Film | Nummer 356 - Februar 2004

Täglich hin und zurück

Der argentinische Dokumentarfilm El tren blanco

Ein weiß gestrichener Zug aus Holz, mit ausgehängten Türen und Fenstern ohne Glas fährt Tag für Tag vollbesetzt aus dem Umland nach Buenos Aires und zurück. Es ist kein gewöhnlicher Zug. Die meisten Sitzbänke wurden herausmontiert, um Platz zu schaffen für Hunderte von Karren und Handwagen, die nach jedem Bahnhofstop dichter die Waggons füllen. Dazwischen sammeln sich die Mitreisenden, deren Lebensrhythmus vom Fahrplan dieses Zuges bestimmt wird …

Anja Witte

Abfahrt 16 Uhr Nachmittags in der Provinz – Ankunft in Buenos Aires – Rückfahrt 23.30 Uhr. Frauen, Männer und Kinder machen sich täglich auf den Weg in die Hauptstadt, um dort ihrer Arbeit nachzugehen. Sie nennen sich selbst PapierarbeiterInnen oder cartoner@s und sie leben von dem, was andere weggeschmissen haben. In den rausgestellten Müllsäcken, suchen sie nach Verwertbarem, das sich verkaufen lässt: Papier, Karton, Glas oder Aluminium. Längst gehören die cartoner@s zum alltäglichen Stadtbild von Buenos Aires. In den Abendstunden ziehen sie langsam ihre schwerbepackten Handkarren von Haus zu Haus.
Viele Tage lang haben die Filmschaffenden Nahual García, Sheila Pérez Giménez und Ramiro García mit den Menschen aus dem Zug verbracht, sie kennen gelernt, ihnen zugehört. Der Film Der weiße Zug dokumentiert eine komplette Tagesreise von der Abfahrt an der ersten Station am Nachmittag bis zur Rückfahrt mit den vollbeladenen Karren. Die Kamera begleitet die cartoner@s bei der Fahrt in die Stadt, bei ihrer Arbeit auf der Straße. Sie erzählen von ihrem täglichen Kampf ums Überleben auf der Straße, ihren Ängsten und Hoffnungen. Die Geschichten der Menschen, die sich in dem Zug kreuzen, haben oft einen ähnlichen Hintergrund: Fabrikarbeiterinnen und Kellner, Tischler und Friseurinnen, die plötzlich ihre Arbeit verloren haben. Sie mussten sich auf das Papiersammeln umstellen, um ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien zu sichern. Der 43-jährige Familienvater Antonio erzählt, dass er fast 30 Jahre lang als Schleifer in einer Fabrik gearbeitet hatte, als er dann im Zuge der sich zuspitzenden ökonomischen Situation im Land auf die Straße gesetzt wurde: „Niemals zuvor hatte ich das gemacht. Einen Müllsack auf der Straße zu öffnen und darin herumzuwühlen war wie ein Schock für mich. Und trotzdem glaube ich jetzt, dass es eine Arbeit ist, die ich mit Würde verrichte – nicht mehr und nicht weniger. Ich schäme mich nicht. Damit kann ich meine Familie ernähren.“
Ramona, deren Mann schon lange tot ist, muss ihre acht Kinder über die Runden bringen. Oft ist der Hunger ihr einziger Begleiter, wenn sie ihren schweren Karren durch die Straßen zieht. Manchmal kommen ihre Kinder mit, dann versucht sie ihnen zu vermitteln, dass sie sich nicht schämen sollen, für die Arbeit, die ihre Mutter macht.
Der Kampf um Anerkennung ihrer Arbeit zieht sich durch alle Erzählungen. Täglich treffen die PapiersammlerInnen auf Misstrauen und Diskriminierung durch die BürgerInnen in den verschiedenen Stadtteilen. Aber inzwischen hat sich ein wenig Bewusstsein gebildet in der argentinischen Bevölkerung. In einigen Stadtteilen wird der Müll mittlerweile sortiert auf die Straße gelegt, um so die Arbeit der cartoner@s zu erleichtern. Die Aufnahmen des 2003 in argentinisch-spanischer Koproduktion produzierten Dokumentarfilms stammen aus dem Jahr 2001, noch bevor Präsident De la Rúa zurücktrat. Die Statistiken besagten zu diesem Zeitpunkt, dass mehr als die Hälfte der argentinischen Bevölkerung ein zu geringes oder gar kein Einkommen hatten.
Anfangs reisten die PapierarbeiterInnen mit den normalen öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt. Mit der steigenden Zahl der Menschen, die auf diese Arbeit angewiesen waren, wurde der weiße Zug eingerichtet.
2001 transportierte der weiße Zug täglich etwa 250 Handkarren. Seitdem hat sich die ökonomische Krise in Argentinien weiter verschärft und die Arbeitslosigkeit und auch der Hunger in der Bevölkerung sind stark angestiegen. Innerhalb weniger Monate hat sich die Zahl der Menschen, die vom Sammeln verwertbarer Stoffe leben, vervielfacht und damit auch die Zahl der Passagiere des weißen Zuges. Der Fahrschein kostet 14-tägig etwas mehr als 10 argentinische Pesos, was allerdings nicht einmal die Nutzung der Bahnhofstoiletten mit einschließt (zur aktuellen Situation der cartoner@s siehe Interview mit Pepe Córdoba in dieser Ausgabe).
Das erklärte Ziel der FilmerInnen ist es, mit ihrem Film ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die vielen Menschen, die mit ihren schwerbeladenen Wagen durch die Straßen von Buenos Aires ziehen, ein wichtiger Teil der argentinischen Gesellschaft sind.
Trotzdem scheint er manchmal an der Oberfläche zu bleiben und lässt das Publikum mit offenen Fragen zurück. Die ökonomische Struktur die hinter der Arbeit mit dem Papier steht, wird nicht beleuchtet.
Der Film erklärt nicht was mit den gesammelten Wertstoffen eigentlich passiert. Wer kauft das Papier? Wer verdient daran? Auch die Organisation der cartoner@s bleibt völlig unklar. Arbeiten alle ganz individuell oder gibt es Zusammenschlüsse und Kooperativen? Wie sieht es aus mit Solidarität und Konkurrenz unter den Betroffenen?
Dennoch gibt Der weiße Zug einen sehr persönlichen Einblick in das Leben der PapierarbeiterInnen, und indem er einigen der vielen Marginalisierten ein Gesicht und eine Stimme verleiht, wird er zum Plädoyer gegen Diskriminierung und Ausgrenzung.

El tren blanco: Nahual Garcia, Sheila Perez Gimenez, Ramiro Garcia (Regie); Argentinien, Spanien 2003; Farbe
Der Film wird auf der Berlinale (5.2. – 15.2. 2004) im Forum gezeigt.

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