Mexiko | Nummer 337/338 - Juli/August 2002

„Vergessen, Ignoranz und Verachtung”

Interview mit dem mexikanischen Schriftsteller Carlos Monsiváis

Carlos Monsiváis ist einer der bekanntesten kritischen Essayisten Mexikos. Er ist einer der wenigen Intellektuellen, die sich nie in die staatlichen Strukturen der 70-Jahre regierenden Staatspartei PRI hatte integrieren lassen. Auch unter der derzeitigen Regierung der rechtskonservativen PAN wird er der Kritik und Satire nicht müde. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Carlos Monsiváis über die Kulturpolitik der seit eineinhalb Jahren amtierenden Regierung Fox, über den fehlenden Großmut der linksdemokratischen PRD, das kulturelle Aufbegehren der Gesellschaft und sein letztes Buch Aires de Familia.

Anne Becker, Johanna Richter

Seit eineinhalb Jahren ist die rechtskonservative PAN nun nach 70-jähriger Herrschaft der PRI an der Macht. Wie würden Sie das Kulturverständnis der PAN charakterisieren? Und was bedeutet das für die Kulturpolitik unter Fox ?

Ich fürchte, ich bin nicht fähig, bis in diese dunklen Gefilde vorzudringen. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was die Regierung Fox für eine Vorstellung von Kultur hat. Wenn ich mich an ihre Erklärungen halte, hat sie gar keine Vorstellung von ihr. Wenn ich mich daran halte, was die Regierung macht, ist ihre Kulturpolitik eine Wiederholung des Bestehenden, was ja nichts Herausragendes ist. Wenn ich die PAN sehe, so steht eine ultrarechte Partei vor mir, die nur tote Formen von Kultur und Repression kennt. Hinzu kommen kontinuierliche Haushaltskürzungen und ein Angriff auf das, was man eine freie Entwicklung nennen könnte. Wenn es nach der Regierung ginge, sollte jeder sehen, wie er oder sie sich selbst „kultivieren”, sie der Markt „kultiviert”. Für die Kultur bedeutet das Vergessen, Ignoranz und Verachtung.

Können Sie ein Beispiel nennen für diese Politik?

Kürzlich wurde der Bildungsplan „Für ein Land der Leser” und der Plan für den Bau einer Nationalbibliothek vorgestellt. Eine Woche später beschließt das Finanzministerium, alle steuerlichen Vergünstigungen für Publikationen abzuschaffen. Für die kleinen und mittleren Verlage bedeutet das das Aus, und auch der Presse versetzt es einen harten Schlag. Darüber hinaus legt es offen, dass der Regierung die Idee eines Landes der Leserinnen und Leser egal ist. Auch ist die veranschlagte Summe für den Bau der Nationalbibliothek so groß, dass kein Geld mehr da sein wird, um Bücher zu kaufen. Am Ende wird es ein riesiges Gebäude ohne Bücher geben, denn der Kulturetat ist nicht besonders groß. Auch den Universitäten haben sie systematisch so viel Geld gestrichen, dass die öffentlichen Unis in ihrer Existenz bedroht sind. Die Lohnsituation der GrundschullehrerInnen ist verheerend. Wenn man alle diese Punkte zusammen nimmt, würde ich sagen, dass der Kultursektor sich durch Routine auszeichnet und die Haushaltspolitik ein einziges Katastrophengebiet ist. 85 Prozent des Kulturetats fließt in Gehälter, da kann man sich ausmalen, wie die Dinge liegen. Zu Ehren des Präsidenten Fox muss man noch sagen, dass er niemals auch nur das geringste Interesse für Kultur aufgebracht hat, so dass er noch nicht mal in der Lage ist, Demagogie zu betreiben. Unter Kultur kann er sich wohl einfach nichts vorstellen.

Das scheint kein Einzelfall innerhalb der PAN zu sein. Ich denke da nur an den Vorfall, dass kürzlich der Arbeitsminister erfolgreich Druck auf die Schulleitung der Schule seiner Tochter ausgeübt hat, damit die Lektüre von Aura, einer Kurzgeschichte von Carlos Fuentes, wegen einer erotischen Szene eingestellt werde. Ist das die traurige Karikatur des kulturellen oder intellektuellen Horizonts der PAN?

Das ist keine Karikatur. Aber es ist ein Extremfall. Übrigens war es nicht nur Aura, sondern auch eine Geschichte von García Márquez. Dieser Arbeitsminister hat in seiner Arbeit für das Anwaltsdiplom den Franquismus beglückwünscht, weil das Blutvergießen dazu gedient habe, Spanien zu reinigen. Das ist ein Grenzfall. Es ist eine Freakshow dieses Arbeitsministers.

Erhält die christliche Moral also keinen Einzug in die Kulturpolitik? Die PAN ist ja schließlich eine sehr christliche Partei?

Sehr christlich? Na, ich weiß nicht. Wenn ich das Christentum diffamieren wollte, dann würde ich wohl sagen, dass die PAN eine sehr christliche Partei sei. Nein, ich glaube die PAN ist ein sehr konfessionelle Partei, die strikt den Richtlinien des Vatikan folgt. So ist für sie zum Beispiel Abtreibung unter keinen Umständen erlaubt. Noch nicht einmal dann, wenn die Frau vergewaltigt worden ist, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist oder wenn der Fötus schwer missgebildet ist.
Der oberste Gerichtshof hat Abtreibungen unter diesen drei Indikationen als legal befunden, die PAN aber ficht dieses Urteil vor der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte an. Natürlich ist die PAN auch eine homophobe Partei. Sie haben Ausstellungen schließen lassen, haben Theaterstücke verboten, und führen regelmäßig Razzien gegen Jugendliche, durch mit dem Vorwand, dass sie Drogen konsumieren könnten, als Präventivmaßnahme sozusagen. Das ist schon der Gipfel der „Bürgerfürsorge”. Auf der anderen Seite haben sie einfach gar keine Ahnung von Kultur. Sie ist ihnen einfach unwichtig und da wollen sie auch keine Diskussion. Die PAN ist eine sehr rückständige Partei der repressiven Rechten. Ich sage nicht, dass sie sehr repressiv ist, denn dafür hat sie nicht die ausreichende Macht.

Für eine allgemeine Ausweitung der Zensur hat die PAN nicht die Macht?

Nein, auch wenn Zensur ihr sehr am Herzen liegt. Das Kontrollministerium hat zum Beispiel neulich eine Vorschrift vorgestellt, welche es Funktionären verbietet, sich in der Umgangssprache an ihre Kollegen zu wenden.

Oh, das wird aber schwierig.

Ja, es ist undenkbar. Sie haben noch mehr solcher Zensurregelungen im Geiste der 40er und 50er Jahre verabschiedet. Doch sie werden sie nicht umsetzen können, denn das lässt die Gesellschaft nicht mehr zu. Die PAN hätte gerne, dass die Zeit sich zurückdrehen ließe, aber sie sind einfach zu spät dran.

Die Gesellschaft ist also wesentlich toleranter und offener?

Ja, absolut.

Wo zeigt sich das?

Überall. Für die Jugendlichen ist Pluralität noch nicht einmal mehr Thema, es ist ihre Welt. Die letzte Schwulendemonstration in Mexiko-Stadt hat 50 000 Leute auf die Straßen gebracht. Auch in Teilen des mexikanischen Kinos kann man sehen, dass Zensur heute nicht mehr so einfach funktionieren kann. Amores perros und Y tu mamá también (Lust for Life) sind zwei Beispiele, aber es sind nicht die einzigen. Es gibt heute den Wunsch, das auszudrücken, was man lebt. Das Urteil des obersten Gerichtshofs gegen das generelle Verbot von Abtreibung zeigt, dass die Gesellschaft ihre Akzente setzt. Jedes Mal wenn es heute einen Repressions-Versuch gibt, gibt es auch eine Reaktion. Die Rechte hat Erfolg in der Umsetzung ihres ökonomischen Programms, aber sie scheitert total in der Umsetzung ihres moralischen Programms. Natürlich hätte ich auch gerne, dass sie in ihrem ökonomischen Programm scheitern würde, aber das ist nicht der Fall.

Die Pluralität der Lebensformen auf der einen Seite und die Homogenisierung durch den Markt auf der anderen?

Es sind die kulturellen Einstellungen, die sich geändert haben. Was jetzt aber zum Beispiel die Literatur angeht, wird diese vom Markt beherrscht und mit dem Steuerdesaster ist es auch noch wahrscheinlich, dass die kleinen und mittleren Verlage eingehen. Die Ideologie des Marktes ist allgegenwärtig. Alles dreht sich um Bestseller. Hinzu kommt, dass die spanische Verlagsindustrie immer mehr den lateinamerikanischen Markt beherrscht. Die haben natürlich erstklassige Literatur, aber sie vermarkten auch massiv die Lebenshilfe- und esoterische Literatur. Es gibt für die nicht wenigen kritischen und experimentellen Werke – in der Musik junger Leute, im Theater oder der Literatur – kein ausreichendes Publikum. Genau wie es keine bedeutenden Bibliotheken und vor allem keine bedeutende Benutzung der Bibliotheken gibt. Ich würde sagen, es gibt eine kulturelle Explosion, das Publikum hinkt hinterher und die Regierung ist schlicht und ergreifend nicht da.

Ist da die PRD-regierte Hauptstadt eine Ausnahme? Es wird doch immer gesagt, die eher linke Stadtregierung hätte sehr viel im Kultursektor getan und auch die Zugangsmöglichkeiten zu kulturellen Veranstaltungen oder Projekten für ärmere Teile der Bevölkerung öffnen können?

Also ich würde sagen, sie haben etwas gemacht. Viel ist meiner Meinung nicht der passende Begriff. Sie sind natürlich wesentlich offener als die Rechte. Sie haben eine großmütigere Haltung, aber sie haben keine großmütigere Idee. Die Linke ist in dieser Hinsicht nicht so sehr viel weiter. Die Leute aus dem Kultursektor haben für die PRD ihre Stimme abgegeben, aber die politische Linke ist darauf nicht angemessen eingegangen.Vor kurzem hat die PRD beschlossen, dass es nur ein Paradigma in der Welt geben kann, und das heißt Fidel Castro. Das überzeugt mich persönlich überhaupt nicht und so kann ich mich nicht mehr als PRD-Wähler fühlen. In einem Moment politischen Konflikts hat die PRD beschlossen, dass Bildung und Gesundheit ohne Demokratie einer mangelhaften Demokratie (democracia fraudulenta) vorzuziehen sei. Ich glaube, dass beide Alternativen falsch sind, es somit auch kein Dilemma zwischen beiden geben kann. Aber alles, was die PRD jetzt macht, das macht sie vor dem Hintergrund einer klaren Position: Das was uns wichtig ist, ist nicht Demokratie, sondern Bildung und Gesundheit, auch ohne Demokratie. Dass Fidel Castro schon 43 Jahre an der Macht ist, ist unerheblich, denn er hat ja seinem Volk alles gegeben. Ich weiß nicht, was diese Alles sein soll und ich weiß nicht, ob man in einer demokratischen Auseinandersetzung sagen kann, dass die Demokratie unwichtig ist.

Das klingt nach großer Enttäuschung?

Ja, für mich ist diese Entwicklung eine herbe Enttäuschung. Wenn die Rechte so gestört, sektiererisch, repressiv und moralisch kleinwüchsig ist, wundert mich das nicht, aber von der Linken habe ich eine andere Haltung erwartet. Wenn ich mir außerdem anschaue, was auf Kuba mit den staatsbürgerlichen Freiheiten und Menschenrechten passiert ist, so glaube ich, dass es eine Wahl zwischen Gesundheit, Bildung und Demokratie nicht geben kann.

Vor zwei Jahren haben Sie Aires de Familia herausgebracht. Was hat Sie als mexikanischer, lokal orientierter Chronist dazu bewegt, ein Buch über Kultur und Gesellschaft in ganz Lateinamerika zu schreiben? Hatte das einen speziellen Grund?

Ja. Die Prozesse in den einzelnen Ländern unterscheiden sich nicht mehr so sehr. Wenn man auch nicht davon sprechen kann, dass sie ganz einheitlich werden, so kann man doch feststellen, dass sie sich ähnlich werden. Es ist dieselbe spanische Verlagsindustrie, die den Charakter dessen, was Neues gelesen wird, bestimmt. Es sind dieselben Städte. Der städtische Vereinheitlichungsprozess zeichnet sich überall eindeutig ab. Es ist derselbe Neoliberalismus, der die selben Antworten sucht. Nicht überall mit der Tragik wie in Argentinien, nicht überall mit der monströsen Gewalt wie in Kolumbien, aber man kann nicht mehr sagen, dass jedes Land seinen eigenen Weg geht. Ich fand es interessant, als ich durch Lateinamerika gereist bin, zu merken, dass man Gefangener ein und derselben Stadt ist, egal ob es sich nun um Mexiko-Stadt, Buenos Aires, Bogotá, Caracas, Quito, Guatemala-Stadt oder San José de Costa Rica handelt.

Glauben Sie, dass diese Entwicklung, die Chance mitbringt, dass die Kommunikation zwischen den lateinamerikanischen Staaten zunimmt?

Nein. Die Gleichzeitigkeit der Prozesse bewirkt eher, dass es immer weniger Kommunikation geben wird. Was es aber doch immer mehr gibt, ist Information. Dafür hat die Globalisierung genützt. In Mexiko ist man gut darüber informiert, was in Argentinien passiert oder in Kolumbien. Man weiß mehr, aber die Kommunikation zwischen den Ländern ist sehr armselig.

Könnte das ein zukünftiges Projekt für die Intellektuellen sein?

Das wird dauern. Falls das ein Projekt sein soll, wird es auf sich warten lassen, weil alles sich darauf konzentriert, wie der neu entstehende Markt, die nationalen Bedürfnisse bedienen kann. Ich sehe nicht, dass sich irgendwo die Idee eines lateinamerikanischen Marktes konkretisiert. Ich denke, dass es hier an Vision gefehlt hat. Ohne einen lateinamerikanischen Buchmarkt, ohne eine lateinamerikanische Kraft, die vereinigt, die Projekte entwickelt, wird alles immer weiter den Bach herunter gehen. Keiner weiß, was in den anderen Ländern produziert wird.

In diesem sehr pessimistischen Bild der Industrialisierung der Kultur und des Neoliberalismus, sehen Sie hier auch irgendwelche Chancen für eine vielseitige und kritische Kultur in einer globalisierten Zeit, die es vorher vielleicht nicht gegeben hat?

Ja sicher. Es gibt heute mehr Information als je zuvor. Das Internet bietet ein enormes Informationsangebot. Die Jugendlichen sind heute viel informierter, als es die Generationen davor waren. Man hat Zugang zu DVD, zu Video, zu CD´s, zu Kulturproduktionen, die früher fast esoterisch waren. Es gibt einen großen Enthusiasmus der Jugendlichen in Bezug auf diese Entwicklung. Was es aber nicht gibt, sind die finanziellen Mittel. Es gibt die Angebote, aber es gibt keine Mittel, damit diese Angebote auch weitläufig genutzt werden könnten. Dasselbe Kulturprojekt, was man in Mexiko in den 50er Jahren hatte, regiert auch heute mit einer dreimal so großen Bevölkerung. Im besten Falle erreicht man im kulturpolitischen Sinne eine halbe Million Menschen in einem Land mit 110 Millionen EinwohnerInnen. In Argentinien ist gerade alles in gewisser Hinsicht suspendiert, in Kolumbien kann man nur in Bogotá von einer eigentlichen Kulturproduktion sprechen, in allen anderen Regionen verhindert die Gewalt jede Entwicklung, angefangen bei der Einschüchterung der Presse. In Venezuela ist die Situation chaotisch und hoffnungslos und so weiter und so fort. Aber in den beiden Ländern mit dem intensivsten kulturellen Leben, Brasilien und Mexiko, sehe ich sehr wohl Jugendkulturen, die wirklich neu sind, voller Energie, Hoffnung und Widerstand gegen jegliche Idee von Zensur.

Interview: Anne Becker/Johanna Richter
Übersetzung: Anne Becker

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