Kolumbien | Nummer 492 - Juni 2015

Übergriffe mit System

Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist in Kolumbien Teil des bewaffneten Konflikts

Nach den Berechnungen der Nichtregierungsorganisation Sisma Mujer wurde in Kolumbien 2014 alle 33 Minuten eine Frau vergewaltigt. Am 27. April dieses Jahres haben CAJAR (Anwaltskollektiv‚ Jose Alvear Restrepo‘), ECCHR (Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte) und Sisma Mujer vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag einen Bericht zu sexualisierter Gewalt vorgelegt, die in Kolumbien im Zusammenhang mit dem seit 50 Jahren währenden bewaffneten Konflikt steht. LN sprachen mit der Anwältin Viviana Rodríguez Peña, die für die Vorstellung des Berichts verantwortlich war.

Interview: Daniela Rivas, Übersetzung: Laura Haber

Zu welchen Schlüssen sind Sie in dem Dokument gekommen, das Sie der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) vorgelegt haben?
Bei unserer Analyse von 183 Fällen sexualisierter Gewalt stellte sich heraus, dass es trotz Sonder-ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft nur dreimal zu einer Verurteilung gekommen war. Um herauszufinden, warum die Straflosigkeit so extrem hoch lag, nahmen wir uns sechs Fälle genauer vor und stießen auf ein Muster: Die Ermittlungen wurden in der Mehrheit der Fälle schon in den Vorbereitungen zum Verfahren eingestellt und durchgehend wurde die Glaubwürdigkeit des Opfers angezweifelt. Keinem einzigen hochrangigen Militär wurde der Prozess gemacht, und wir haben festgestellt, dass sich die Militärbehörden sehr oft in den juristischen Prozess einmischten. In den Urteilssprüchen werden geschlechtliche Stereotypen reproduziert, und zwar indem die Frauen beschuldigt werden aus Groll gegenüber dem Angreifer – der Partner, Ex-Partner, ein bewaffneter Mann – Anzeige zu erstatten. Auch wenn die Regierung angefangen hat, über sexualisierte Gewalt zu sprechen, so hat sie nicht die Dynamik der Diskriminierung von Frauen verstanden. Man glaubt immer noch, dass die sexualisierte Gewalt in Kolumbien nichts mit dem Konflikt zu tun habe, als ob es keine höhere Verantwortlichkeit gebe. Im Gegensatz dazu schlussfolgerten wir in unserem Bericht, dass die sexualisierte Gewalt ein Teil der militärischen Ziele aller bewaffneten Akteure ist, um die Kontrolle über ein Territorium und seine Einwohner sicherzustellen.

Laut dem Bericht der Staatsanwaltschaft des IStGH waren es in mehr als der Hälfte der zwischen 2004 und 2012 registrierten Fälle von sexualisierter Gewalt Militärangehörige, die den Übergriff begingen. Gleichzeitig werden diese Verbrechen von Paramilitärs und Guerilleros begangen. Wie wirkt sich die sexualisierte Gewalt im Rahmen des Konflikts konkret aus?
Bei den großen Operationen sowohl der Streitkräfte als auch der Paramilitärs dient die sexualisierte Gewalt der Bestrafung der Bevölkerung. Diese wird als Komplizin der bewaffneten Gruppierung betrachtet, die zuvor die Region kontrollierte. Es geht nicht nur darum, ein paar Leute umzubringen, sondern eine Spur zu hinterlassen, damit sich alle an die militärische Kraft des Siegers erinnern werden. Man verübt Vergewaltigungen, zwingt die Frauen sich nackt auszuziehen und macht sie zu Sexsklavinnen. Schon mit zwölf oder 13 Jahren werden Mädchen ausgewählt, um ihnen ihre Jungfräulichkeit zu rauben und sie zu Ehefrauen der Kommandanten zu machen, die die Macht über das Gebiet errungen haben. Das betrifft nicht nur einen einzelnen Verwaltungsbezirk des Landes und auch nicht nur zwei- oder dreitausend Frauen. Es verletzt alle Frauen, indem wir als ein weiteres Mittel zur Machtausübung dienen.

Was bedeutet die sexualisierte Gewalt für die Gemeinden?
Der sexuelle Übergriff auf eine Frau, mit der ganzen physischen und psychischen Erniedrigung, zu der er führt, verursacht Angst. In den Gemeinden von Bauern, Afrokolumbianern und Indigenen überträgt sich dieser Effekt auf das Kollektiv, und so kann eine ganze Gemeinde kontrolliert werden. Die Übergriffe sind für die Frauen Teil des Alltags und alle wissen, was mitten im Krieg passieren kann. Aus Angst, dass ihre Kinder rekrutiert werden könnten, verlassen die Frauen mit Kindern und Alten ihr Zuhause. Dadurch verlieren sie den Zugang zu den Grundnahrungsmitteln und die Arbeit in der Gemeinde. In den Städten dienen sie wegen ihres geringen Bildungsniveaus als billige Arbeitskräfte, sehr oft als Hausangestellte ohne irgendeine soziale Absicherung. Was wir beobachten, ist daher eine Feminisierung der Armut: Die Frauen sind nicht nur Opfer und Vertriebene, sondern auch dazu verdammt, in Armut zu leben.

Warum haben Sie sich an den IStGH gewandt?
Weil die Zahlen alarmierend sind. In Kolumbien haben wir gute juristische Rahmenbedingungen, aber wir sind auch Experten darin, Gesetze zu formulieren, die nicht angewandt werden. Das heißt, es passiert einfach nichts. Die Staatsanwaltschaft selbst gibt an, dass über die Hälfte der Ermittlungen in der einleitenden Phase stecken bleiben. Der IStGH bestätigt das mit seinen eigenen Einschätzungen. Die Mehrheit der Fälle liegt in den Händen lokaler Staatsanwälte, die selbst der Meinung sind, dass ein kurzer Rock oder Untreue in einer Beziehung Rechtfertigung genug sind, um einen Fall zu den Akten zu legen oder die Taten ungestraft zu lassen. Sie erstatten keine Anzeige. Und wenn eine Frau das Risiko eingeht, Anzeige zu erstatten, was sie das Leben kosten kann, trifft sie nicht etwa auf einen Staat, der sie schützt und über ihre Rechte und Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer Lage aufklärt. Die bestehende Straflosigkeit erfordert deshalb strukturelle Veränderungen bei der Staatsanwaltschaft und dem Vorgehen bei Ermittlungen. Unsere Regierung muss auf die Forderungen reagieren, und sei es im Zuge einer Androhung seitens des IStGH.

Welche Reaktionen erhoffen Sie sich seitens der Regierung?
Einen Anstoß bei den Ermittlungen zu sexualisierter Gewalt. Unsere vorbereitende Studie soll bezwecken, dass die Staatsanwaltschaft des IStGH einen Fall für Kolumbien eröffnet. Allerdings wäre das der erste außerhalb Afrikas und wir sind uns bewusst, dass die kolumbianische Regierung alle ihre diplomatischen Mittel einsetzen würde, um das zu verhindern. Außerdem müssen wir die Lage bei den aktuellen Verhandlungen in Havanna berücksichtigen. Bevor wir nach Europa gereist sind, haben wir uns mit dem Justizministerium und der Verhandlungsdelegation der Regierung in Verbindung gesetzt. Sie drückten ihr Interesse aus, durchschlagende Erfolge beim Thema sexualisierte Gewalt zu präsentieren, was ein Eingreifen des IStGH verzögern würde. Trotzdem hat die Regierung bis jetzt keinen klaren Willen zum Handeln gezeigt.

Wie soll ihrer Meinung nach die sexuelle Gewalt gegen Frauen innerhalb der Übergangsjustiz zum Thema gemacht werden?
Wir glauben, dass die Gespräche über eine Übergangsjustiz eine Gelegenheit sind, um über das Justizwesen an sich und notwendige strukturelle Veränderungen nachzudenken. Wir hoffen, dass die sexualisierte Gewalt bei der zu erreichenden Vereinbarung eine Rolle spielt und verantwortungsvoll damit umgegangen wird. Wir wollen nicht bloß eine historische und allgemeine Anerkennung. Obwohl es wichtig ist, dass alle bewaffneten Akteure zugeben, Verbrechen sexueller Gewalt begangen zu haben, fordern wir, dass konkrete und individuelle Verantwortlichkeiten anerkannt werden. Und auch, dass die Aussagen Teil eines Gerichtsverfahrens werden, das Strafen nach sich zieht. Es kann keine Friedensvereinbarung geben, wenn die Verantwortlichen gleichzeitig völlig straffrei davonkommen. Konkret müssen wir uns Mechanismen ausdenken, damit der Strafprozess nicht von physischen Beweisen abhängt. Den Zeugenberichten der Frauen muss mehr Gewicht eingeräumt werden.

In den fünfzig Jahren, die der Konflikt bereits besteht, waren die Frauen in unverhältnismäßiger Weise und konstant von den Folgen der Gewalt betroffen. In der öffentlichen Diskussion dagegen tauchen sie erst seit ein paar Jahren auf. Warum?
Die Diskriminierung der Frauen ist in Kolumbien alltäglich und selbstverständlich. Sie wird nicht für etwas Schlimmes gehalten, das gegen die Menschenrechte verstößt. 2004 erkannte die Regierung an, dass sie verfassungsmäßig gescheitert war, die problematische Lage der Vertriebenen zu lindern, und vier Jahre später begann man öffentlich über sexuelle Gewalt gegen Frauen zu sprechen. Ab da mobilisierte sich die Zivilgesellschaft. Dagegen arbeitet Sisma Mujer schon seit 15 Jahren für die Menschenrechte der Frauen im Land und ist eine der Organisationen, die vom Unterausschuss für geschlechtsspezifische Themen bei den Verhandlungen in Havanna eingeladen wurden, um genau diese Themen bei den Diskussionen über Opfer und Übergangsjustiz zu berücksichtigen. Außerdem begleiten wir juristische Prozesse und veranstalten Weiterbildungsworkshops für Staatsanwälte, um zu vermeiden, dass die Stereotypen der Geschlechter bei den Ermittlungen reproduziert werden. Die Zivilgesellschaft ist jetzt sehr aktiv und engagiert dabei, Verbrechen dieser Art Sichtbarkeit zu verleihen.

In Kolumbien müssen sich Menschenrechts-aktivist*innen vielen Schwierigkeiten stellen. Auf welche Hindernisse sind Sie gestoßen?
Ab 2009 nahmen die Drohungen gegen Frauenorganisationen zu. Sisma Mujer erhielt Drohungen in den Jahren 2009 und 2010, als sich das Problem der Vertreibungen verschärfte. Bis heute können wir nicht sagen, wer uns bedroht hat und mit welchen Absichten. Seit zwei Jahren hat unsere Organisation keine Drohungen mehr erhalten, allerdings beobachten wir, dass nun regionale Anführerinnen bedroht werden, das heißt unsere soziale Basis. Sobald Frauen für ihre Rechte eintreten und sich mobilisieren, werden sie zu militärischen Zielen. Die sexualisierte Gewalt wird genutzt, um sie zum Schweigen zu bringen, weil es für die Angreifer gerechtfertigt ist, die physische und psychologische Integrität jener zu verletzen, die „viel reden“.

VIVIANA RODRÍGUEZ PEÑA
arbeitet seit mehreren Jahren als Anwältin für Sisma Mujer. Seit 15 Jahren begleitet die Nichtregierungsorganisation Frauen, die im Rahmen des bewaffneten Konflikts zu Opfern sexueller Gewalt wurden, mobilisiert die Zivilgesellschaft und leistet rechtliche sowie psychologische Beratung.

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