Guatemala | Nummer 427 - Januar 2010

„Unser Kampf richtet sich nicht nach dem Wahlkalender“

Interview mit Roberto Madriz von der Nationalen Kampffront (FNL) in Guatemala

Die Nationale Kampffront FNL mobilisiert als Dachverband sozialer Bewegungen für die Rechte der armen Bevölkerungsmehrheit. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit einem ihrer Repräsentanten über ihre Erfolge, die Repression gegen soziale AktivistInnen und den Sinn von Wahlen als Mittel für gesellschaftliche Veränderung.

Interview: Manuel Burkhardt

Wie Euer Name (siehe Fotokasten) verrät, widmet Ihr Euch der Verteidigung der öffentlichen Dienstleistungen und der Naturressourcen. Konntet Ihr dabei schon Erfolge erzielen?
Ja, obwohl wir ja noch eine sehr junge Organisation sind. Zum Beispiel ist es uns gelungen, das Gesetz über Konzessionen aufzuhalten. Dieses Gesetz sah vor, für einen Zeitraum von 50 Jahren, der immer wieder um weitere 50 verlängert werden kann, für alles Mögliche private Konzessionen zu vergeben, was bisher in staatlicher Hand war: Krankenhäuser, Trinkwasserquellen, Schulen, die Post, Brücken, Flüsse, Häfen, einfach alles Vorstellbare.

Wie ist Euch das gelungen?
Zum einen durch den Druck von der Straße. Es gab gigantische Demonstrationen. Zum anderen mit einem Alternativvorschlag, den wir gemeinsam mit der Universität San Carlos und durch Volksbefragungen ausgearbeitet haben. Diese Universität hat per Verfassung das Recht, dem Kongress Gesetzesvorschläge zu unterbreiten. So mussten sich die Abgeordneten zwischen zwei konträren Gesetzesvorschlägen entscheiden. Dem ursprünglichen, den der UnternehmerInnensektor ausgearbeitet hatte, und dem der sozialen Organisationen. So kam es zu einem technischen Unentschieden, keiner der Vorschläge fand eine Mehrheit.

Die FNL fordert die Verstaatlichung beziehungsweise die Nichtprivatisierung der grundlegenden Dienstleistungen und Ressourcen. Vertraut Ihr also dem guatemaltekischen Staat?
Nein. Nehmen wir zum Beispiel den Energiesektor, der sich momentan in einem Prozess der vollständigen Privatisierung befindet. Bereits vor zehn Jahren wurde die Verteilung privatisiert und heute ist die Produktion an der Reihe. Hier wollen wir eine Verstaatlichung, aber parallel dazu sollen auf gesetzlicher Grundlage munizipale Unternehmen geschaffen werden, die fähig sind, die Energie in den einzelnen Mikroregionen zu verwalten. Per Gesetz soll in diesen Unternehmen das Mitbestimmungsrecht der Bevölkerung festgeschrieben werden, zum Beispiel bei Entscheidungen über Investitionen. Zudem sollen die Organisationen der Bevölkerung wirtschaftliche Kontrollfunktionen bei der finanziellen und technischen Steuerung dieser Unternehmen ausüben. Nur so können wir Transparenz und Effizienz bei den Energieunternehmen sicherstellen und dass sie wirklich den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechend agieren.

Euer Kampf ist gefährlich. In den letzten Jahren sind 38 Führungspersonen von sozialen Organisationen ermordet wurden, 20 davon haben der FLN angehört.
Inzwischen sind es sogar 23 compañeros. Und das in weniger als fünf Jahren.

Wer hat sie getötet?
Das ist schwierig zu sagen, da in Guatemala viele klandestine Gruppen operieren. So viele, dass die UNO vor zwei Jahren die Untersuchungskommission gegen Straflosigkeit in Guatemala, die CICI, gegründet hat. Sie konnte die Existenz von Gruppen nachweisen, die parallel zur Macht agieren, die sicarios. Auch konnte die CICI nachweisen, dass diese sicarios oft in Verbindung mit Unternehmen stehen, die Probleme mit sozialen Bewegungen haben. Allerdings ist es oft schwer, so konkrete Beweise vorzulegen, dass sie für eine Verurteilung reichen. In der Regel herrscht Straflosigkeit.

Kannst Du ein konkretes Beispiel geben, wie Straflosigkeit in Guatemala funktioniert?
Unser compañero Rosalio Lorenzo ist an Ostern auf der Straße erschossen worden. Seine Frau hat uns erzählt, dass ein Mann auf einem Pick-Up die Schüsse abgegeben hat. Rosalio bekam 13 Kugeln in den Rücken, alle so präzise, dass sie nur Millimeter auseinander lagen. Dabei hat der Pick-Up überhaupt nicht angehalten. Es ist klar, dass es sich um einen professionellen Schützen handeln muss. Doch was sagt der Öffentlichkeitsminister? Es sei ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen. Sicherlich hätte Rosalio ein Abenteuer mit der Frau eines Anderen gehabt und dieser Andere habe sich rächen wollen. Das ist lächerlich. Und es gibt unzählige andere ähnliche Fälle.

2007 gewann mit Álvaro Colóm ein Präsidentschaftskandidat, der sich als Sozialdemokrat bezeichnet. Hat sich im Land dadurch was verändert?
Ja, es hat sich viel verändert. Zum Schlechteren. Colóm nennt sich Sozialdemokarat, aber man sollte daran denken, dass sich jemand auch dann als Adler bezeichnen kann, wenn er keine einzige Feder hat. Zwischen Colóms Diskurs und seinem Handeln besteht ein Widerspruch. Er sagt, dass er gegen den Hunger vorgeht, privatisiert aber den Gesundheitssektor. Er spricht vom Kampf gegen die Energiekrise, privatisiert aber gleichzeitig den Energiesektor. Die beste Definition über diesen Widerspruch habe ich von einem einfachen Campesino gehört. Er sagte, Colóms Gerede und sein Handeln seien wie sein Verhältnis zu seiner Schwiegermutter: Total entgegengesetzt, absolut verschieden, ohne Chance auf Versöhnung.

Wie erfolgreich ist das Programm für sozialen Zusammenhalt, das Colóms Regierung gestartet hat?
Der Erfolg oder das Scheitern eines Programms muss daran gemessen werden, welche Verbesserungen es für die Bevölkerung bringt. Dieses Programm besteht in der massiven Verteilung von Almosen, vorgenommen von einer Person, die durch niemanden gewählt wurde, nämlich der Frau des Präsidenten. Sie zieht durch die Dörfer und verteilt Lebensmittel und Bildungsgutscheine. Und zwar an Leute, die der Partei ihres Mannes nahe stehen. Es handelt sich um ein klientelistisches Programm, das in keiner Weise die strukturelle Ungerechtigkeit in Guatemala bekämpft. Es vertieft die Probleme der Abhängigkeit und der Exklusion sogar noch.

Ein Hauptproblem für den guatemaltekischen Staat ist, dass er über das niedrigste Steueraufkommen in Lateinamerika verfügt. Colóm wollte dieses Problem angehen, konnte aber noch keine Steuerreform erreichen. Warum ist das so schwierig?
Die wirklich Mächtigen in Guatemala, die BankerInnen, GroßunternehmerInnen, Industrielle und Großhändler, sind Steuerverweigerer und -verweigerinnen par excellence. Auch in punkto Steuern herrscht in Guatemala Straflosigkeit. Und diese Sektoren haben großen Einfluss. 2004 machte ein Mitarbeiter des Finanzministeriums eine Liste öffentlich, die zeigte, dass die großen Unternehmen 2003 deutlich mehr Steuerzahlung vermieden hatten als die Gesamtsumme der Steuereinnahmen betrug. Es kam zu einem öffentlichen Skandal. Daraufhin erließ der Kongress ein Gesetz, das künftig die Veröffentlichung der Namen der Steuerverweigerer und -verweigerinnen verbietet. So wurde das Problem der Steuerverweigerung gelöst. Colóm ist in diesen Tagen dabei, seinen Vorschlag für eine Steuerreform vorzustellen. Falls wir diesen gut finden – und das bedeutet, dass er auch eine andere Verteilung der Einnahmen vorsehen muss – werden wir Colóm darin auch unterstützen, trotz aller Differenzen, die wir mit ihm haben.

In vielen sozialen Bewegungen ist die Frage nach Teilnahme an Wahlen sehr umstritten. Wie verhält sich die FLN dazu?
Wir sind absolut sicher, dass die Teilnahme an Wahlen nicht zu einer Machtübernahme führt. Sie führt nur zu einem kleinen Stückchen Teilnahme am bürokratischen Apparat des Staates. Die ökonomische Macht bleibt weiterhin in den Händen derjenigen, die hier seit 500 Jahren das Sagen haben, egal wer die Wahlen gewinnt. Das gleiche gilt für die militärische und die mediale, ideologische Macht.

Dennoch ist die FLN Teil der Wahlallianz zwischen der Partei Revolutionäre Nationale Guatemaltekische Union URNG und der Breiten Bewegung der Linken MAÍZ. Wie passt das zusammen?
Der Wahlprozess ist weder der einzige und schon gar nicht der wichtigste Schützengraben im Kampf der Bevölkerung, aber dennoch einer von mehreren, den man besetzen muss. Das Zusammenspiel aller Schützengräben sollte die Bevölkerung zu einer Entwicklung führen, die schließlich in der Einberufung einer Volksmacht (poder popular) mündet. Die Bevölkerung muss anfangen, sich selbst als Machtakteur zu sehen und nicht als passive EmpfängerInnen. Aber das ist ein Prozess. Bis dahin haben wir beschlossen, neben unseren anderen Aktivitäten auch Teil des Bündnisses der sozialen Bewegungen MAÍZ zu sein. Wir haben allerdings nicht vor eine Partei zu werden. Wir sind ein revolutionäres Projekt, das für die Bevölkerung kämpft. Unser Kampf richtet sich nicht nach dem Wahlkalender, sondern nach den Aggressionen des Neoliberalismus.

URNG-MAÍZ hat bei den Wahlen 2007 nur 2,1 Prozent der Stimmen erhalten. Warum so wenige?
In erster Linie, weil Wahlen in Guatemala ein gedeichselter Prozess sind. Er wird durch Propaganda und nicht durch Debatten über Ideen bestimmt. Die URNG hat zu wenig Geld, um im Radio oder Fernsehen für sich zu werben oder in großem Stil zu plakatieren. Stattdessen muss sie die Menschen im Gespräch überzeugen. Die Politiker, die massenhaft Geschenke verteilen können, haben es einfacher.

Und in zweiter Linie?
In Guatemala gibt es eine Tradition des Wahlbetrugs. Im Departamento Jalapa zum Beispiel hat die URNG-MAÍZ ca. 8700 Stimmen bekommen, gleichzeitig gab es über 5000 ungültige Stimmen. Ich bin selbst hin gefahren, um mich zu überzeugen, da es die compañeros dort nicht glauben konnten. Bei 80 Prozent der ungültigen Stimmzettel war die URNG-MAÌZ angekreuzt. Zusätzlich aber waren alle Stimmzettel ungültig gemacht und zwar immer in der gleichen Ecke, mit dem gleichen Stift, in der gleichen Form. Außerdem haben 300 Stimmzettel ganz gefehlt. So etwas passiert die ganze Zeit. Es gab Wahllokale, in denen nicht einmal die Stimme registriert wurde, die unser lokaler Kandidat abgegeben hat.

Verleiht Ihr den Wahlen nicht eine gewisse Legitimation, wenn Ihr trotzdem an ihnen teilnehmt?
Ja, das ist ein Dilemma, das wir nicht gelöst haben. Wir stützen mit unserer Partizipation ein korruptes System. Darüber diskutieren wir viel. Aber noch sehen wir keinen anderen Weg, wenn wir den Schützengraben der Wahlen besetzen wollen.

Roberto Madriz
gehört zur Politischen Kommission der Nationalen Kampffront für die Verteidigung der öffentlichen Dienstleistungen und der Naturressourcen (FNL) in Guatemala. Die FNL wurde 2004 als Dachorganisationen von zwölf hauptsächlich gewerkschaftlichen Gruppen gegründet, um gemeinsam gegen die Verabschiedung des Freihandelsabkommens mit den USA sowie das geplante Gesetz über Konzessionen (siehe Interview) zu kämpfen. Inzwischen umfasst die FNL 186 Organisationen, darunter Gewerkschaften, Studierendenkollektive, Indigenen-, Frauen- und LandarbeiterInnenorganisationen. Mehr Information: http://estamosdefrente.blogspot.com

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