Literatur | Nummer 369 - März 2005

Traurige Erinnerung an einen Schriftsteller

Erinnerung an meine traurigen Huren, der neue Roman von Gabriel García Márquez, ist umstritten – warum?

Jede Neuerscheinung von García Márquez bringt den Literaturbetrieb zum Summen, erzeugt Vorabberichte, Massenauflagen, Raubkopien. Bei der Literaturkritik allerdings hat sein jüngster Roman Erinnerung an meine traurigen Huren längst nicht mehr ein so einhellig begeistertes Echo gefunden wie frühere Romane und Erzählungen. Der Stern des Altmeisters scheint zu sinken.

Valentin Schönherr

Erste Sätze sind eine Spezialität von Gabriel García Márquez. An die Qualität des legendären ersten Satzes aus Hundert Jahre Einsamkeit reicht der seines neuen Romans zwar nicht heran, aber die Aufmerksamkeit provoziert er allemal: “In meinem neunzigsten Jahr wollte ich mir zum Geburtstag eine liebestolle Nacht mit einem unschuldigen Mädchen schenken.” Meint García Márquez das ernst, ist jetzt auch er unter den gealterten Schriftstellern angelangt, die alle Hüllen fallen lassen?
Ganz so einfach ist es nicht. Mudarra, der Ich-Erzähler in Erinnerung an meine traurigen Huren, zögert nicht lange, um uns über die Hintergründe seiner Absichten aufzuklären. Der Gang ins Bordell ist ihm das Alltäglichste von der Welt, denn sein ganzes Leben lang hat er für die Lust bezahlt; nun, Auge in Auge mit dem Tod, soll es noch einmal etwas Besonderes sein. Er ruft Rosa Cabarcas an, die Puffmutter seines Stammbordells, und ordert ein Mädchen. “Köstliche Angebote” werden ihm unterbreitet, “allerdings nur Gebrauchtware” – nein, er will eine Jungfrau. Rosa Cabarcas findet schließlich eine.

Täglich ins Bordell

Da liegt sie dann, ein mageres, vierzehnjähriges Mädchen, von einer hohen Baldriandosis eingeschläfert, aber als er ihr zwischen die Beine will, widersteht sie ihm. Und da – García Márquez wollte also doch auf etwas anderes hinaus als auf erotische Phantasien mit Minderjährigen – erkennt Mudarra mit einem Schlag, dass sich sein Leben umkrempelt. Hatte er bislang stets “ohne Liebe geliebt”, findet er nun plötzlich das “unglaubliche Vergnügen, den Körper einer schlafenden Frau zu betrachten, ohne vom Begehren gedrängt oder von der Scham behindert zu werden”. Mit neunzig Jahren empfindet er zum ersten Mal echte Liebe, und die Provokation löst sich in einer glücklichen Wandlung auf. Während der nächsten Monate wird der Alte immer wieder das – stets schlafende – Mädchen besuchen, sie liebkosen und umsorgen, schließlich erfahren, dass sie ihn auch liebt, und sich auf einen erfüllten Lebensabend mit ihr bis zu “irgendeinem Tag nach meinem hundertsten Geburtstag” freuen.

Mann begehrt Mädchen

García Márquez hat, so war im Umfeld der Buchpublikation zu erfahren, Feuer an dem Roman Die schlafenden Schönen seines japanischen Kollegen Yasunari Kawabata gefangen, angeblich der einzige Roman, der ihn je neidisch gemacht hat: Mann begehrt Mädchen, darf sie aber nicht berühren. Vor Jahren schon, in der Erzählung “Dornröschens Flugzeug”, hat García Márquez dieses Motiv verarbeitet, dort war es die schlafende Sitznachbarin auf dem Flug Paris-New York, die er begehrte und die zugleich unerreichbar war. Hier nun liegt der Fall etwas anders, denn das Begehren Mudarras steht seiner (wahren) Liebe entgegen. Die Liebe reicht über den Sex hinaus und macht diesen letztlich überflüssig; Mudarra äußert einmal, die Sexualität sei “ein Trost, wenn die Liebe nicht reicht”.

Heilige oder Hure

Dieser Gedanke ist nicht ohne Reiz, gerade wenn er von einem Autor ausgeführt wird, für den das Begehren literarisch stets ein zentrales Thema war. Macht man sich zudem klar, dass die Frauenrollen in der lateinamerikanischen Literatur nur allzu oft darin bestehen, begehrtes Objekt zu sein, nach sexuellen Merkmalen taxiert zu werden und entweder als entrückte Heilige oder als verfügbare Hure zu gelten, dann ist der Versuch, das Begehren einmal ganz beiseite zu lassen, geradezu radikal.
Allerdings stimmt die Geschichte hinten und vorne nicht. Worin die Liebe des Alten zu Delgadina (der “kleinen Schlanken”), wie er sie nennt, nun besteht, wird nicht genauer erzählt – sie ist einfach da. Wie im Leben, möchte man meinen, aber an einer lebendig-vollständigen Delgadina wiederum ist Mudarra gar nicht interessiert. Verzückt ist er von ihrem Körper, auch läuft er verliebt durch die Welt und steckt alle damit an, aber er liebt doch nichts weiter als ein schlafendes Mädchen. Was, wenn sie aufwachen würde? Einmal redet sie im Schlaf. “Ihre Stimme hatte einen plebejischen Unterton, als sei es nicht die ihre, sondern die einer fremden Person, die sie in sich trug. Jeder Schatten eines Zweifels schwand aus meiner Seele: Schlafend war sie mir lieber.” Ihr Blut fließt “von Liebe geläutert” durch ihre Adern, heißt es an anderer Stelle; sie danach zu befragen, was sie zu seiner Einbildung sagt, spart er sich sicherheitshalber. Schön, dass die Puffmutter ihm am Schluss – er hat immer noch kein Wort mit der Kleinen gewechselt – zusteckt, dass Delgadina “ganz närrisch vor Liebe” zu ihm sei. Glaubhaft ist das nicht.

Apologie…

Statt dessen ist der Roman gespickt voll mit mehr oder weniger deutlichen Hinweisen darauf, dass dem Alten bewusst ist, was für eine Sauerei er da begeht. Dass es gesetzlich verboten ist, weiß er so gut wie Rosa Cabarcas; nur wird nichts passieren, da in ihrem Haus ohnehin die ganze politische Elite der Gegend verkehrt. Weiter: Das Mädchen hat Angst vor dem ersten Mal, “da eine ihrer Freundinnen, die sich mit einem Werftarbeiter aus Gayra davongemacht hat, in zwei Stunden verblutet” ist. Auch nicht weiter wichtig, denn “die aus Gayra haben schließlich den Ruf, auch Mauleselinnen zum Singen zu bringen”. Schließlich: “Sie (Rosa Cabarcas) pflückte ihre Früchte unter den Minderjährigen …, lernte sie an und presste sie aus” – wohlgemerkt, Rosa Cabarcas tut das, nicht Mudarra. Das Schema ist jedes Mal dasselbe: Missbrauch von Minderjährigen ist zwar verboten, aber die anderen haben angefangen, und so schlimm ist es ja nun auch wieder nicht, da von negativen Folgen weit und breit nichts zu bemerken ist.
Nun könnte man meinen, dieser Irrsinn würde aufhören, sobald Mudarra seine Liebe entdeckt hat – aber nichts dergleichen. Wie ein roter Faden durchziehen Strategien das Buch, das eigene Begehren zu sublimieren, die moralisch verwerfliche Seite daran anderen zuzuschieben und die Frauen in einer passiven Objektrolle zu belassen. Von “der Natur” ist er natürlich üppig ausgestattet – dafür kann er auch nichts –, er verfügt über den “Prügel eines Galeerensklaven” und einen Pissstrahl “wie ein wildes Fohlen”; Sekretärinnen himmeln ihn an, und seine Haushälterin, die er einmal im Monat – gegen erhöhten Lohn – “rammte”, “verkehrt herum”, dankt es ihm mit 22 Jahren unausgesprochener Liebe. Delgadina nun ist – Klischee pur – arm und hat eine kranke Mutter, die sie pflegen muss; gut also, dass sich Mudarra um sie “kümmert”. Vor ihrer Schönheit allerdings ist er völlig machtlos, da wirken höhere Gewalten: “Es gab kein Entrinnen. … Ich … betrachtete sie, alle fünf Sinne verzaubert.” Ja, da kann man nun wirklich nichts tun.

… und Kontinuität des Machismo

Ganz abstrus wird es, wenn er über Delgadina phantasiert. “Ich kleidete sie gemäß dem Alter und den Rollen ein, die meinen wechselnden Launen entsprachen: verliebte Novizin mit zwanzig, Salondirne mit vierzig, Königin von Babylon mit siebzig und Heilige mit hundert.” Hure oder Heilige, wie gehabt. Nein, in diesem Roman geht es nicht darum, sich von machistischen Geschlechterverhältnissen zu lösen und ihnen, in der Reife des Lebens, etwas wie ‘wirkliche Liebe’ entgegen zu setzen. Sondern er ist die Fortsetzung der Frauenbenutzung mit anderen Mitteln, kaschiert durch das hohe, so vermeintlich der Geltung moralischer Normen enthobene Alter des Protagonisten. Zugespitzt könnte man sagen: Dieser Roman ist lesbar als eine Legitimation der sexuellen Ausbeutung Minderjähriger.
Gewiss, das Buch bietet zunächst auch Lesevergnügen. García Márquez kann einen Spannungsbogen im Schlaf bauen und erzählt vom übrigen Leben Mudarras – von seinen wöchentlichen Zeitungskolumnen und einer doppelzüngigen Geburtstagsfeier in der Redaktion, von einer alten Katze, Büchern und Musik – in der gewohnten Liebenswürdigkeit. Stilistische Innovation muss man von einem Altmeister nicht erwarten; seine Ausflüge ins Phantastisch-Übertriebene sind nur mehr matte Schatten magisch-realistischen Erzählens, das er einst zur Perfektion getrieben hat. Aber auch der Genuss der Schatten kann einem vergehen angesichts dessen, was García Márquez aus dieser “Liebes”-Geschichte macht. Es bleibt nur die traurige Erinnerung an einen Schriftsteller, dessen gute Bücher man zum Glück wiederlesen kann.

Gabriel García Márquez: Erinnerung an meine traurigen Huren. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 16,90 Euro.

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