Film | Nummer 429 - März 2010

Unpolitische Puzzle-Revolte

Lateinamerikanische Filme auf der 60. Berlinale

Die auf der diesjährigen Berlinale gezeigten Filme aus Lateinamerika waren überwiegend unpolitisch. Während der argentinische Wettbewerbsbeitrag enttäuschte, liefen die sehenswerteren Filme abseits des Rampenlichts in der Sektion Generation.

Olga Burkert

Der Ausnahmezustand in Berlins Mitte ist vorbei. Nach zehn rauschenden Tagen ist nicht nur plötzlich der Schnee von den Straßen verschwunden. Auch Pomp und Glamour, die riesigen Plakate von Filmstars in Lebensgröße und hunderte JournalistInnen, mit ihren im Wind wehenden Akkreditierungsausweisen, haben den Potsdamer Platz wieder verlassen. Zurück bleiben die allgegenwärtigen Berlinale-Taschen, die zum 60. Geburtstag in lila und extra-groß, auch weiterhin das Stadtbild schmücken werden. Und natürlich die Filme.
Das Filmfestival wartete zum diesjährigen Jubiläum mit einem eher glatten Programm auf. Ohne allzu scharfe Ecken oder Kanten, an denen sich KritikerInnen oder Publikum hätten stoßen können. Es gab keine großen Kracher. Im Wettbewerb waren mit Roman Polanski und Martin Scorsese nur zwei der ganz Großen aus dem internationalen Filmbusiness vertreten. Es gab auch kein allzu experimentelles AutorInnenkino. Und wie immer versteckten sich in der Masse an Filmen auch einige Perlen, die es neben den Blockbustern hoffentlich auch in die Kinos schaffen werden.
Inhaltlich standen tragische Einzelschicksale, verkrachte Existenzen, schwierige Kindheiten und der mikroskopische Blick auf zwischenmenschliche Beziehungen im Vordergrund.
Die lateinamerikanischen Beiträge der diesjährigen Filmfestspiele repräsentierten eine extrem unpolitische Auswahl. Die meisten der Filme konzentrierten sich auf ihre ProtagonistInnen, blieben filmisch und erzählerisch immer dicht bei deren Regungen, Gesichtern und Gefühlen. Nur selten wurde von einer Erzählung einer privaten Geschichte abstrahiert, um über gesamtgesellschaftliche Probleme oder soziale Missstände zu sprechen. Die Devise schien zu sein: lieber die Revolte im Alltag als die Reflexion über dahinter stehende Ursachen oder gar Lösungsansätze.
Paradebeispiel hierfür war der einzige Wettbewerbsbeitrag aus Lateinamerika: Der argentinische Film Rompecabezas handelt von der 50-jährigen Hausfrau María del Carmen (María Onetto), die einen perfekt organisierten Haushalt managt. Eingeschüchtert und auch etwas gelangweilt bedient sie ihren Mann und ihre zwei erwachsenen Söhne. In der langen Eingangsszene sieht man María del Carmen Unmengen von Essen für ein größeres Familienfest zubereiten. Während die ganze Familie sich amüsiert, ist sie damit beschäftigt, Teller nachzufüllen oder benutztes Geschirr in die Küche zu räumen. Zum krönenden Abschluss bringt sie die Geburtstagstorte herein. Schließlich pustet sie selber die Kerzen aus. Es ist ihr eigener Geburtstag, für den sie stundenlang in der Küche stand.
Am Ende des Tages, als alle Gäste bereits gegangen sind, findet María del Carmen ein Puzzle unter ihren Geschenken. Und sie entdeckt, dass sie eine besondere Gabe hat: Wie von Zauberhand fügt sie die 1.000 Einzelteile in Windeseile zum großen Bild zusammen. Natalia Smirnoff benutzt in ihrem Debütfilm etwas so Unbedeutendes wie das Puzzlespiel als Metapher dafür, dass aus den noch so eingerosteten Alltagsstrukturen ein Weg heraus gefunden werden kann.
María del Carmen beginnt, sich für mehr zu interessieren, als für die Versorgung ihrer Männer. Sie beginnt, eigene Entscheidungen zu treffen und zu tun, wozu sie Lust hat. Im Laufe des Films bricht sie aus den angestammten Rollenverhältnissen in ihrer Familie aus. Und sie lernt einen anderen Mann kennen. Jedoch bleibt María del Carmens „Revolte“, wenn man es denn so nennen mag, auf dieses kleine Ausscheren aus dem Alltag beschränkt.
So weit, so langweilig. Und Smirnoff meint es tatsächlich ernst. Entgegen möglicher Erwartungen dreht sie 90 Minuten über das Puzzeln. Auch wenn eine Komödie über eine 50-jährige Frau eher eine Seltenheit ist. Anderthalb Stunden Ravensburger-Werbung um die Quintessenz zu erleben, dass sich die Protagonistin soweit emanzipiert, dass sie nicht mehr sofort den Lieblingskäse ihres Mannes nachkauft, das gehört nun wirklich nicht in den Wettbewerb der Berlinale.
Daneben wirkt die Idee von Anahí Berneri zu ihrem Spielfilm Por tu culpa geradezu wie sozialer Sprengstoff. Die junge Mutter Julieta (Erica Rivas) kämpft, getrennt von ihrem Mann lebend, darum, den Alltag zwischen Arbeit, Haushalt und ihren zwei kleinen Söhnen in den Griff zu bekommen. Sie ist heillos überfordert, all den an sie gestellten Anforderungen zu entsprechen.
Als ihr jüngster Sohn Teo (Zenón Galán) sich beim Spielen verletzt, meint der Arzt im Krankenhaus einen Fall von Kindesmisshandlung zu erkennen. Julieta hat nicht mehr die Kraft, um überhaupt noch jemandem zu widersprechen und lässt wie in Schockstarre die Befragungen der Ärzte und der Polizei über sich ergehen. Ihre mühsam zusammen gehaltene Welt droht zu zerbrechen.
Dieser Plot hätte ein guter Ausgangspunkt sein können, um über das Spannungsfeld vom Muttersein und dem Berufsleben in der argentinischen Gesellschaft (oder auch anderswo auf der Welt) zu reflektieren. Leider verpasst es auch Berneri von der privaten Ebene zu abstrahieren und das Problem in einen größeren Kontext einzuordnen.
Im Gegenteil beschränkt sich die Regisseurin darauf, Julietas Ringen um Haltung mikroskopisch genau darzustellen. Die Kamera bleibt den ganzen Film über im wahrsten Sinne des Wortes hautnah an der Hauptdarstellerin dran, zeigt in Detailaufnahmen Haut, Haare, Falten oder eine kleine Verletzung an der Oberlippe. Auch der reduzierte Ton lässt Julietas Beklemmung deutlich hervor treten. Oft ist die einzige Geräuschkulisse Julietas Atem, im nächsten Moment kontrastiert von dem Geschrei der Kinder und dem lauten Plärren des Fernsehers. Nicht nur Julieta, auch die ZuschauerInnen müssen mehr als einmal im Film die Zähne aufeinander beißen, um weiter durchzuhalten.
Die spanische Produktion Fin des argentinischen Regisseurs Luis Sampieri verfolgt ein ähnlich reduziertes Konzept. Der Film konzentriert sich vollends auf seine drei HauptdarstellerInnen, studiert ihre Gesichter in langen Einstellungen und verzichtet weitgehend auf Musik. Die Handlung spielt sich, ähnlich wie in Por tu culpa, innerhalb eines einzigen Tages ab.
Iker, Ramia und Ana (Irene Garres) haben sich über das Internet kennen gelernt und brechen bei ihrem ersten und einzigen Treffen zu einer unbestimmten Reise ins Umland von Barcelona auf. Die drei Jugendlichen sprechen nicht viel miteinander. Iker (Sergio Gibert) ist wütend, weil er sich durch Ramia (Ramia Chaoui) getäuscht sieht, da sie ein Mädchen und Muslimin ist. Ansonsten sind alle darauf bedacht, nichts von sich preis zu geben. Klar ist nur: Dieses Treffen soll auch ihr letztes sein.
Die nächsten anderthalb Stunden sind zähes Warten auf den erlösenden Moment. Sampieri verzichtet darauf, die Emotionen seiner ProtagonistInnen zu zeigen. Und so bleibt es bis zum Schluss unverständlich, was die drei zu dem letzten Schritt treibt. Sowohl in Fin als auch in Por tu culpa erfährt man nichts über das (gesellschaftliche) Umfeld, die äußeren Umstände oder Beweggründe der handelnden Personen. So bleiben in beiden Fällen nach dem Abspann große Fragezeichen und auch ein bisschen Langeweile zurück.
Vollends ärgerlich wird es dann in dem brasilianischen Film Bróder. Jeferson Des Debütfilm ist zwar alles andere als eine langsame Studie der drei jugendlichen Hauptdarsteller. Im Gegenteil wird einem vor lauter schnellen Schnitten, rasanten Kamerafahrten und den flinken, meist schmutzigen Dialogen fast schwindelig. So braucht es eine Weile, um in die Geschichte einzusteigen. Es geht um drei Freunde, die nach Jahren in der Favela, aus der sie stammen, ein Wiedersehen feiern. Macu wohnt als einziger von ihnen noch dort. Um sich in der Armut zu behaupten, rutscht er immer tiefer in kriminelle Machenschaften hinein. Pibe hingegen hat Verantwortung übernommen, seine schwangere Freundin geheiratet und ist mit ihr weggezogen. Der Dritte im Bunde, Jaiminho, wurde als Profifußballer entdeckt und verdient mittlerweile in der spanischen Liga gutes Geld.
Dieser nicht sehr originelle Plot wird durch einen vorhersehbaren Spannungsbogen ergänzt. Gleich die künstlich in die Länge gezogene Wiedersehens-Szene macht die drei Themen deutlich, die das Leben der drei „Manos“ (umgangssprachlich für hermao, Bruder) bestimmen: Frauen, Alkohol und Gewalt. Und natürlich die alles überschattende Favela, die ihren BewohnerInnen nur wenig Handlungsspielraum lässt.
Abwechselnd bewahrt der eine Freund den nächsten vor einer Dummheit, also vor einer Schlägerei. Dadurch soll wohl betont werden, wie nahe sich die Jungs immer noch stehen und wie wichtig Freundschaft in diesem Großstadtdschungel ist, in dem nur der Stärkere überleben kann. Aber vor der letzten großen Dummheit können Pibe und Jaiminho Macu nicht bewahren: Er hat sich schon zu tief in die Machenschaften der Mafia verstrickt.
Übrig bleibt ein Film voll dicker Eier, harter Jungs und saufender oder toter Väter. Frauen kommen nur am Rande vor, als geschwängerte, heulende Ex-Freundinnen, sorgenvolle Mütter oder Stripperinnen und Prostituierte. Weiß sind nur die Polizisten oder die ganz großen Gangster, die die Fäden der Verbrechen in Händen halten und das wahre Geld in den Taschen haben. Ein Favela-Klischee jagt hier das andere. Eine kritische Reflexion über Geschlechter- oder Machtverhältnisse? Leider Fehlanzeige. Und als wäre damit nicht genug, passiert am Ende auch noch das, was passieren muss.
Es scheint, dass nur die außerhalb des Rampenlichts der Filmfestspiele stehende Sektion Generation sich etwas getraut hat. Hier wurden einige wirklich sehenswerte, gut gemachte Filme mit politischem Anspruch aus dem aktuellen lateinamerikanischen Filmschaffen herausgepickt. Neben dem Eröffnungsfilm der Kindersektion Alamar war im Generationen-Programm zum Beispiel der Film Retratos en un mar de mentiras von Carlos Gaviria zu sehen, der bewegende, aber nie klischeehafte Bilder für das Schicksal der rund vier Millionen intern Vertriebenen des kolumbianischen Konflikts findet. Auch der zweite kolumbianische Berlinale-Beitrag, El vuelco del cangrejo, der im Forum gezeigt wurde (siehe Besprechungen in LN 428), ist lobenswert zu erwähnen.
Ebenfalls in der Generation 14plus wurde der argentinisch-mexikanische Film Te extraño gezeigt. Aus der Perspektive eines Heranwachsenden wird hierin ein Blick auf die letzte Militärdiktatur in Argentinien geworfen. Der 15-jährige Javier (Fermín Volcoff) lebt mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder im Buenos Aires der 1970er Jahre. Gerade beginnt er seine politischen und sexuellen Neigungen zu entdecken. Nach dem Putsch der Militärs wird sein älterer Bruder Adrián (Martín Slipak) in der bewaffneten Gruppe Montoneros aktiv. Um sie herum verlassen immer mehr Menschen das Land oder verschwinden spurlos. Als Adrián von einem Treffen nicht mehr zurück kommt, schicken Javis Eltern ihn Hals über Kopf ins Exil zum Onkel nach Mexiko. Völlig aus seiner gewohnten Umgebung gerissen, versucht Javi sich dort zurecht zu finden und etwas über den Verbleib seines Bruders zu erfahren.
Auf einfühlsame Weise zeichnet der Regisseur Fabián Hofman die verschiedenen Herangehensweisen der Familienmitglieder nach, mit einem plötzlichen Verlust dieser Art umgehen zu müssen. Das Thema ist zwar nicht besonders neu und wurde schon in unzähligen argentinischen Produktionen behandelt. Doch die Perspektive des Bruders eines Verschwundenen – und nicht der Mütter oder Söhne und Töchter – hingegen schon. Te extraño erzählt vor diesem Hintergrund auch die Geschichte von einem Heranwachsenden, der lernen muss, seinen eigenen Weg zu finden. So konzentriert sich der Film zwar auch auf die persönliche Entwicklung der Hauptperson, jedoch in Rückkoppelung zu den gesellschaftlichen und politischen Ereignissen, in denen diese stattfindet.
Neben diesen Filmen stach zudem die mexikanische Produktion Revolución aus dem Lateinamerika-Programm der Berlinale heraus. Schon allein vom filmischen Ansatz her unterscheidet diese sich von den übrigen Beiträgen. Anlässlich des 100. Jahrestages der Mexikanischen Revolution, wurden zehn namhafte FilmemacherInnen aufgefordert, aus heutiger Sicht ihre Assoziationen mit der Revolution in jeweils einem Kurzfilm darzulegen. Das Produkt ist so vielfältig wie ambivalent.
Einige der Episoden, wie zum Beispiel der Beitrag The Welcome Ceremony von Fernando Eimbcke, überzeugten durch ihre klare Bildsprache oder einen aktuellen Bezug zu Problemen der heutigen Gesellschaft. So thematisierte Mariana Chenillo in ihrem gleichermaßen witzigen wie eindrücklichen Film The Estate Store den Kampf um angemessenen Lohn einer Angestellten in einer riesigen Supermarktkette. Andere Episoden wiederum rutschten allzu sehr ins Kitschige ab. In Beautiful & Beloved von Patricia Riggen zum Beispiel, in der Immigrantentochter Elena ihren toten Vater aus den USA wieder zurück nach Mexiko bringt, um ihn dort zu beerdigen. In der Schlussszene ihres Kurzfilms hält Elena wortwörtlich die mexikanische Erde in Händen und findet so zu ihren Wurzeln. Eindeutiger kann Filmsprache nicht sein.
Bei wieder anderen Beiträgen von Revolución entstand der Eindruck, dass eher die bekannten Namen der Filmemacher als Zugpferde für die gesamte Produktion gedient haben, als dass ein künstlerischer Anspruch bei der Auswahl im Vordergrund stand. Die mexikanischen Superstars Diego Luna und Gael García Bernal haben Revolución koproduziert – durch besonders herausragende Beiträge glänzten sie jedoch nicht.
Diese Defizite wurden glücklicherweise von den politischeren Episoden von Rodrigo Plá und Carlos Reygadas wieder ausgeglichen. In dieser Heterogenität ist der Episodenfilm wahrscheinlich schon wieder ein gutes Spiegelbild der aktuellen mexikanischen Filmlandschaft.

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