Chile | Colonia Dignidad | Nummer 464 - Februar 2013

Te recordamos, Víctor

39 Jahre nach der Ermordung des Sängers Víctor Jara hat die chilenische Justiz acht ehemalige Militärangehörige angeklagt

Während die Erinnerung an den Künstler und Aktivisten lebendig bleibt, bleibt der Bereich der gerichtlichen Aufarbeitung der Diktaturverbrechen in Chile von Straflosigkeit geprägt. Die Gründe dafür, dass die meisten Verbrechen bis heute ungesühnt sind, sind in Strukturen der politischen und juristischen Institutionalität zu finden und gehen auf den chilenischen Übergang zur Demokratie zurück.

Jan Stehle

„Te Recuerdo, Amanda“ („Ich erinnere mich an dich, Amanda“) ist vielleicht das bekannteste Lied des nur wenige Tage nach dem Militärputsch 1973 getöteten Sängers Víctor Jara (siehe Chile Nachrichten 12, Seite 10-15, Jahrgang 1 der LN). Im Januar 2013 stand Amanda Jara, seine Tochter, an dem Ort, an dem ihr Vater gefoltert und ermordet wurde und erinnerte sich an Víctor. Wie unzählige Male zuvor in den letzten Jahrzehnten, forderte sie Gerechtigkeit, eine Verurteilung der Mörder ihres Vaters. „Wir fordern vom Obersten Gerichtshof, die USA um Auslieferung von Pedro Barrientos zu ersuchen“, sprach sie in die Mikrophone der zahlreich erschienenen Journalist_innen.
Der Leutnant im Ruhestand Pedro Barrientos lebt seit Anfang der neunziger Jahre in den USA. Seinen Lebensunterhalt verdient er inzwischen mit dem An- und Verkauf von Fahrzeugen, die über die Freihandelszone von Iquique in Nordchile verschifft werden. Barrientos hat Víctor Jara, nach mehreren Tagen grausamer Folter, im Keller der Veranstaltungshalle Estadio Chile erschossen. Das zumindest hat José Paredes dem Journalisten Luis Narváez vor laufender Kamara erzählt. Paredes war als 18-jähriger Wehrpflichtiger im Estadio Chile eingesetzt und war nach eigenen Angaben dort als Leibwächter von Barrientos tätig. Narváez überraschte Barrientos daraufhin im vergangenen September mit einem Fernsehteam vor seinem Haus in Deltona, Florida und befragte ihn. „Ich war nie im Estadio Chile“, sagte Barrientos, „ich habe Víctor Jara nicht umgebracht“. An einen Leibwächter namens Paredes könne er sich nicht erinnern. Doch recht überzeugend wirkte sein Dementi nicht.
Sonderrichter Miguel Plaza, der dem Berufungsgericht von Santiago angehört, schloss sich jedenfalls der Darstellung von José Paredes an. Ende Dezember letzten Jahres hat Plaza die Ermittlungen im Mordfall Víctor Jara abgeschlossen und Anklage gegen acht ehemalige Militärs erhoben. Pedro Barrientos und der Oberst im Ruhestand Hugo Sánchez Marmonti wurden als Täter des Mordes an Víctor Jara angeklagt, sechs weitere Personen als Komplizen. Gegen alle acht wurde Haftbefehl erlassen.
Die Anklageschrift von Richter Plaza dokumentiert die letzten Tage des damals bereits weit über Chile hinaus bekannten Sängers und Mitgliedes der Kommunistischen Partei Chiles. Am Nachmittag des 11. September 1973 belagerten Einheiten verschiedener Militärregimenter die Technische Universität des Staates, die heutige Universidad de Santiago. Deren Mitarbeiter_innen und Studierendenschaft waren als Unterstützer_innen der Unidad Popular Regierung von Salvador Allende bekannt. 600 von ihnen hatten sich in der Universität verbarrikadiert und waren entschlossen, Widerstand zu leisten. Über Waffen verfügten sie jedoch kaum. Am darauffolgenden Morgen stürmten Militäreinheiten nach kurzem Beschuss der Universität den Campus und nahmen alle fest. Unter den Verhafteten befand sich auch Víctor Jara, der als Lehrbeauftragter an der Universität arbeitete. Mit Bussen wurden die Gefangenen in das nahegelegene Estadio Chile transportiert, wo im Laufe der nächsten Tage über 5000 Gefangene zusammengepfercht wurden. In den Kellerräumen des Stadions wurden die Gefangenen verhört und gefoltert. Als einer der prominenten Gefangenen wurde Víctor Jara vom Rest der Gefangenen getrennt und nach besonders brutaler Folter am 16. September mit Gewehrschüssen ermordet. Sein Leichnam wurde am Tag darauf auf einer Brache neben einem Friedhof aufgefunden. Er wies 44 Schusswunden auf.
Die Interviews mit dem Wehrpflichtigen José Paredes und dem Offizier Pedro Barrientos wurden im Mai 2012 im chilenischen Fernsehen ausgestrahlt und fanden nicht nur in Chile große Beachtung. Viele internationale Medien nahmen sich des Themas an, eine Tatsache die möglicherweise beschleunigend auf die Anklageerhebung durch die chilenische Justiz gewirkt haben könnte. Denn Víctor Jara war der wohl bedeutendste künstlerische Vertreter der Unidad Popular und wurde nach seinem Tod im In- und Ausland als Märtyrer verehrt. Seine Lieder wurden auf jeder Veranstaltung der Chile-Solidaritätsbewegung gesungen und von Größen des politischen Liedes wie Silvio Rodríguez, Mercedes Sosa oder Joan Manuel Serrat interpretiert.
Nicht allen Opfern der chilenischen Militärdiktatur wird die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wie Víctor Jara. Die strafrechtliche Aufarbeitung des Großteils der Morde staatlicher Repressionsorgane aus den Jahren 1973 bis 1990 ist bis heute nicht abgeschlossen. Letztes Jahr vom Observatorium für Menschenrechte der Universität Diego Portales veröffentlichte Zahlen belegen dies. Fast vier Jahrzehnte nach dem Putsch ist erst bezüglich 305 ermordeter Personen ein Urteilsspruch ergangen. Bei einer Zahl von 3.216 offiziell von der Regierung anerkannten Todesopfern bedeutet das eine Aufklärungsrate von weniger als zehn Prozent. In 65 Prozent der Fälle ist das Gerichtsverfahren noch nicht abgeschlossen. Bei einem Viertel der Opfer wurde nie ein Verfahren eröffnet.
Gleichzeitig gab es bei den wenigen bisher ergangenen Gerichtsurteilen eine Reihe von Freisprüchen, vor allem jedoch zur Bewährung ausgesetzte Strafen, so dass nur 62 Verurteilte zum Berichtszeitpunkt in Gefängnissen saßen. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich dabei nicht um gewöhnliche Gefängnisse, sondern um besondere Militärgefängnisse, bei denen Militärs von Militärs bewacht werden und die Gefangenen weitaus bessere Haftbedingungen genießen als gewöhnliche Häftlinge in Chile.
Fast 23 Jahre sind seit dem Amtsantritt von Patricio Aylwin vergangen. Der erste gewählte Präsident nach der Diktatur hatte am Ende seines ersten Regierungsjahres 1990 verkündet, er wolle „voranschreiten in der unausweichlichen Aufgabe, die Wahrheit zu finden und Gerechtigkeit zu schaffen“. Jedoch hatte er sogleich den einschränkenden Nebensatz angefügt: „en la medida de lo posible“, im Rahmen des Möglichen. Anstrengungen des chilenischen Staates im puncto Wahrheitsfindung sind seitdem auch weitgehend unumstritten: Der 1991 vorgelegte Bericht der Wahrheitskommission (Comisión Rettig) über die von der Diktatur begangenen Morde und der 2004 veröffentlichte Bericht über die von staatlichen Stellen systematisch durchgeführten Folterhandlungen (Comisión Valech) fanden Anerkennung im In- und Ausland. Der Rahmen des Möglichen im Bereich der Benennung von Verantwortlichen für diese Verbrechen und ihrer Sanktionierung wurde jedoch seitdem stark von Ex-Diktator Pinochet und seinen Anhänger_innen in Politik, Militär und Justiz eingeengt.
Während die Festnahme von Augusto Pinochet im Jahr 1998 bei vielen Opfer- und Angehörigenorganisationen Hoffnung auf eine schnelle und umfassende Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur auslöste, ist diese inzwischen einer Verzweiflung und Resignation gewichen.
Nach der Festsetzung des Ex-Diktators in London hatten Angehörige hunderte von Strafanzeigen gegen Pinochet und Mitglieder seiner Repressionsorgane eingereicht. Sonderrichter wurden ernannt, die ihre Arbeitszeit ausschließlich diesen Menschenrechtsfällen widmeten. Die Anwendung des von der Diktatur geschaffenen Amnestiegesetzes wich in vielen Fällen einer Einstufung der Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die weder verjähren noch amnistiert werden können. Die anfängliche hoffnungsvolle Haltung wich jedoch bald wieder der Ernüchterung des faktischen „im Rahmen des Möglichen“. Die Arbeitslast hunderter komplexer Fälle war für einige wenige Sonderrichter nicht zu bewältigen. Viele von ihnen dürfen sich inzwischen auch nicht mehr ausschließlich mit Menschenrechtsfällen beschäftigen. In vielen wichtigen Verfahren wie beispielsweise dem Mord an Ex-Präsident Eduardo Frei Montalva, den Fällen Villa Grimaldi, Conferencia, dem Fall der 119 und in dem wichtigen Verfahren um die Deutschen-Siedlung Colonia Dignidad sind bis heute keine Gerichtsurteile ergangen.
In den letzten Jahren hat sich in der Strafkammer des Obersten Gerichts zudem teilweise die Rechtsauffassung der „halben oder graduellen Verjährung“ durchgesetzt. Diese erlaubt trotz Einstufung der jeweiligen Tat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine Reduzierung der Strafe wegen des lange zurückliegenden Tatzeitpunkts. Dies bedeutet, dass immer mehr Verurteilte in den Genuss einer Bewährungsstrafe ohne Haftantritt kommen. Diese Tendenz wird sich wohl im letzten Jahr der Rechtsregierung von Sebastian Piñera durch einen besonderen Umstand noch verstärken. Da sechs der 21 Mitglieder des Obersten Gerichts die Altersgrenze von 75 Jahren erreicht haben, darf die Regierung dem Parlament Vorschläge für die Neubesetzung der Vakanzen machen. Eine Besetzung mit konservativen Richter_innen, die gerne strafsenkende Argumente bemühen, ist wahrscheinlich bzw. teilweise schon geschehen.
Derweil hält der Schweigepakt in Militär und Polizei. Diese haben bei der Aufklärung der von Mitgliedern ihrer Institutionen begangenen Verbrechen bisher keinen nennenswerten Beitrag geleistet. Die wenigen Ermittlungsfortschritte der Justiz der letzten Jahre war Aussagen von ehemals einfachen Wehrpflichtigen wie José Paredes geschuldet. Dieser wurde nach seinen Presseäußerungen bis zu einer richterlichen Vernehmung inhaftiert. Diese aus juristischer Sicht nachvollziehbare Maßnahme wird dadurch ad absurdum geführt, dass höherrangige Offiziere, wenn überhaupt, meist nur wenige Tage in Untersuchungshaft verbringen, bis sie gegen Kaution wieder auf freien Fuß gelangen. Der eventuell vorhandene Aussagewille von einfachen Wehrpflichtigen gegenüber ihren ehemaligen Vorgesetzten wird durch solche Handlungen nicht befördert, eher wird der Schweigepakt gestärkt.
Derweil begünstigt der Zeitablauf die Straflosigkeit: Täter_innen versterben oder werden haftunfähig. Die Opferangehörigenorganisationen altern und verlieren an Einfluss. Viele Angehörige versterben mit einem Gefühl der Ohnmacht ohne die Todesumstände oder die Namen der Mörder_innen ihrer Familienmitglieder zu kennen. Neue institutionalisierte Akteure haben in den letzten Jahren an Protagonismus gewonnen, beispielsweise das Nationale Menschenrechtsinstitut, für das das Thema der Aufarbeitung der Diktatur nur noch eines unter mehreren ist.
Die Aufklärung und Ahndung des Mordes an Víctor Jara ist durch die Anklageerhebung einen Schritt vorangekommen: Sechs der acht Angeklagten wurden bislang – zumindest zeitweilig – in Untersuchungshaft genommen. Ein weiterer ist aus gesundheitlichen Gründen haftunfähig. Auch hat Richter Miguel Plaza die Auslieferung von Oberst Barrientos beantragt.
Die Umbenennung des Estadio Chile vor einigen Jahren in Estadio Víctor Jara zeigt, dass die Erinnerung an den Sänger und Aktivisten lebendig ist. Ob jedoch Oberst Barrientos oder einer seiner Mitangeklagten jemals für diesen brutalen Mord eine Haftstrafe antreten muss, darf als äußerst ungewiss gelten.

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