Kolumbien | Nummer 380 - Februar 2006

Uribes Wahrheitsfindung

Kolumbiens Versuch einer Vergangenheitsbewältigung ist umstritten

Kurz vor seiner möglichen Wiederwahl macht Präsident Uribe den aufständischen Gruppen Zugeständnisse. Parallel dazu soll eine staatliche Kommission die gewalttätige Vergangenheit des Landes aufarbeiten. Eine Farce im Zeichen des Wahlkampfes?

Sven Schuster

Der rechte Hardliner Álvaro Uribe verblüfft seine KritikerInnen. Obwohl er den linksgerichteten Guerillagruppen FARC (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte) und ELN (Nationales Befreiungsheer) in der Vergangenheit wiederholt den „totalen Krieg“ erklärt hat, scheint er mittlerweile am Sinn einer militärischen Lösung zu zweifeln. Während er mit der FARC über einen Gefangenenaustausch verhandelt, haben auf Kuba Friedensgespräche mit dem ELN begonnen. Obgleich keine schnelle Einigung in Sicht ist, schließt die Regierung eine „alternative“ Konfliktlösung nicht mehr grundsätzlich aus. Sogar der Gründung einer staatlichen Wahrheitskommission stimmte Uribe zu. Steht dahinter mehr als politisches Kalkül?

Die Kommission in der Kritik

„Kolumbien hat die weltweit beispiellose Aufgabe angenommen, in einem noch nicht beendeten Konflikt Gerechtigkeit walten zu lassen.“ Mit solchem Enthusiasmus stellte der renommierte Politologe Eduardo Pizarro, Präsident der Nationalen Kommission zur Wiedergutmachung und Versöhnung, im Oktober sein Projekt der Öffentlichkeit vor. Artikel 51 des im Juli 2005 verabschiedeten Gesetzes Justicia y Paz. (Gerechtigkeit und Frieden) dient als Grundlage der Einrichtung. Fünf von der Regierung berufene Persönlichkeiten, zwei VertreterInnen der Opferverbände sowie mehrere StaatsbeamtInnen werden ihr in den nächsten acht Jahren angehören. Ihre Aufgabe ist es, die Mitglieder der bewaffneten Gruppen (Paramilitärs und Guerilleros/as) vollständig zu demobilisieren und in die Gesellschaft zu integrieren. Die Kommission soll Gewaltopfer in materieller und symbolischer Hinsicht entschädigen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sühnen sowie einen abschließenden Bericht über die Gründe des internen Konflikts vorlegen.
Obgleich an der Integrität des Vorsitzenden Pizarro, dessen Bruder von Paramilitärs getötet wurde und der selbst nur knapp einem Mordanschlag entgangen ist, keine Zweifel bestehen, kam es bereits im Vorfeld zu Auseinandersetzungen. Menschenrechtsorganisationen bemängelten zahlreiche Unzulänglichkeiten. Die gesetzliche Grundlage würde internationalen Standards nicht genügen, besonders das geringe Strafmaß für Folter, Mord oder gar Genozid. Derartige Taten mit höchstens acht Jahren Gefängnis zu ahnden, sofern der/die Angeklagte, Reue zeige, seine/ihre Schuld bekenne und zur Entschädigung beitrage, sei ein Schlag ins Gesicht der Opfer. Die Idee, ehemalige Angehörige bewaffneter Gruppen in spezielle Integrationsprogramme zu zwingen, um einen Rückfall in das alte „Geschäft“ zu verhindern, sei letztlich kontraproduktiv.

Für viele ein „Freibrief“ für Verbrechen

Denn indem sie sich der Justiz stellten, würde den TäterInnen das Fortführen gesetzeswidriger Aktivitäten unter staatlichem Schutz ermöglicht. Dass es tatsächlich Teile der „Paras“ gibt, die auf diese Weise Drogenhandel, Entführung und Landraub zu „legalisieren“ trachten, ist in Kolumbien kein Geheimnis. Daneben sträuben sich auch die USA, einige besonders berüchtigte Paramiltärs wie Diego Fernando Murillo oder Salvatore Mancuso als Rehabilitationskandidaten zu akzeptieren. Aufgrund eines Auslieferungsabkommens mit Kolumbien pocht Washington auf die baldige Überstellung der beiden Drogenhändler.
Seit dem 30. Dezember regelt das Dekret 4760 die Anwendung des Gesetzes Justicia y Paz. Obwohl das Dekret im Vergleich zu seiner gesetzlichen Grundlage einige Verbesserungen enthält, gilt es vielen unverändert als „Freibrief“ für die schlimmsten VerbrecherInnen und MörderInnen. Vor allem inhaftierte Paramilitärs haben sich seit Beginn des Jahres um eine Aufnahme in das Integrationsprogramm beworben. Schätzungen zufolge könnten bis zu 3000 gefangene Paramilitärs mit extrem milden Strafen rechnen oder sofort frei kommen. Daneben stehen Hunderte von Guerilleros/as auf den Antragslisten, in der Hoffnung als „politische GewalttäterInnen“ anerkannt zu werden. Nach erheblicher Kritik wurde zwar der Ermittlungszeitraum von ursprünglich 60 Tagen auf jetzt sechs Monate verlängert. In der Praxis bedeutet dies aber trotzdem, dass bestimmten Anklagepunkten nur unzureichend nachgegangen werden kann, was einer Amnestie de facto gleich kommt. Außerdem legt das Dekret fest, dass ein bestrafter Täter für die Dauer seiner Strafe seine politischen Rechte verliert. Damit soll verhindert werden, dass paramilitärische Kreise den Staat unterwandern. Glaubt man jedoch einem Bericht der Tageszeitung El Tiempo, kommt diese Einsicht zu spät. Demnach kontrollieren die „Paras“ bereits jetzt ein Drittel des Parlaments.
Trotz aller Kritik ist es dem Präsidenten Álvaro Uribe gelungen, die Europäische Union von seinem Plan zu überzeugen. Verschiedene VertreterInnen der EU äußerten Verständnis für die schwierige Situation und kündigten an, die Kommission finanziell zu unterstützen. Bedingung sei allerdings, dass das Gesetz Justicia y Paz zum Instrument eines effektiven und transparenten Friedensprozesses werde.

EU unterstützt Kolumbien

Der Europäische Ministerrat ist skeptischer. In einer offiziellen Stellungnahme heißt es, man sei zwar über die Schaffung eines legalen Rahmens erfreut. Die Forderung nach „Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung“ werde jedoch nicht ausreichend erfüllt.
Die MinisterInnen bezweifeln vor allem die Ernsthaftigkeit des Demobilisierungsprogramms. Dieses beziehe sich lediglich auf einzelne Gruppen und „Fronten“, anstatt die tiefer liegenden Strukturen des Paramilitarismus in der Gesellschaft zu thematisieren. Die Unterscheidung zwischen politischen und gewöhnlichen Verbrechen sei zu vage. Das größte Problem stelle jedoch die institutionelle Schwäche des kolumbianischen Rechtsystems dar. Dieses verfüge nicht über die notwendige Kapazität und Reichweite, um eine Anwendung des Gesetzes in allen Landesteilen zu garantieren.
Genau dies verspricht aber Komissionspräsident Pizarro. Anfang Dezember präzisierte er erstmals die Vorgehensweise der Kommission und ging dabei auch auf die Kritik der EuropäerInnen ein. Deren Skepsis sei unbegründet. Denn selbst ohne die Möglichkeit einer finanziellen Entschädigung sei die positive Wirkung der Einrichtung nicht zu unterschätzen. Eine öffentliche Schilderung der begangenen Verbrechen werde „starken moralischen Druck“ auf die Aufständischen ausüben. „Es entsteht eine ethische Barriere, die eine weitere Zunahme der Gewalt gegen Zivilisten verhindert. Vor allem dann, wenn die Opfer beginnen, sich zu organisieren und Wiedergutmachung einfordern.“ Trotz des schwachen kolumbianischen Rechtssystems werde die Kommission nach und nach in alle Landesteile vordringen. Dort sollen Regionalkomitees eingesetzt werden, die den Betroffenen auch kostenlose Unterbringung bieten.
Obwohl, wie der Politologe Eduardo Pizarro selbst zugibt, viele Gewaltopfer dies aus Angst vor Vergeltung ablehnen dürften. Weiterhin werde die Regierung allen Gemeinden, die nachweislich unter Massakern und selektiven Tötungen gelitten haben, materielle Entschädigung gewähren. Eine der ersten Aufgaben der Kommission sei es daher, Massengräber ausfindig zu machen und demobilisierte Täter zu befragen. Ein schwieriges Unterfangen, aber durchaus realisierbar: „Eine Möglichkeit für die Täter wäre es zum Beispiel, einen Priester aufzusuchen. So könnten sie unter der Garantie des Beichtgeheimnisses den genauen Ort der Gräber preisgeben, ohne Repressalien zu fürchten.“ Angesichts der bereits vorhandenen Mittel, so Pizarro, sei die Kommission also immer noch besser als das, was vorher war: nämlich nichts.
Da über die Höhe US-amerikanischer und europäischer Zuschüsse bislang nur spekuliert werden kann, hat Uribe vorsorglich eine eher „symbolische Entschädigung“ angekündigt. Denn der Schmerz aller sei so groß, dass eine „totale Wiedergutmachung“ nicht möglich sei. In diesem Sinne sieht das Gesetz neben der öffentlichen Entschuldigung der Täter auch die „Bewahrung des historischen Gedächtnisses“ vor, auf dass sich die Katastrophe niemals wiederhole.

„Pflicht zur Erinnerung“

Daher ist das „Recht auf Wahrheit“, das den Opfern der Gewalt zustehe, ausdrücklich festgelegt. Alle sollen wissen, wo sich die entführten Angehörigen befinden und welche Verbrechen von wem begangen wurden. Ein weiterer Artikel sieht vor, die Erinnerung an das Geschehene wach zu halten. Am weitesten gehen schließlich jene Paragrafen, die sich mit der Vergangenheitsbewältigung auseinandersetzen.
Hier verlangt das Gesetz die Anfertigung eines abschließenden Berichts, in dem „die Gründe für die Entstehung und Entwicklung der illegalen bewaffneten Gruppen“ dargelegt werden und fordert die „Pflicht zur Erinnerung“ ein. Der Staat habe alle Datenbestände zur gewalttätigen Vergangenheit des Landes zu sichern und öffentlich zugänglich zu machen. Genau in dieser Verpflichtung zur „Wahrheit“ liegt das Problem.
Wie ist es möglich, die Wahrheit über Gründe und Motivation einer Tat in Erfahrung zu bringen, solange der Konflikt andauert? Denn sollten tatsächlich Namen und Daten von Hintermännern und Finanziers an die Öffentlichkeit gelangen, ist deren Sicherheit kaum mehr zu gewährleisten.
Die Guerilla beziehungsweise die Paramilitärs würden augenblicklich versuchen, sie aus dem Weg zu räumen. Angesichts dessen hat Pizarro angekündigt, zunächst nur die juristische „Wahrheit“ aufdecken zu wollen, um dann eines Tages auch die tiefer liegenden Strukturen der Gewalt zu untersuchen. Ob die Opfer und ihre Angehörigen sich jedoch mit der oberflächlichen Klärung des Tathergangs und ein paar öffentlichen Entschuldigungen zufrieden geben, darf bezweifelt werden. Die Mitglieder der Kommission müssen sich darüber im Klaren sein, dass ihre Form der Wahrheitsfindung höchstens zu einer Überführung weniger Handlanger beiträgt. Solange die wirklichen Interessen im Hintergrund bleiben, ist ein Ende der Gewaltspirale nicht abzusehen.

Wessen Wahrheit?

Angesichts der aktuellen Situation ist daher eine ernsthafte Aufarbeitung der Vergangenheit nicht zu erwarten. Es ist hingegen anzunehmen, dass Präsident Uribe die Kommission als Mittel zur Absicherung seiner unmittelbar bevorstehenden Wiederwahl im Mai missbraucht. Eine vollständige Aufklärung würde bedeuten, gegen den Präsidenten selbst zu ermitteln und seine Rolle bei der Schaffung paramilitärischer Einheiten im Department Antioquia aufzudecken. Eine „Wahrheit“, an der er kaum interessiert sein dürfte.

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