Kolumbien | Nummer 407 - Mai 2008

„Uribe hat die Partie noch lange nicht gewonnen“

Interview mit Iván Cepeda von der Bewegung der Opfer von Staatsverbrechen

Nachdem am 4. Februar regierungsnahe Kräfte eine Massendemonstration gegen die FARC-Guerilla organisiert hatten, um der Regierung im „Kampf gegen den Terror“ den Rücken zu stärken, demonstrierten am 6. März Hunderttausende in Bogotá und über einhundert weiteren Orten weltweit gegen Verbrechen des kolumbianischen Staates und des Paramilitarismus. Die Protestkundgebungen wurden vom Movimiento de Víctimas de Crímenes de Estado (Movice) organisiert. Den Demonstrationen folgte die Repression: Soziale Organisationen und Menschenrechtsgruppen wurden Opfer einer neuen paramilitaerischen Offensive. Die LN sprachen mit Iván Cepeda, dem Sprecher von Movice.

Kristofer Lengert, Agapito Robles

Was ist Movice und warum habt Ihr am 6.März demonstriert?
Das Movimiento de Víctimas de Crímenes de Estado ist eine Bewegung zum Kampf gegen die Straflosigkeit. Das heißt, wir sind ein Zusammenschluss von vielen verschiedenen Organisationen: Bauernorganisationen, Indígena- und afrokolumbianische Gemeinden, Gewerkschaften, politische Parteien, Studierende und Nichtregierungsorganisationen. Uns ist gemein, dass wir Opfer von Verbrechen des kolumbianischen Staates sind. In Kolumbien gibt es systematische Morde und enge Verbindungen zwischen staatlichen Akteuren und paramilitärischen Strukturen. Es wurden Gesetze verabschiedet, die die Menschenrechte systematisch verletzen und eine Atmosphäre der Straflosigkeit geschaffen haben. Unser Anliegen ist es, das öffentlich auszusprechen und dagegen anzukämpfen. Die Demonstrationen vom 6. März haben wir seit Oktober des letzten Jahres vorbereitet. Sie sollten das IV. landesweite Treffen der Opferbewegung einleiten und unseren Positionen Öffentlichkeit geben.

War der 6. März das politische Gegenstück zur Demonstration gegen die FARC am 4. Februar?
Die FARC hatten gegen Ende des letzten Jahres mit einer Serie von sehr zweifelhaften Aktionen in Bezug auf die Entführten in ihrer Gewalt auf sich aufmerksam gemacht. Zum Beispiel das ganze hin und her mit der Freilassung einiger Geiseln und die Meldung vom Tod der elf Abgeordneten aus Valle de Cauca, die seit fünf Jahren gefangen waren. Diese Aktionen schürten Verunsicherung und Empörung.
Doch der 4. Februar wurde als Ereignis medial geschaffen und politisch gesteuert. Regierungsnahe Sektoren und die politische Rechte haben die berechtigte Empörung der Menschen aufgepeitscht, um diese zu instrumentalisieren. Hinter ihrem Slogan: „Nein zur FARC und Nein zum Terrorismus“, stand vor allem die Intention einen gesellschaftlichen Konsens zu schaffen, der die autoritäre Anti-Terrorpolitik der Regierung unterstützt.
Die Demonstration vom 4. Februar erhielt von der Regierung jede nur denkbare Unterstützung; zunächst in Form öffentlicher Verlautbarungen von Regierungsvertretern. Schließlich wurde der gesamte Staatsapparat mobilisiert, um das Ereignis zu unterstützen. Die Behörden und Ministerien, einschließlich der staatlichen öffentlichen Einrichtungen und staatseigenen Betriebe schickten ihre Beschäftigten am 4. Februar zur Demonstration.
Tatsächlich war die Demonstration vom 4. Februar gigantisch. Doch was medial präsentiert wurde, war sehr einseitig. Für uns war es wichtig aufzuzeigen, dass es andere Formen der Gewalt gibt und dass es nicht ausreicht, eindimensional die Gewalt der Guerilla zu verurteilen. Um uns in dieser Situation Gehör zu verschaffen, war es notwendig alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenzurufen, die Position für die Opfer beziehen: Für die Opfer von Zwangsvertreibungen. Für die Familien der Ermordeten. Für die Verschwundenen.

Wie reagierte die Regierung darauf?
Die sagte nicht nur, dass sie nicht einverstanden sei, sondern einer der wichtigsten Berater von Präsident Uribe, José Obdulio Gaviria, beschuldigte uns im Vorfeld der Demonstration in einer Serie von öffentlichen Erklärungen, wir seien Angehörige der FARC.
Am 3. März, nach dem Bombenangriff auf das Guerillacamp, bei dem der FARC-Verhandlungsführer Raul Reyes getötet wurde, erklärte ein Polizeisprecher, sie hätten auf den geborgenen und wunderbarer Weise noch völlig intakten Datenspeichern der FARC Beweise dafür gefunden, dass unsere Demonstrationen mit der Guerilla in Verbindung stehen würde.
Im Allgemeinen unternahm die Regierung viel, um haltlose Anschuldigungen gegen uns in Umlauf zu bringen und um die Bewegung und unsere Demonstrationen zu stigmatisieren. Sie versuchte die Menschen einzuschüchtern. Sie versuchte diejenigen, die gegen den Paramilitarismus und die Gewalt des Staates protestieren, als Guerilleros darzustellen. Dabei hatten wir unseren Standpunkt stets klar gemacht: Wir lehnen jeden Einmischungsversuch seitens der FARC ab. Wir erklärten öffentlich, dass wir, Opfer staatlicher Verbrechen, auch die Entführungspraxis der FARC verurteilen. Es ist nicht wahr, dass wir mit der Guerilla sympathisieren, wir haben ihr gegenüber sehr kritische und ablehnende Positionen.
Was passierte dann am 6. März?
Der 6. März war für uns ein großer Erfolg. Nicht nur, weil viele hunderttausend Menschen in 102 Städten weltweit auf die Straße gingen und ein großes gesellschaftliches Spektrum verschiedener politischer und sozialer Kräfte die Demonstrationen unterstützte. Auch der Versuch der Regierung, ihre einseitige Lektüre der politischen Lage durchzusetzen, konnten wir verhindern.
Nach dem 6. März wird es sehr schwer sein zu behaupten, es gebe keinen Paramilitarismus mehr. Die Mehrheit der Bevölkerung wird dem nicht glauben. Es wird schwer sein zu behaupten, der Staat sei für die Menschenrechtsverletzungen an der Bevölkerung nicht verantwortlich und der einzige Gewaltakteur im Land sei die Guerilla.
Doch man muss auch noch ein anderes, bitteres Resumee ziehen: Seit dem 23. Februar wurden sechs Gewerkschafter aus dem Unterstützerkreis der Demonstration ermordet, zwei von ihnen waren Organisatoren der Demonstration. Mehr als 50 Personen haben mittlerweile Drohungen erhalten, AktivistInnen der Opferbewegung wurden von Polizisten, Militärs oder Paramilitärs verfolgt. Es gab Attentate, Überfälle und andere Übergriffe. In acht verschiedenen Departments wurden die sozialen Organisationen und Menschenrechtsgruppen im Zusammenhang mit dem 6. März Opfer von Angriffen. Das ganze zeigt, dass der 6. März politisch und sozial auch von unseren Gegnern sehr ernst genommen wurde. Sie bekamen Angst und reagierten in der einzigen Sprache, die sie sprechen.

Angesichts dieser starken Repression, was konnte durch die Massenmobilisierung der Opferbewegung erreicht werden?
Wir befinden uns in einer Phase, in der der Uribismo sein autoritäres politisches, soziales und wirtschaftliches Projekt durchsetzt und den Paramilitarismus darin integriert. Es sei denn, es gelingt den sozialen und demokratischen Kräften des Landes die eigenen Spielräume zu verteidigen und neue zu öffnen. Der 6. März hat einen entscheidenden Beitrag erbracht: Wir konnten zeigen, dass wir, die sozialen Bewegungen Kolumbiens, obgleich wir einen hohen Preis dafür zahlen, in der Lage sind, öffentlich gegen das autoritäre Staatsmodell von Uribe machtvoll Position zu beziehen und eine Alternative zu präsentieren. Nach dem 4.Februar hätte man denken können, Uribe habe die totale Unterstützung der Bevölkerung und 100 Prozent Zustimmung für sein Projekt. Der 6. März hat das relativiert. Wahr ist, dass der Präsident einen großen Rückhalt hat, dass die Paramilitärs nach wie vor sehr mächtig sind. Aber die sozialen Organisationen sind immer noch da. Die Partie ist für Uribe noch lange nicht gewonnen.

Wie geht es jetzt weiter?
Wir werden versuchen mit dieser Mobilisierung einen politischen Prozess in Bewegung zu setzen. Es reicht nicht aus, dass die Leute auf die Straße gehen, es ist notwendig, dass wir uns politisch durchsetzen. Wir wollen Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer.
Unser Konzept dieser Begriffe ist sehr weitreichend. Wir kämpfen nicht nur dafür, dass die Wahrheit der Opfer gehört wird und sie individuell materiell entschädigt werden. Wir begreifen das Ziel als Wiedergutmachung für die kolumbianische Gesellschaft. Wir wollen einen gesellschaftlichen Konsens für Frieden und Demokratie. Wir fragen, wie wäre Kolumbien, wenn es keinen Paramilitarismus gäbe? Wenn es keine Straflosigkeit gäbe? Wenn es eine gerechte Landverteilung gäbe? Wenn das Land politisch, sozial und wirtschaftlich demokratisch wäre?

Paramilitärs haben sich durch Vertreibungen mehrere Millionen Hektar Land angeeignet. Was passiert mit dem geraubten Land?
Wenn von Straflosigkeit die Rede ist, dann denkt man meistens einfach nur daran, dass es an einer Bestrafung für bestimmte Verbrechen fehlt. In Kolumbien gibt es nicht nur dieses Phänomen.
Es existiert zudem eine Legalität von Verbrechen: Ein Zusammenspiel von Institutionen des Staates und bestimmten Mechanismen, die Gewalt legitimieren und den Nutzen rechtfertigen, den manche daraus ziehen.Die Landfrage ist das beste Beispiel. Es gibt eine Reihe von Gesetzen, die den Landraub der Paramilitärs legalisieren. Viele Großgrundbesitzer haben von der paramilitärischen Gewalt profitiert und sich Ländereien angeeignet, die vollkommen legal in ihrem Besitz verbleiben werden. Uns geht es nicht nur darum, dass die Mörder bestraft werden, sondern wir wollen die wirtschaftlichen und politischen Strukturen aufdecken, die den Paramilitarismus ermöglicht haben und von ihm profitieren.

Welche Funktion hat der Paramilitarismus innerhalb des Staates?
Historisch betrachtet erfüllt der Paramilitarismus im Staat drei Funktionen: erstens die Aufstandsbekämpfung, als Teil einer staatlichen Strategie zur Bekämpfung der Guerilla. Zweitens lässt sich mit Paramilitarismus Reichtum akkumulieren: Paramilitärs schufen durch Massenvertreibungen und Angriffe auf die Gewerkschaftsbewegung Bedingungen, die nationalen Eliten und transnationalen Unternehmen die Ausbeutung von Rohstoffen und Arbeitskraft ermöglichten. Drittens ist der Paramilitarismus ein Mittel, soziale Widerstände mit Gewalt zu vernichten. 20 Jahre lang wurden diese drei Aufgaben vom Paramilitarismus erfüllt. Aber insbesondere in der Zeit von 1997 bis 2003 gab es eine Offensive, in der die Paramilitärs und ihre Verbündeten weite Teile des kolumbianischen Territoriums unter Kontrolle brachten.
Dann kam der so genannte Friedensschluss zwischen Paramilitärs und der Regierung, der ihren Demobilisierungsprozess eröffnete. Es gibt mittlerweile über 30.000 demobilisierte Paramilitärs. Offiziell spricht man von mehr als 3.000 Dissidenten, welche nach wie vor mit Gewalt und Terror gegen die Zivilbevölkerung vorgehen, und sich in ihrer Funktionsweise nicht von den Paramilitärs vor der Demobilisierung unterscheiden. Die so genannten Aguilas Negras haben diese Rolle in etlichen Regionen des Landes übernommen: Es gibt sie in Sucre, Guajira, Magdalena, Cesar, Córdoba, in einigen Gebieten von Antioquia, Choco, Nariño, Cauca, Putumayo und Norte de Santander.
In der gegenwärtigen Phase versucht der Paramilitarismus gleichzeitig, seine Kontrolle aufrecht zu erhalten und zu legalisieren. Dieser Punkt ist ein wichtiger Aspekt, um einem anderen politischen Projekt den Weg zu eröffnen. Uribe verfolgt die Idee eines so genannten kommunitären Staates. Dieses Staatsmodell hat sehr autoritäre Merkmale: Die Unabhängigkeit der Staatsgewalten wird aufgeweicht, in der Exekutive konzentriert sich die Macht, Freiheitsrechte werden eingeschränkt und es werden mehr gesellschaftliche Bereiche dem neoliberalen Wirtschaftsmodell unterworfen.

Kasten
Ivan Cepeda
ist Gründer und Sprecher des 2005 gegründeten Netzwerks Movimiento de Víctimas de Crímenes de Estado MOVICE. Sein Vater war Mitglied der kolumbienischen Linkspartei Unión Patriótica („Patriotische Front“, UP) und kam 1994 bei einem Mordanschlag ums Leben. Die UP wurde systematisch vernichtet. 5.000 ParteianhängerInnen und nahezu alle ParteifunktionärInnen und gewählten RepräsentantInnen wurden getötet.
Cepeda schreibt eine regelmäßige Kolumne in der kolumbianischen Tageszeitung „El Espectador“, in der er Menschenrechtsthemen behandelt. Wegen Morddrohungen verbrachte er schon mehrere Jahre seines Lebens im Exil

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