Lateinamerika | Nummer 312 - Juni 2000 | USA

US-Gewerkschaften entdecken die Latinos

Der US-Gewerkschaftsverband AFL-CIO fordert eine Amnestie für EinwanderInnen ohne Papiere und organisiert immer mehr Latinos

Einwanderung muss nicht zu Rassismus führen. Das demonstrieren in diesem Frühjahr die US-amerikanischen Gewerkschaften, allen voran die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU. Auf deren Kongress in Pittsburgh Ende Mai beschlossen die Delegierten eine Resolution, welche nachdrücklich eine Amnestie für die rund sechs Millionen EinwanderInnen ohne Papiere fordert, die nach Schätzungen in den USA leben.

Boris Kanzleiter

Es ist Zeit, dass wir uns mit den eingewanderten ArbeiterInnen für ein neues Legalisierungsprogramm einsetzen“, erklärte den 5.000 Delegierten der Antragsteller Josie Mooney, Chef des Ortsverbands San Francisco. Diese nahmen den Vorschlag mit großer Mehrheit an. In einer etwas kitschig geratenen Inszenierung stellten sich anschließend unter dem Applaus der Delegierten ImmigrantInnen aus über 40 Ländern auf die Bühne und hielten Schilder mit den Namen ihrer Herkunftsländer und einem Transparent mit der Aufschrift „United Nations of SEIU“ in die Luft.
Damit macht sich die 1,3 Millionen Mitglieder starke SEIU zum Vorreiter der neuen Einwanderungspolitik des US-Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO. Dieser hatte bereits im Winter eine ähnliche Resolution beschlossen. Auf öffentlichen Hearings, welche der 13 Millionen Mitglieder zählende AFL-CIO in einer Reihe wichtiger Städte organisiert, berichten nun EinwanderInnen über Probleme mit Behörden und Unternehmern. Der AFL-CIO will damit, wie Vizepräsident Linda Chavez-Thompson sagt, zunächst „in der Gewerkschaftsbewegung für ein besseres Verständnis über die Wichtigkeit der Organisation von Immigranten sorgen“. In der Vergangenheit habe es unter Gewerkschaftsmitgliedern teilweise eine starke Zurückweisung gegenüber ImmigrantInnen gegeben.
SEIU erntet dagegen bereits heute die Früchte einer jahrelangen Kampagne der gewerkschaftlichen Organisierung von Einwanderern. In Chicago und Los Angeles konnten seit April mies bezahlte Putzkräfte mit Streiks eine Lohnerhöhung von 25 Prozent erkämpfen, in anderen Städten starten die Mobilsierungen in den nächsten Wochen. Die GebäudereinigerInnen, welche in nächtlicher Arbeit Großraumbüros auf Hochglanz polieren, zählen zu den Millionen von Menschen, die in den USA im unterbezahlten Dienstleistungsbereich arbeiten. Viele von ihnen sind EinwanderInnen, die oft über keinen legalen Aufenthaltsstatus verfügen. SEIU führt seit Ende der 80er-Jahre die Kampagne „Justice für Janitors“ – „Gerechtigkeit für das Putzpersonal“ durch, deren Logo ein von einer Faust umschlossener Besenstiel ist. So ist es der am schnellsten wachsenden Gewerkschaft in den USA gelungen, während der letzten Jahre Verträge für insgesamt 100.000 von der SEIU organisierte Putzkräfte auszuhandeln, welche im Lauf dieses Frühsommers erneuert werden müssen.
Der erfolgreiche Aufstand der Putzkräfte und die neue immigrantenfreundliche Politik, welche der AFL-CIO eingeschlagen hat, zeige die „Macht der Latinos in der Arbeiterbewegung“, meint Baldemar Velazquez, Vorsitzender des Farm Labor Organizing Committee. Tatsächlich reagierte der AFL-CIO mit seiner Resolution auf den langjährigen Druck von Netzwerken gewerkschaflich organisierter EinwanderInnen, hauptsächlich aus Lateinamerika.

Zuwanderung ohne Rassismus?

Viele der rund 30 Millionen Latinos, welche in den USA leben, arbeiten in schlecht bezahlten, niedrig qualifizierten und ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen im Dienstleistungssektor, wie beispielsweise dem Hotel- und Gaststättengewerbe, häuslichen Dienstleistungen oder aber der Bau- und Landwirtschaft. Gerade die über die mexikanische Grenze neu eingewanderten Latinos, welche meist über keinen legalen Aufenthaltsstatus verfügen, müssen notgedrungen alle Jobs annehmen, die sich ihnen bieten. Doch das neue Dienstleistungsproletariat ist nicht in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten eingewandert, um Tellerwäscher zu bleiben, sondern um Millionär zu werden.
Der Weg aus der Armut führt über die Gewerkschaften, erklärt David Bacon vom Labor Immigrant Organizer Network (LION): „Insgesamt betrachtet sehen die EinwanderInnen viel eher als die Gesamtbevölkerung in den Gewerkschaften ein wichtiges Werkzeug, um ihre Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern.“ Eine wichtige Rolle dafür scheint auch zu spielen, dass viele Einwanderer aus Ländern mit einer langen Geschichte des Gewerkschaftsaktivismus kommen und kollektiven Interessenvertretungen von vorneherein offenere gegenüberstehen als viele US-AmerikanerInnen
Seitdem 1995 mit John Swenney, der früher Vorsitzender der SEIU war und Vater der Kampagne „Gerechtigkeit für Putzkräfte“ ist, eine neue reformorientierte Führungsspitze in das Exekutivkomitee des AFL-CIO gewählt wurde, macht sich der Gewerkschaftsverband gezielt daran, EinwanderInnen zu organisieren. Gleichzeitig schließen die Gewerkschaften Allianzen mit Bürgerrechtsgruppen und sozialen Bewegungen, zu denen bisher wenig Verbindungen bestanden. So organisierte der AFL-CIO gemeinsam mit einem breiten Spektrum teilweise radikaler Gruppen die massiven Proteste gegen die Tagungen der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle letztes Jahr und gegen die Frühjahrsversammlungen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds in Washington Anfang April. Der frische Wind und die neue Basisorientierung sorgen für Erfolge bei der Mitgliederwerbung. Letztes Jahr verzeichnete der Verband zum ersten Mal seit den 50er-Jahren wieder ein Mitgliederwachstum.

Gerechtigkeit für Putzkräfte

Gerade die erfolgreiche Kampagne der Putzkräfte zieht die Aufmerksamkeit auch von internationalen BeobachterInnen auf sich, scheint SEIU doch gelungen zu sein, wovon Gewerkschaften anderswo nur träumen. Die Organisation von EinwanderInnen im Dienstleistungsbereich gilt in Gewerkschaftskreisen als ein strategisches Problem, das schwer zu knacken ist. Kent Wong, Direktor des Zentrums für Arbeitsbeziehungen von der University of California in Los Angeles, meint, die Kampagne der Putzkräfte könnte hier Vorbildcharakter bekommen: „Sie wird vielleicht ein Modell für Aktionen im ganzen Land darstellen“, erklärt er. Den entscheidenden Moment für den Erfolg sieht der Arbeitssoziologe Gary Chaison von der Clark University darin, dass die Putzkräfte ihren Lohnkampf in eine „Demonstration für Bürgerrechte verwandelt“ hätten. SEIU sei es gelungen, das Anliegen ihrer Basis als eine elementare Frage der Gerechtigkeit darzustellen. Das ist auch der Ansatz bei der Kampagne für eine Amnestie der EinwanderInnen ohne Papiere. „Wenn ihre Arbeit hier nachgefragt wird, dann muss sie auch legalisiert werden“, meint kurz und bündig Monica Santana vom Latino Workers Center aus New York.

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