 politisch motivierte Gewaltverbrechen mit Todesfolge für die Zeit von 1973 bis 1990 nun auch amtlicherseits dokumentiert sind und das Schicksal von 1.102 Verhafteten-Verschwundenen nach wie vor ungeklärt ist. Nur eine Minderheit sieht außerdem politischen Reformbedarf auf dem Weg zu mehr Demokratie. 39 Prozent der ChilenInnen empfinden dagegen ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Pinochet, weil er entweder mit der Bedrohung durch den internationalen Kommunismus aufgeräumt, oder weil er die chilenische Wirtschaft modernisiert habe – oder aber wegen beidem.
Bestärkt durch die öffentliche Meinung zeichnet sich der Ex-Diktator in letzter Zeit deshalb gerne selbst als großväterliche, der politischen Sphäre quasi entrückte Figur, die die Demokratie im Lande wiederhergestellt und Chile zu einer einzigartigen Prosperität verholfen habe. Die blutige Machtübernahme vom 11. September 1973 erklärt er dann meist nebenbei zur guten Tat, wie zuletzt, aus Anlaß der am 10. März erfolgten Amtsübergabe des Hee-resvorsitzes an den 28 Jahre jüngeren Ricardo Izurieta. Kein Wort über die Opfer, kein Anflug von Reue, und doch konnte Pinochet das dunkle Kapitel seiner Gewaltherrschaft nicht ganz egal sein: Keine 24 Stunden ließ er zwischen der auf den letztmöglichen Termin aufgeschobenen Amtsübergabe und seiner Vereidigung zum Senator am 11. März verstreichen.

Strafvervolgt, aber parlamentarisch immun

Denn weit mehr als die inszenierte Verfassungsklage mußten und müssen Pinochet die gegen ihn anhängigen Ermittlungsverfahren vor der argentinischen, spanischen und nun auch eigenen Justiz beunruhigen. Der Senatorensitz gewährt ihm schließlich nicht nur politische Präsenz, sondern vor allem parlamentarische Immunität. Dieser Schutz vor Strafverfolgung könnte dem Ex-Diktator wichtig werden, wenn er sich denn, zum ersten Mal überhaupt, möglichen Strafprozessen gegenübersähe. So sind die Fälle um Carmelo Soria (in Spanien), das Ehepaar Prats (in Argentinien) und Orlando Letelier (in Washington) seit 22 Jahren nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Insbesondere die argentinische Staatsanwaltschaft wird in den nächsten Tagen zu entscheiden haben, ob genügend belastendes Material gegen den Ex-Diktator persönlich vorliegt, um ihn zusammen nit ehemaligen Angehörigen des Geheimdienstes Dirección Nacional de Inteligencia DINA zur Rechenschaft an dem Mord seines Amtsvorgängers an der Heeresspitze, Carlos Prats González, zu ziehen.
Erst dieser Druck von außen scheint, zusammen mit der um die Verfassungsklage ausgelösten Polemik, nun in Chile selbst eine regelrechte Antragslawine ins Rollen gebracht zu haben. Die KommunistInnen um Gladys Marin und Menschenrechtsanwälte um Nelson Caucoto haben seit Januar diesen Jahres gleich mehrere Strafanträge gegen den Ex-Diktator gestellt. Vorgehalten wird ihm Völkermord, mehrfacher Totschlag, Entführung, Folter und illegales Verscharren von Leichen. Allen Anträgen wurde grundsätzlich stattgegeben; derzeit wird ermittelt und geprüft.
Indessen gilt es als unwahrscheinlich, daß die chilenische Justiz, obschon zuletzt durch eine Justizreform auch personell erneuert, die systematische Ermordung von RegimegegnerInnen unter der Militärherrschaft als Völkermord deklarieren wird. Täte sie dies, würde das Amnestiegesetz aus dem Jahre 1978 aus den Angeln gehoben, denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten nach internationalen Rechtsgrundsätzen, als grundsätzlich nicht amnestierbar.
Ein wenig beachtetes, aber überaus wichtiges Urteil der Strafkammer des Obersten Gerichtshofes vom vergangenen November könnte indessen für einen Hoffnungsschimmer sorgen. Erstmals haben die höchsten Richter des Landes einem Wiederaufnahmeantrag um den letztinstantlich bereits eingestellten Fall eines Verhafteten-Verschwundenen stattgegeben und damit gegen die Anwendung des Amnestiegesetzes entschieden. Ob damit ein Präzedenzfall geschaffen wurde, wird die Zukunft zeigen.
Entscheidend für den Erfolg aller Anklagen dürfte sein, ob die chilenische Justiz es als richtig erachtet, daß der chilenische Geheimdiest DINA in letzter Instanz von der seinerzeitigen Militärjunta und dessen Vorsitzenden Augusto Pinochet abhing. Die Verantwortung für die Greueltaten dieses Geheimdienstes lägen dann beim ehemaligen Alleinherrscher selbst. Ende März hat Pinochet den systematischen Mord- und Totschlag an seinen RegimegegnerInnen einmal mehr als Exzeß von einzelnen DINA-Mitarbeitern abgetan und eine persönliche Verantwortung abgelehnt.
Dabei fällt es nicht nur den Angehörigen der Opfer schwer zu glauben, der allmächtige Alleinherrscher habe seine Finger bei den Verbrechen der DINA nicht im Spiel gehabt. Unerwartete Schützenhilfe erhielten sie zuletzt von einem, der es genau wissen muß: Ex-DINA-Chef General Manuel Contreras, der derzeit eine siebenjährige Haftstrafe im Gefängnis von Punta Peuco wegen des Mordes Letelier verbüßt. In einem beim Obersten Gerichtshof eingereichten Antrag zur Wiederaufnahme seines Verfahrens macht Contreras geltend, daß er als Leiter der DINA unter unmittelbarem Befehl der Militärjunta gestanden und gehandelt habe. Gustavo Leigh, einer der Putschisten, der 1976 im Clinch mit Pinochet die Militärjunta verließ, bestätigte im März: “Contreras pflegte Pinochet allmorgendlich von seinen Aktionen zu berichten und Weisungen zu erhalten.”

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