Nummer 485 - November 2014 | Uruguay

Uruguay am Scheideweg

Das Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio muss um seine Mehrheit fürchten

Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Uruguay am 26. Oktober ist eine Mehrheit für die Mitte-Links-Koalition Frente Amplio (Breite Front) nicht mehr sicher. Alle Umfragen gehen von einer Stichwahl zwischen dem Frente-Kandidaten und Ex-Präsidenten Tabaré Vázquez und Luis Alberto Lacalle Pou, Vertreter einer „neuen, jungen Rechten“, aus. Die Stichwahl ist für den letzten Sonntag im November terminiert.

Stefan Thimmel

Der Sieger bei den Präsidentschaftswahlen in Uruguay steht fest: das politische Establishment. Alle drei großen Parteien beziehungsweise Parteienbündnisse treten mit Kandidaten an, die seit langem selbst Teil der offiziösen Politik sind oder aus einschlägig politisch vorbelasteten Familien stammen. Der 74-jährige ehemalige Präsident Tabaré Vázquez, der zwischen 2005 und 2010 die erste Regierung der Frente Amplio (Breite Front) anführte, wird vom 41-jährigen Luis Alberto Lacalle Pou, dem Sohn des liberalkonservativen ehemaligen Staatspräsidenten Luis Alberto Lacalle (1990-1995) von der Nationalpartei (Blancos) herausgefordert. Der dritte im Bunde ist der 54-jährige Pedro Bordaberry, Kandidat der rechtskonservativen Colorado-Partei und Sohn des 2011 verstorbenen, ehemaligen Diktators Juan María Bordaberry (1972-1976).
Welche Partei das Rennen macht, ist weniger klar: Anfang Oktober wurden vom führenden uruguayischen Meinungsforschungsinstitut factum für die Wahl am 26. Oktober für die Frente Amplio 42 Prozent, für die Blancos 32 und für die Colorados 15 Prozent ermittelt. Mit einer erneuten Mehrheit der Frente Amplio in beiden Kammern des uruguayischen Parlaments ist demnach nicht zu rechnen.
Ebenso wie in Brasilien steht daher auch in Uruguay eine der linken, progressiven Regierungen des Subkontinents auf der Kippe. Die Folgen für den regionalen Integrationsprozess in Südamerika würden sich bei einer Niederlage von Dilma Roussef und Tabaré Vázquez schnell bemerkbar machen. Ein Panorama der „Linken Regierungen in Lateinamerika“, oder des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wäre dann sicher so nicht mehr zu halten. Eines ist aber schon mit dem Abgang des amtierenden Staatspräsidenten José „Pepe“ Mujica, der laut uruguayischer Verfassung nicht unmittelbar wiedergewählt werden darf, gewiss: Vorbei ist definitiv die Ära der charismatischen, caudillo-haften, populistischen – derlei Benennungen gibt es viele – Typen in Lateinamerika. Nach dem (vorläufigen) Rückzug von Luiz Inácio „Lula“ da Silva und dem Tod von Néstor Kirchner und Hugo Chávez war der knorrige 79-jährige ehemalige Stadtguerillero der Tupamaros sowohl wegen seiner ungewöhnlichen Biographie als auch wegen seines Amtsstils eines der letzten verbleibenden „Originale“. Das spiegelt sich auch in seiner Wahrnehmung sowohl im Ausland als auch in Uruguay selbst wider. Die internationale Presse ist voller Lobeshymnen für den „ärmsten Präsidenten der Welt“ (Mujica spendet fast 90 Prozent seines Präsidentengehalts).
Das, was seit dem Amtsantritt von Pepe Mujica im März 2010 erreicht wurde, kann sich durchaus sehen lassen. Die Programme zur Armutsbekämpfung wirken: Der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ging von 2006 bis 2013 von 34 auf 11 Prozent zurück und nach Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) gibt es in Uruguay den niedrigsten Armutsindex in Lateinamerika. Ebenso greifen die Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit, aktuell liegt die Rate bei sechs Prozent. Die Einkommen der Uruguayer_innen haben sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt, der Mindestlohn liegt bei 500 US-Dollar, und das Land steht an der Spitze im Ranking bei der sozialen Inklusion. Auf der anderen Seite sind allerdings die Verbraucherpreise angestiegen, die Inflationsrate liegt bei 8,5 Prozent. Für Uruguay eher hoch, im Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Ländern aber immer noch sehr niedrig. Aber seit etwa zehn Jahren wird ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum verzeichnet. Es gibt ein funktionierendes nationales Gesundheits- und Rentensystem und keinen nennenswerten Analphabetismus mehr im Land. 98 Prozent der Menschen haben Zugang zu sauberem Trinkwasser, 70 Prozent sind an die öffentliche Abwasserversorgung angeschlossen. Auch in der Gesellschaftspolitik gab es wegweisende Fortschritte: Eingetragene Lebenspartnerschaften wurden legalisiert, 2009 wurde auch gleichgeschlechtlichen Paaren ein Adoptionsrecht zugestanden. 2013 wurde das Gesetz zur Legalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung verabschiedet.
All das, die Popularität von Pepe, die durchaus beeindruckenden Daten, garantieren nicht die Wiederwahl seines Parteienbündnisses Frente Amplio. Tabaré Vázquez, der mit Rául Sendic, dem Sohn des legendären gleichnamigen Gründers der Tupamaro-Stadtguerilla als Vizepräsidentschaftskandidat antritt, kann nicht davon profitieren. Sein Wahlslogan Vamos bien („Wir sind auf dem richtigen Weg“) ist so blutleer wie der Kandidat selbst, die Frente Amplio kann kaum noch wie bei früheren Wahlen ihre Basis aktivieren, geschweige denn begeistern. Weder Vázquez noch dem mit 52 Jahren deutlich jüngeren Sendic gelingt es, die Jugend zu motivieren – nicht von der Ansprache her, nicht mit ihren Inhalten. Und die Mittelklasse, die aufgrund der erfolgreichen Wirtschafts- und Sozialpolitik der letzten Jahre stark angewachsen ist, wendet sich von der Frente Amplio ab.
Nicht wenigen kommt das Bündnis nach zehn Jahren an der Macht schon verbraucht vor. Eine Welle, auf der Lacalle Pou erfolgreich reitet. Zudem gelingt es ihm, ein frisches, dynamisches Image zu vermitteln. Und die Blancos profitieren davon, dass auch in Uruguay das Thema Sicherheit bei der Mehrheit der Wähler_innen ganz oben auf der Agenda steht. Weit von den Kriminalitätsraten in den Nachbarländern Argentinien und Brasilien entfernt, ist auch im traditionell sehr friedlichen Uruguay die Gewaltrate angestiegen. Das wird auch dadurch deutlich, dass die Uruguayer_innen in einer Volksabstimmung am 26. Oktober darüber entscheiden, ob die Strafmündigkeit auf 16 Jahre herabgesetzt wird. Eine Initiative, die von der rechten Colorado-Partei eingebracht wurde – ein Novum. Die Plebiszite der letzten Jahrzehnte wurden bis dato immer von progressiven breiten gesellschaftlichen Bündnissen initiiert und durchgesetzt. Der Ausgang ist völlig offen, die letzten Umfragen sprechen von einer absoluten Pattsituation bei diesem Thema.
Mujica hat sich im letzten Jahr seiner Präsidentschaft dem Thema auf andere Art angenommen: Im Mai 2014 wurde auf seine Initiative hin ein Gesetz verabschiedet, das den staatlich kontrollierten Marihuana-Anbau und den Handel legalisiert, weltweit das erste Gesetz dieser Art. Mujica erhofft sich dadurch eine effizientere Bekämpfung der Drogenkartelle sowie einen Rückgang der Kriminalitätsrate, die auch wegen der Zunahme der Beschaffungskriminalität ansteigt. Trotz internationaler Anerkennung, lehnt in Uruguay selbst eine Mehrheit der Bevölkerung das Gesetz ab. Eine weitere Leerstelle der Politik der letzten fünf Jahre ist die ausbleibende Reform des Bildungssystems. Von Menschenrechtsgruppen wird die Regierung zudem wegen ihres eher zögerlichen Einsatzes gegen die Straffreiheit für Verbrechen während der Militärdiktatur kritisiert, von ökologischen Bewegungen für die Förderung von milliardenschweren Auslandsinvestitionen mit ökologischen Folgen, wie zum Beispiel den Übertage-Abbau von Eisenerz und den ungezügelten Anbau von Gensoja und der damit einhergehenden Verdrängung der traditionellen extensiven Viehzucht-Kultur Uruguays.
Nach der Wahl ist auch in Uruguay vor der Wahl. Für die Kommunalwahlen 2015 wollen die Blancos und Colorados eine neue Partei gründen, um die seit fast 25 Jahren andauernde Dominanz der Frente Amplio in Montevideo, in der fast die Hälfte der uruguayischen Bevölkerung lebt, zu brechen. Mit dem Rückenwind eines möglichen Sieges bei der Stichwahl am 30. November könnte ihnen das gelingen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren