Mexiko | Nummer 451 - Januar 2012

„Unbequeme werden aus dem Weg geräumt“

Interview mit den Journalist_innen José Reveles und Martha Durán de Huerta

Seit 2006 wurden im sogenannten Drogenkrieg in Mexiko fast 50.000 Menschen umgebracht. Auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung waren die Journalist_innen José Reveles und Marta Durán de Huerta Ende Oktober in Berlin. Die LN sprachen mit ihnen über die Hintergründe des Terrors und eine Zivilgesellschaft, die allmählich dagegen protestiert.

Interview: Astrid Schäfers

Wie erklären Sie die massive Zunahme an Verschwundenen in Mexiko, die nichts mit dem Drogenkrieg zu tun haben?

Reveles: Seit ein paar Jahren verschwinden täglich wahllos Menschen in Mexiko, Bürger wie Arbeiter. Es werden Menschen entführt, um Lösegeld zu erpressen. Aber neuerdings handelt es sich oft um Entführungen, bei denen kein eindeutiges Motiv erkennbar ist. Ich kann aus dem Gedächtnis mindestens zwanzig solcher Fälle aufzählen. Da sind Farbenverkäufer aus Mexiko Stadt im Norden des Landes verschwunden oder neun Telefontechniker des Unternehmens Nextel aus Senaloa. Sie waren auf Montage in Nuevo Laredo und wurden entführt, als sie schliefen.
Laut Regierung entführen kriminelle Banden ihre Feinde. Oder es handle sich um unschuldige Opfer, die auf Drogentransportwegen reisen, auf denen es sehr viel Gewalt gibt. Aber wir müssen davon ausgehen, dass die Regierung über paramilitärische Gruppen eine soziale Reinigung vornimmt. Die Zahl der Verschwundenen ist seit 2006 enorm angestiegen, als die Regierung die Armee, die Bundespolizei und die Marine gegen die eigene Bevölkerung einsetzte. Aber die Verschwunden sind ja nur ein Teil der Gewaltopfer, da sind ja noch die Toten. Nach offiziellen Angaben sind in Mexiko bis 2010 rund 35.000 Menschen ermordet worden. Die Wochenzeitung Seta aus Tijuana spricht aber von mehr als 50.000 Morden. Es handelt sich um Exekutionen. Mexiko ist heute eines der gewalttätigsten Länder der Welt. Und jeder kann in dieses Meer der Gewalt hineingezogen werden.

Sie sind Experte auf dem Gebiet des Drogenhandels und des organisierten Verbrechens in Mexiko und haben dazu acht Bücher veröffentlicht. Ihr kürzlich erschienenes Buch heißt „Erhebungen, Narcogräben und gefälschte Erfolge“. Was meinen Sie mit dem Begriff gefälschte Erfolge?

Reveles: Der Begriff falsos positivos stammt aus Kolumbien und bezieht sich auf Morde an Unbeteiligten, die „positiven“ Statistiken über die Drogenbekämpfung dienen. Dies können auch Morde sein, die darauf abzielen, „Unbequeme“ aus dem Weg zu räumen oder soziale Bewegungen zu kriminalisieren. Da ja so viele umkommen, kann man es leicht so darstellen, als stünden die Narcos hinter allen Morden.
In Mexiko herrscht in ganzen Landstrichen das organisierte Verbrechen. Im Bundesstaat Tamaulipas werden so viele Menschen ermordet, dass sie nicht mehr wissen wohin mit den Leichen. Im August 2010 wurden 72 Tote – es handelte sich um Leichen zentral- und südamerikanischer Migranten ohne Papiere – in einem Lastwagen nach Mexiko Stadt gebracht. Bei dieser Gelegenheit entdeckten sie weitere 230 Leichen, die unweit der Hauptstadt San Fernando Tamaulipas vergraben waren. Laut der Regierung wurden sie ermordet, weil sie sich dem Drogenkartell der Zetas nicht anschließen wollten. Aber so einfach ist das nicht. Die Narcos verstecken die toten Körper nicht, erklärte mir Emílio Álvarez Icaza, von der Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde, einer Organisation von Angehörigen von Ermordeten und Verschwundenen um den Dichter ­Javier Sicilia.

Was geschah mit den Leichen in MexikoStadt?

Reveles: Sie wurden in die Forensik gebracht und es kamen 700 bis 800 Familien, die ihre Familienangehörigen suchen. Das Tragische war aber, dass nur 32 Leichen identifiziert werden konnten. Der Großteil der Toten konnte von keiner Familien identifiziert werden. Und die wenigen, die identifiziert werden konnten, waren keine Kriminellen, sondern Händler, die in die USA emigrieren wollten.

Warum gibt es kaum Daten über die Ermordeten und Verschwundenen?

Durán de Huerta: Die meisten Familienangehörigen zeigen die Verbrechen nicht an. Bei Entführungen besteht die Gefahr, dass die Polizei mit den Entführern oder Mördern unter einer Decke steckt. Dies trägt zu mehr Straflosigkeit bei.

Reveles: Die Regierung gibt auch keine Daten über die Morde heraus. Die verschiedenen Behörden schicken einen hin und her oder sagen, dass die Daten in Bearbeitung sind. Es ist absurd, dass es in einem Land mit soviel Gewalt keine Statistiken gibt. Vor weniger als einem Monat sagte Präsident Felipe Calderón, es sei schlimm, dass so viele Menschen verschwänden. Gleichzeitig meinte er: Aber wir wissen nicht, wie viele es sind. Es gibt zwar Zahlen, aber diese haben keine Vor- und Nachnamen. Es ist notwendig, die Fälle wirklich aufzuklären, mit Daten über Personen, die gestorben oder verschwunden sind. Wir befinden uns in einer humanitären Krise in Mexiko, und erst seit kurzer Zeit wird von Familienangehörigen sozialer Druck ausgeübt, durch Proteste und die Karawane der Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde.

Gibt es Beweise für Verbrechen von Seiten des Staates?

Durán de Huerta: Viele Verbrechen sind denunziert und nachgewiesen worden, zum Beispiel Verbrechen von Gouverneuren, die mit Amtsmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen zu tun haben. Da gibt es das Beispiel des Gouverneurs Ulisses Ruiz in Oaxaca [dieser setzte 2006 Militär gegen streikende Lehrer ein, es gab Tote und Verschwundene, Anm. d. Red]. Danach haben politische Verhandlungen stattgefunden und Ruiz wurde trotz massiver Menschenrechtsverletzungen nicht bestraft.
Ende November letzten Jahres hat eine Gruppe von Rechtsanwälten und sozialer Aktivisten eine Klage gegen die gesamte mexikanische Staatsklasse, gegen Präsident Calderón und seinen Sicherheitssekretär Garcia Luna beim Internationalen Menschengerichtshof in Den Haag eingereicht. Sie richtet sich auch gegen die Bosse der mexikanischen Drogenkartelle wie Chapo Guzmán. Damit der Gerichtshof etwas macht, denn die Staatsklasse bestraft sie nicht, obwohl offensichtlich ist, dass sie Mörder und Räuber sind.

Wie schätzen Sie die Aussichten der Klage auf Erfolg ein?

Reveles: Falls die Klage akzeptiert wird, wird die mexikanische Regierung erstmal um eine Stellungnahme gebeten. Die Schwierigkeit besteht eben darin, dass es keine Daten gibt. Um Dich an ein internationales Organ zu wenden, brauchst Du genaue Daten. Es gibt aber nur Statistiken und Zeugenaussagen. Diese Zeugenaussagen sind sehr wichtig. Sie reichen aber für eine genaue Untersuchung nicht aus. Es gibt keine Namen, keine DNA-Datenbanken. Außerdem kannst Du einen Fall nur vor den Interamerikanischen Gerichtshof, den internationalen Menschenrechtsgerichtshof in Den Haag oder die Vereinten Nationen bringen, wenn Du die lokalen Instanzen ausgeschöpft hast. Und diese arbeiten sehr langsam. Es gibt Fälle von Verschwundenen, die seit drei Jahren von Instanz zu Instanz geschoben werden. Dann bleibt der Fall an einem falschen Gutachten einer staatlichen Institution hängen, falsch, in dem Sinne, das der Tathergang oder dessen Gründe nicht richtig dargestellt werden.

Gibt es Polizisten, die bestraft wurden?

Reveles: Ja, einige wenige Polizisten sind im Gefängnis. Zu den 270 Leichen, die in Durango auftauchten, gibt es sogar Erklärungen des Präsidenten, in denen er die lokale Polizei bezichtigt, die Menschen zu den Hinrichtungsplätzen geschickt und mitgeholfen zu haben, sie in den Gruben zu vergraben. Deswegen sind 17 lokale Polizisten ins Gefängnis gekommen. So etwas passiert, wenn die Bundesregierung die lokale Polizei beschuldigt und für die Gewalt verantwortlich macht.

Wie schätzen Sie die Entwicklung der Gewalt im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im Juli 2012 ein?

Durán de Huerta: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Gewalt zunehmen wird, je näher die Präsidentschaftswahlen kommen. Denn der „schmutzige Krieg“ zwischen den Parteien fördert die Gewalt. Sie werden sich gegenseitig beschuldigen. Einer wird zu dem anderen sagen: Du Gouverneur bist verantwortlich für die Gewalt, Du Bürgermeister, Du von dieser Partei förderst die Gewalt. Alle Parteien sind in das organisierte Verbrechen involviert. Auch in Bundesstaaten, wo die Opposition regiert, wie in Michoacán. Dort hat sich die Mafiaorganisation „Familia Michoacana“ zwar in verschiedene Segmente von Nachkommen aufgespalten, aber sie macht dort, was sie will. Auch dort, wo die PRI regiert oder die PAN. Alle sind involviert. Die Zivilgesellschaft müsste sich in Netzwerken dagegen organisieren.

Wie reagieren die Familien der Opfer?

Durán de Huerta: Die Familien der Opfer organisieren Proteste, wie die Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Würde von Javier Sicilia. Als der Sohn des Dichters ermordet wurde, prangerte er die Regierung und das ganze korrupte System an. Daraufhin trafen sich einige Angehörige von Opfern mit ihm. Sie fingen an, ihre Geschichten zu erzählen. Sie fordern von der Regierung Aufklärung über die Toten und Gerechtigkeit. Sie verlangen, dass eine Liste der Toten erstellt wird und nachgeforscht wird, wie sie gestorben sind und von wem sie ermordet wurden. Und die Verschwundenen: Wo sind sie?
Aber die Bewegung von Sicilia geht noch weiter. Sie verlangt, dass die Ursachen des organisierten Verbrechens bekämpft werden, die Armut, das Fehlen von Möglichkeiten, von Schulen, die Arbeitslosigkeit. Aber nicht mit Soldaten, sondern durch die Schaffung von Schulen und Möglichkeiten. Denn man kann die Korruption nicht mit Maschinengewehren bekämpfen.

Infokasten:

José Reveles ist seit den 1970er Jahren investigativer Journalist zum Thema Verschwundene und Ermordete in Mexiko. Seine Untersuchungen trugen dazu bei, das Geflecht von Korruption und Komplizenschaft zwischen der Regierung und dem organisierten Verbrechen bekannt zu machen.

Marta Durán de Huerta ist Journalistin, Soziologin, Dozentin und Menschenrechtlerin. Sie forscht und publiziert seit Jahren über indigene Kulturen Mexikos wie auch über die zapatistische Bewegung.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren