Grenzen | Nummer 481/482 - Juli/August 2014

„Suche nach einer offeneren Gesellschaft“

Interview mit Julio César Campos Cubías und Sergio Gallardo García, den Gründern des Kollektivs LGBT in Mexiko-Stadt

Migrant_innen ohne regulären Aufenthaltsstatus sind in Mexiko schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Nicht-heterosexuelle Migrant_innen sind davon besonders betroffen. Sie sind zusätzlich mit lesbo-, homo-, bi- und transphober Gewalt konfrontiert. Im Gespräch mit den LN berichten Julio César Campos Cubías und Sergio Gallardo García wie sie sich mit dem Colectivo Migrantes LGBT für deren Rechte und eine offenere Gesellschaft einsetzen.

Interview: Rabea Weis

In Mexiko gibt es schon viele Organisationen zur Verteidigung und Unterstützung von Migrant_innen. Wieso haben Sie nun Migrantes LGBT (Aus dem Englischen, lesbian, gay, bisexual, trans*; Anm. der Red.) gegründet?
Julio César Campos Cubías: Wir möchten die Lücke schließen, die durch die fehlenden Initiativen zum Schutz nicht-heterosexueller Migrant_innen bestehen. Deswegen haben wir uns am 21. Januar 2014 offiziell zusammengetan. Der mexikanische Staat und seine Institutionen setzen sich nicht für die Menschenrechte dieser Personen ein. Dies wäre aber aufgrund der doppelten Vulnerabilität dieser Gruppe besonders dringlich: Die Situation von Diskriminierung und Homophobie ist nämlich nicht nur Grund für ihre Entscheidung zu migrieren, sondern sie erleben sie auch konstant auf ihrem Weg nach, durch und in Mexiko.

Sergio Gallardo García: Die Organisierte Kriminalität, genauso wie die Ignoranz und Gewalt von Polizist_innen und Beamt_innen oder gar anderer Migrant_innen sind der Grund für ihre besondere Schutzbedürftigkeit. Neben Frauen und Kindern ohne Begleitung ist es genau diese Gruppe, die von gewalttätigen, vor allem sexuellen Übergriffen, Menschenhandel und alltäglichen Angriffen in den Herbergen und Institutionen betroffen ist.

Wie genau sieht die Situation der nicht-heterosexuellen Migrant_innen in Mexiko aus?
S.G.: Hauptbeweggrund für die Migration nicht-heterosexueller Migrant_innen ist mit Sicherheit ihre Suche nach einer offeneren Gesellschaft. Nach einem Ort, an dem sie sich nicht mehr verstecken müssen, um nicht alltäglicher Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt zu sein. Obwohl es in Mexiko, vor allem in der Hauptstadt, bereits zahlreiche Gesetze und politische Initiativen zum Schutz der LGBT-Bevölkerung gibt, ändert dies bisher wenig an der tatsächlichen Situation. Weltweit ist Mexiko das Land mit der zweithöchsten Rate an Hassmorden. Einer der Hauptgründe ist die tief verwurzelte Lesbo-, Homo-, Bi- und Transphobie der Menschen.

J.C.: Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass viele Migrant_innen keine Papiere haben und deswegen Ausbeutung und Ausgrenzung ausgesetzt sind. Wenn sie nicht selbst Opfer werden, schließen sie sich oft Drogen- oder Menschenhändler_innenbanden an. Diese Situation betrifft besonders häufig nicht-heterosexuelle Migrant_innen, denen von der Gesellschaft von vornherein Arbeiten mit einem hohen Risiko, insbesondere die Prostitution, zugeschrieben werden. Deshalb sehen sie sich besonders oft gezwungen, auf der Straße zu leben oder in bestimmten Milieus zu verkehren. Dies wiederum erhöht ihre Kriminalisierung und Stigmatisierung seitens der Gesellschaft.

Wer ist Teil des Kollektivs und wie arbeiten Sie?
J.C.: Wir sind Jugendliche unterschiedlicher Nationalitäten, Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierungen. In Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft versuchen wir, die Sichtbarkeit und letztlich die Integration von nicht-heterosexuellen Migrant_innen zu fördern. Wir unterstützen insbesondere Migrant_innen aus Zentralamerika auf ihrem Weg in die USA und bei ihrer Ankunft in Mexiko. Aber auch Geflüchtete aus anderen Ländern, die Asyl in Mexiko beantragen wollen. Wir sind der Meinung, dass jeder Mensch das Recht auf ein würdiges Leben hat. Deswegen bietet unser Kollektiv dieser Gruppe von Migrant_innen humanitäre Hilfe an, die auf ihre spezifischen Anliegen gerichtet ist: Neben akuten Sachleistungen, leiten wir die Migrant_innen an sensibilisierte Herbergen und andere Stellen weiter, die legale und psychologische Unterstützung geben können.

Können Sie das an einem Beispiel etwas genauer ausführen?
J.C.: Es gibt verschiedene Fälle: Zum einen gibt es Personen, die mit konkreten Problemen persönlich an uns herantreten. Häufig fragen sie sich vor allem, ob sie in Mexiko bleiben oder besser versuchen sollen, ihren Weg in die USA fortzusetzen. Es gibt aber auch Fälle, die von Organisationen vertreten werden. Einer dieser Fälle ist Ender, ein 32-jähriger Salvadorianer, der nach Mexiko kam, weil er in El Salvador als politischer Aktivist für LGBT-Rechte verfolgt wurde. Obwohl Vorschriften der Nationalen Migrationsbehörde (INM) vorsehen, dass Migrant_innen nicht länger als 48 Stunden festgehalten werden dürfen, verhafteten sie Ender und sperrten ihn sieben Monate unter menschenunwürdigen Bedingungen ein. In Zusammenarbeit mit einer Anwältin und drei weiteren Kollektiven haben wir innerhalb eines Monats seine Freilassung erwirkt. Grundlegend war dabei nicht nur der politische und mediale Druck, den wir auf das INM, die Nationale Menschenrechtskommission und das salvadorianische Konsulat ausüben konnten, sondern vor allem auch die öffentliche Anklage in sozialen Netzwerken.

Welche weiteren Möglichkeiten nutzt das Kollektiv, um die Sichtbarkeit des Phänomens in der Gesellschaft zu erhöhen?
S.G.: Wir versuchen vor allem, durch Aktivitäten in sozialen Netzwerken die Menschen zu sensibilisieren und informieren. Außerdem organisieren wir Ausflüge zu Herbergen, Universitäten und Museen. Andere Veranstaltungen, die von uns durchgeführt werden, sind beispielsweise Filmzyklen mit anschließender Diskussion oder punktuelle Beiträge z.B. am Internationalen Tag des Kampfes gegen Homophobie oder der Demonstration für LGBT-Rechte in Mexiko-Stadt am 28. Juni.

Was müsste sich konkret verändern, damit die Rechte der nicht-heterosexuellen Migrant_innen in Mexiko respektiert werden?
S.G.: Wir setzen uns dafür ein, dass die Rechte, die die LGBT-Bewegung in Mexiko-Stadt in den letzten Jahren erkämpft hat, für alle gelten – ob arm oder reich, indigen oder mestizisch, und eben auch für Migrant_innen. Wir wollen, dass die Gesellschaft versteht, dass ebenso wie die Migration ein vielfältiges Phänomen ist, die Menschen, die migrieren, unterschiedliche Gründe und Ziele, genauso wie Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen haben. Deswegen wollen wir Weiterbildungen für die Beamt_innen, speziell des INM und der Mexikanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (COMAR) anbieten. Wir würden hier gerne gemeinsam mit ihnen eine gerechtere Migrationspolitik erarbeiten, die nicht nur nicht-heterosexuelle Migrant_innen, sondern auch andere Gruppen wie Indigene und Kinder ohne Begleitung umfasst.

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