Nummer 312 - Juni 2000 | Peru

Totengesänge auf die Demokratie

Der letzte Akt des peruanischen Wahlschwindels

Präsident Fujimori hat seine Amtszeit definitiv um fünf Jahre verlängert. Doch der Preis für den Machterhalt ist hoch: Internationale Isolierung und wachsender Widerstand. Fujimori muss aufpassen, dass er die nächsten fünf Monate übersteht.

Rolf Schröder

Zehn Tage vor der Stichwahl am 28. Mai gab Alejandro Toledo (siehe Foto) auf. Vor Tausenden seiner Anhänger erklärte er, nur antreten zu wollen, wenn der Wahltermin um drei Wochen verschoben würde. Über den Platz, auf dem Toledo seine Kundgebung abhielt, zog ein Trauerzug. Schwarz gekleidete junge Frauen und Männer reckten Kreuze empor und ließen einen Sarg von Schulter zu Schulter wandern. Sie stimmten Totengesänge auf die Demokratie an.
Der Totengräber heißt Alberto Fujimori und schaufelt schon seit Jahren. Am Donnerstag vor den Wahlen vollendete er sein Werk und setzte zum letzten Spatenstich an. Die oberste Wahlinstanz JNE lehnte an diesem Tag mit 3:2 Stimmen eine Verschiebung des Wahltermins ab. Toledo rief derweil dazu auf, entweder die Wahlzettel mit der Parole „No al fraude“ – „Nein zum Betrug“ zu beschriften oder der Abstimmung fern zu bleiben. Bei einem einzigen verbleibenden Kandidaten war es nun nicht mehr schwer, den Wahlsieger vorherzusagen. Nur Absalón Vasquez, die Nummer eins auf Fujimoris Wahlliste Perú 2000, wollte nicht den Propheten spielen. Aber er sei optimistisch, so betonte er zwei Stunden vor Schließung der Wahllokale, dass Fujimori eine breite Mehrheit erhalten werde.
Der Kandidat siegte mit stolzen 74,6 Prozent. Rechnet man die ungültigen Stimmen, die laut vorläufigem offiziellem Endergebnis der Wahlbehörde ONPE etwa 31,5 Prozent ausmachten, hinzu, entfielen auf Fujimori nur noch 51,1 Prozent der Stimmen. Immerhin 17,4 Prozent entfielen auf Toledo, dessen Name trotz eines entsprechenden Antrags nicht von den Wahlzetteln gestrichen worden war. Die Zahl der NichtwählerInnen wurde auf 18,2 Prozent geschätzt. Das ist der höchste Anteil, der je in der Geschichte peruanischer Präsidentschaftswahlen registriert wurde, denn es gibt eine Wahlpflicht. Vergeblich ließ Fujimori kurz vor dem Urnengang einen Sprecher der Wahlbehörde ONPE scharfe Geschütze auffahren, um die Zahl der Boykotteure in Grenzen zu halten. Wer nicht zur Wahl ginge, so wurde angekündigt, der müsse eine Geldstrafe von umgerechnet 32 US-Dollar zahlen. Das ist eine Summe, die für viele PeruanerInnen fast an ihren Monatsverdienst heranreicht. Der ONPE-Sprecher drohte NichtwählerInnen zudem mit einem Ausschluss aus der staatlichen Sozialversicherung und stellte in Aussicht, ihnen den Zugang zum öffentlichen Dienst oder die Ausstellung eines Reisepasses zu verwehren.

Rechentricks und schwarze Löcher

Die Resultate zeigen deutlich, dass Fujimori in fairen Wahlen die absolute Mehrheit der Stimmen verfehlt hätte. Zumal nach den Erfahrungen der ersten Wahlrunde vom 9. April die von der ONPE bekanntgegebenen Zahlen mit hoher Wahrscheinlichkeit gefälscht sind. Denn immer noch verschleppt die Wahlbehörde aufgrund diverser Reklamationen die offizielle Bestätigung der Resultate der Parlamentswahlen. Die Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen wurden von der Opposition nur deshalb nicht angefochten, weil sie wegen der Stichwahl ihre Bedeutung verloren hatten. Doch es bleibt verdächtig, dass Fujimori überall dort, wo weder Vertreter der Opposition noch Wahlbeobachter anwesend waren, mit durchschnittlichen 58 Prozent ein Ergebnis erzielte, das deutlich über die absolute Mehrheit hinausging. Zudem kann die ONPE bis heute nicht erklären, warum fast eine Million mehr angekreuzte Wahlzettel als Wahlberechtigte erfasst wurden. Das ist allerdings im Peru Fujimoris nicht weiter schlimm, denn die Regierung hatte bereits rechtzeitig ein Gesetz verabschiedet, dem zufolge auch in einem solchen Fall gezählt werden darf.
Unvergessen bleibt, wie die ONPE Fujimori nach dem ersten Wahlgang fast zum Sieg gerechnet hätte. Dieses Vorhaben wurde unter anderem von der unabhängigen Organisation Transparencia vereitelt, deren Hochrechnungen den Präsidenten deutlich unter der 50-Prozent-Marke sahen. Zur jetzigen Stichwahl zog sich Transparencia ebenso zurück wie die internationalen Beobachter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und des US-amerikanischen Carter-Centers. Die Rechenkunst der ONPE konnte sich also ungestört auf ihrem höchsten Niveau entfalten.
Toledo hatte seine Teilnahme an der Stichwahl klipp und klar an drei Bedingungen geknüpft. An erster Stelle stand der Rücktritt des Führungspersonals der ONPE. Zweitens sollte eine unabhängige Ethikkommission darüber wachen, dass die Sensationspresse und verschiedene Fernsehsender auf Lüge, Hetze, Hohn oder Spott als Mittel der politischen Auseinandersetzung verzichteten. Schließlich bestand Toledo auf einem gleichberechtigten Zugang zu den Medien (siehe LN 309/310). Fujimori ging nicht auf eine einzige Bedingung ein. Dennoch fiel Alejandro Toledo die Entscheidung schwer, seine Kandidatur zurückzuziehen. Aber er musste einsehen, dass er unter diesen Bedingungen keine Chance gegen Fujimori hatte.
Eduardo Stein, der oberste Wahlbeobachter der OAS, erleichterte Toledo seinen Rückzug. Stein hatte die Computerprogramme der Wahlbehörde ONPE getestet, die bei der Auszählung der Stimmen am kommenden Sonntag eingesetzt werden sollten. Dabei musste er feststellen, dass bei der Eingabe von Testergebnissen Teile der Datenbank und die Namen der zugelassenen Programmbenutzer gelöscht wurden. Stein sprach von einem schwarzen Loch im Computer der ONPE und bezweifelte, dass sich diese Probleme bis zum Wahlsonntag lösen ließen. Er forderte als erster eine Verschiebung der Wahlen. Toledo brauchte sich ihm nur noch anschließen.

Philippinen, Indonesien, Peru?

Fujimori befindet sich mit seinem Wahlcoup in illustrer Gesellschaft. Wahlen mit nur einem Kandidaten haben vor ihm unter anderen schon die altbekannten Diktatoren Stroessner, Marcos und Suharto zelebriert. Diese wurden entweder von einem Putsch oder von Volksaufständen hinweggefegt. Der peruanische Präsident steht mit dem Rücken zur Wand. Institutionen wie die OAS, das Carter-Center oder Transparencia hatten sich unmissverständlich für eine Verschiebung der Wahlen eingesetzt. Alle drei zogen ihre Beobachter vor dem Urnengang zurück, weil sie mit der Wahlfarce nichts zu tun haben wollten. Die OAS könnte in den kommenden Wochen sogar Sanktionen gegen die peruanische Regierung beschließen. Das US-Außenministerium erklärte die Wahlen für ungültig und Fujimoris Präsidentschaft für nicht mehr legitim.
Am Wahltag waren im ganzen Land weit über hunderttausend Menschen unterwegs, um gegen den Wahlbetrug zu demonstrieren. Auf der Kundgebung Alejandro Toledos in Lima forderten allein 80.000 ein Ende der Diktatur. Der Oppositionsführer verglich sich mit Mahatma Gandhi und Corazón Aquino. Er hofft noch immer auf eine dritte Wahlrunde und kündigte weitere Protestwellen in allen wichtigen Städten an. Als Toledo gewaltlose Proteste anmahnte, schallte ihm ein lautes „Noooooooo“ entgegen. Die Stimmung ist explosiv. In der Andenstadt Huancayo wurde das Gebäude der spanischen Telekommunikationsfirma Telefónica in Brand gesteckt, die nach der Privatisierung des Telefonsektors das staatliche Monopol übernahm. Fujimori ließ seine Polizei mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vorgehen. Vorläufige Bilanz des Wahlabends: 130 Verletzte und 450 Festnahmen.
Das Fernsehen ignorierte die Protestkundgebungen gegen Fujimori mit Ausnahme von zwei Kabelkanälen. Es wurden Spielfilme gezeigt oder die neuesten Hochrechnungen der ONPE eingeblendet, die darüber Auskunft gaben, ob Fujimori nun bei 74 oder 75 Prozent lag. Selbstverständlich waren die Fernsehkameras auch bei der programmierten Jubelfeier der Fujimori-Anhänger in Lima dabei. Sie warteten allerdings vergeblich auf den angekündigten Wahlsieger, denn der traute sich an diesem Abend nicht an die frische Luft.
Besonders an den Universitäten, in denen seit Anfang der 90er-Jahre Grabesruhe herrschte, scheint sich eine neue Protestbewegung zu formieren. „Se acabó el miedo“ – „Wir haben keine Angst mehr“ war während der Demonstrationen auf verschiedenen Plakaten zu lesen. Für Martha Chávez, der ehemaligen Parlamentspräsidentin Fujimoris, sind die aufsässigen Studierenden zum Großteil Terroristen. Und die gehören ihrer Meinung nach ins Gefängnis. Doch Tausende Unschuldiger sind in der Ära Fujimori genau dort reingewandert, weil sie des Terrorismus angeklagt wurden.
Spannungen sind auch im neu gewählten Parlament garantiert, dessen Legislaturperiode am 28. Juli beginnt. Dort hat Fujimori die absolute Mehrheit deutlich verfehlt. Die Abgeordneten könnten mit einfacher Mehrheit die Präsidentschaft als vakant erklären oder ein Referendum für neue Wahlen in die Wege leiten. Natürlich wird Fujimori das zu verhindern suchen und rechtzeitig die Gesetze ändern, Abgeordnete der Opposition bestechen oder gar das Parlament auflösen. Aber er läuft jetzt Gefahr, mit jeder seiner Maßnahmen neue Protestwellen auf den Straßen auszulösen.

Die Regierungsmafia

Große Teile der Opposition schöpften mit dem Aufstieg des Alejandro Toledo neue Hoffnungen. Doch die Regierungspolitik der letzten Monate ließ keine Zweifel aufkommen: Fujimori und seine rechte Hand, der Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos, sind gewillt, die Macht um jeden Preis zu halten. Beide müssten nämlich fluchtartig das Land verlassen, wenn sie die Kontrolle über die von ihnen gleichgeschaltete Justiz verlören. Anstiftung zum Mord, Folter, Wahlfälschung, illegale Bereicherung, Korruption, Drogenhandel oder Betrug wären nur einige der Anklagen, denen sie und ihre Helfershelfer sich zu stellen hätten.
Allein die Verbrechen des Vladimiro Montesinos würden eine unabhängige Justiz über Jahre beschäftigen. Zunächst verdient der ehemalige Major nicht schlecht: Im Dezember 1999 konnte die Zeitung Liberación nachweisen, dass auf einem einzigen Konto des Geheimdienstchefs pro Jahr etwa 2,6 Millionen US-Dollar gutgeschrieben wurden. Montesinos gilt als Gründer der paramilitärischen Todesschwadron „Colina“. Die ermordete 1992 neun Studenten und einen Dozenten der Universität „La Cantuta“ und steht im Verdacht, ein Jahr zuvor in Barrios Altos, einem Stadtviertel von Lima, fünfzehn Menschen massakriert zu haben. Wer sich mit Montesinos anlegt, lebt gefährlich. Das erfuhr Demetrio Chávez, einer der bekanntesten Drogenbosse in Peru, am eigenen Leibe. Er gestand, monatlich 50.000 US-Dollar an Montesinos gezahlt zu haben, um einen Landeplatz für seine Flugzeuge im Dschungel zu erhalten. Dafür wurde er in Isolationshaft gesteckt und so gefoltert, dass er wohl nie wieder aussagen kann.
Das vorerst letzte Opfer von Montesinos Schergen ist Fabián Salazar, Journalist der Oppositionszeitung República. Salazar befand sich im Besitz von Videobändern, auf denen Gespräche zwischen dem Geheimdienstchef und dem Vorsitzenden des angeblich unabhängigen Wahlgremiums JNE, Alipio Montes de Oca, aufgezeichnet waren. Wenige Tage vor der Stichwahl am 28. Mai wollte Salazar sein brisantes Material veröffentlichen. Doch er wurde überfallen. Mit einer elektrischen Säge zertrennten ihm die Täter mehrere Sehnen seiner Hand und verschwanden mit den Bändern.
Alberto Fujimori steht an der Spitze der Regierungsmafia. Doch er ist auch ein äußerst geschickter Politiker, der nicht unterschätzt werden darf. Er wäre nie an die Macht gekommen, wenn der Sendero Luminoso in den achtziger Jahren nicht eine lange Blutspur durch das Land gezogen hätte. An den Wahlergebnissen ist zu erkennen, dass Fujimori zwar nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat, aber immer noch einen großen Teil. Das verdankt er in erster Linie seiner Kontrolle über die Medien, in denen er sich ausgezeichnet verkauft. Die Bevölkerung ist in zwei Lager gespalten. Es bleibt zu hoffen, dass ein angeschlagener Fujimori seine Anhänger künftig nicht gegen seine Gegner aufhetzt.

KASTEN:
Offener Brief an BAYER AG

Die Informationsstelle Peru e.V. und das peruanische Instituto de Defensa Legal (Ideele) befürchten, dass ein Pestizid der BAYER AG für den Tod von 24 Kindern in Tauccamarca/Peru verantwortlich ist. Die beiden Initiativen wenden sich mit einem Offenen Brief an die deutsche BAYER AG und an die peruanische Niederlassung. Darin fordern sie eine würdige Entschädigung für die Hinterbliebenen, die Übernahme der Behandlungskosten für die Überlebenden und eine Stellungnahme des Konzerns.
Nach Angaben beider Stellen weist vieles darauf hin, dass es sich bei dem Pestizid um Parathion handelt. Dieses Mittel wird in Peru von der Firma BAYER unter dem Namen Folidol verkauft; in Deutschland ist das Pestizid unter dem Namen E 605 erhältlich.
Die Kinder wurden am 22. Oktober 1999 mit einem Pestizid vergiftet. Weitere 22 Kinder überlebten mit schweren inneren Verletzungen. Folidol wird in Peru ohne Kontrolle auf den Märkten verkauft. Die meisten Bauern und Bäuerinnen können die Gebrauchsanweisungen nicht lesen, da sie Analphabeten sind.
Die Informationsstelle Peru vertritt die Meinung, dass das Unternehmen BAYER diese Tatsachen nicht ignorieren kann, obwohl die Verantwortung dafür, dass das Pestizid bisher nicht verboten wurde, der peruanische Staat hat. BAYER muss die Verantwortung für die Konsequenzen übernehmen, die der Verkauf des Produktes in Peru mit sich bringt.
Die Informationsstelle Peru ist überzeugt davon, dass der Verkauf von Folidol in Peru und anderen Ländern, in denen dieselbe Gefahr für Menschenleben besteht, eingestellt werden sollte.
Nähere Information bei der Informationsstelle Peru e.V., Tel. 0761-7070840
Elena Muguruza, Frank Esche
Gartenstr. 8/1
D-71701 Schwieberdingen
Muguruza.Esch@t-online.de

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