Identität | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

¡Vamos a la playa!

Von nationaler Würde und dem kleinen Grenzverkehr

Ein Sprung in die Wellen am bolivianischen Strand, eine stolze bolivianische Kriegsmarine im eigenen Pazifikhafen – glaubt man den regelmäßig wiederkehrenden Sonntagsreden bolivianischer Politiker, träumt ein ganzes Volk von nichts anderem. Und nicht nur das: Ein unverbrüchliches historisches Recht, so die beschwörenden Worte, sei die Rückkehr Boliviens an den Pazifik. In der Realität bleibt bekanntlich kaum etwas anderes übrig, als den großen Zeh in das kalte Wasser des Titicacasees zu strecken: Bolivien ist seit langer Zeit ein Binnenstaat.

Ulrich Goedeking

Chilenen sind nicht hoch an-
gesehen in Bolivien. Denn Chile ist schuld. Im so genannten Pazifikkrieg verlor Bolivien 1879 das Departement Litoral um die Hafenstadt Antofagasta an Chile. Peru musste im Laufe des Krieges den heutigen chilenischen Norden um die Städte Arica und Iquique abgeben. Wirtschaftliche Interessen ferner Mächte, namentlich Englands und der USA, an den Bodenschätzen der Atacamawüste spielten in dem Konflikt eine nicht unerhebliche Rolle, aber wen interessiert das heute noch?
Die Bilder von den militärischen Auseinandersetzungen an der peruanisch-ecuatorianischen Grenze vor wenigen Jahren sind noch in Erinnerung, und die Reden so mancher bolivianischer Politiker klingen nicht weniger martialisch als seinerzeit in Peru und Ecuador. Droht von daher ein weiterer Konfliktherd? Für Bolivien allerdings verbietet sich ein Waffengang schon aus militärischen Gründen: Gegen die chilenische
Armee haben die Bolivianer keine Chance.
Bolivianische Landkarten zeigen in aller Regel das heutige Territorium des Landes, während in Ecuador ausnahmslos jede Karte das Amazonastiefland bis zum peruanischen Iquitos mit einbezieht. Der Verlust des „Litoral“ an Chile ist letztlich als historischer Fakt akzeptiert, genauso wie die anderen territorialen Verluste im Lauf der Geschichte Boliviens: Urwaldprovinz Acre an Brasilien, der Chaco an Paraguay.

Die Historie ist kaum
mehr als ein Symbol
Bleibt die Frage, wozu die nationalistischen Reden von den uralten bolivianischen Rechten am Zugang zum Meer dienen. Zum einen ist das Thema immer tauglich, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.
Zum anderen könnte im Hintergrund das Bestreben stehen, durch das Aufrechterhalten der Maximalposition „Rückkehr zur Küste“ in Verhandlungen um Häfen und Handelskorridore eine bessere Ausgangsposition zu haben. Ein legitimes Anliegen, da doch die Bildung einer südamerikanischen Freihandelszone auf dem politischen Programm steht. Aber eines ist sicher: Chile wird Bolivien kein Territorium abtreten, einen Pazifikhafen unter voller bolivianischer Souveränität wird es nicht geben.
Ohnehin lässt sich mehr erreichen, wenn Bolivien mit einer Alternative droht. Als Anfang der 90er Jahre die Präsidenten Fujimori und Paz Zamora das peruanische Ilo als zukünftigen bolivianischen Freihafen präsentierten, da sorgte man sich in Arica und Iquique um das Geschäft mit den Bolivianern.
Das politische Ritual um die „historischen Rechte Boliviens“ hat eine Eigendynamik. Fast jeder bolivianische Politiker dürfte genau wissen – und akzeptiert haben, dass in Antofagasta heute Chilenen leben und dass die Stadt chilenisch bleiben wird. Gleichzeitig kann dies aber keiner von ihnen offen aussprechen, ohne dass sofort folgte der Schrei der Opposition: „Verrat!“ folgt. So wird es wohl weitergehen wie bisher. Die Fiktion lebt fort, die großen Reden von den bolivianischen Rechten auf seine Küste werden gehalten, von manchen mehr, von manchen weniger.
Währenddessen freut man sich hier wie dort, dass es endlich eine asphaltierte Straße von La Paz an die chilenische Küste gibt. Wer das nötige Kleingeld hat, fährt aus La Paz für ein Wochenende an den Strand, wer das Kleingeld erst noch erwirtschaften muss, handelt mit allem, was sich aus den Häfen nach La Paz transportieren lässt: ein ganz normaler kleiner Grenzverkehr, mit dem es sich leben lässt.
Ulrich Goedeking

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