Argentinien | Nummer 339/340 - Sept./Okt. 2002

Vergesst Peralta nicht!

In Argentinien boomt die Zahl der Entführungen

Für die Polizei ist der Fall Diego Peralta abgeschlossen. Doch auch nach der Verhaftung der angeblichen Entführer und Mörder des Jungen bleibt die Hypothese einer “gemischten Bande“ aus Polizisten und Zivilisten bestehen. Die Welle der “Express-Entführungen“ flaut derweil nicht ab.

Timo Berger

Wer sich dieser Tage in die Vororte von Buenos Aires begibt, braucht starke Nerven und zu Hause ein gebunkertes Bündel Dollarnoten. Schnell kann es passieren, dass zwei, drei fremde Männer neben einem stehen und einen mit vorgehaltener Waffe in ein bereit stehendes Auto – womöglich das eigene – zwingen. Seit die anhaltende Kontensperrung die verfügbare Bargeldmenge im Land drastisch verringert hat, haben ehemalige Bankräuber und ihre Helfershelfer bei der Provinzpolizei eine neue Beschäftigung gefunden: Sie machen schnelles Geld mit minimaler logistischer Vorarbeit. Manche Entführte können dabei von Glück reden, dass die Erpresser ihre Identität nicht kennen. So sind sie nach der Übergabe von ein paar tausend US-Dollar Lösegeld – so viel wie in kurzer Zeit aufzutreiben ist – meist nach ein paar Stunden wieder in Freiheit.
Andere, wie Diego Peralta, kommen nicht mit dem Leben davon. Die Entführung von Peralta ist nur eine von mittlerweile über hundert. Die Eltern des Jungen aber gingen an die Öffentlichkeit und prangerten die fragwürdige Rolle der Polizei an. So wurde sein Schicksal zum Auslöser einer andauernden öffentlichen Debatte über die mafiösen Machenschaften der Sicherheitsorgane und der sie deckenden PolitikerInnen. Jetzt muss sich die Provinzpolizei mit einer Art Intervention durch die Kräfte der Bundes-, Grenz- und Hafenpolizei arrangieren. Auch ein nationales Krisenkomitee wurde einberufen, das ursprünglich die Verwicklungen der Provinzpolizei aufklären sollte, sich jetzt aber der “Sicherheitslage“ im Großraum Buenos Aires annimmt. Als Folge der seit einem Monat zusätzlich auf Streife geschickten 5.000 BeamtInnen ist die Zahl der Raubüberfälle um 25 Prozent zurückgegangen und in der direkten Umgebung der Stadt Buenos Aires hat sich die Lage ein wenig entspannt. Im Grunde genommen hat sich die Kriminalität jedoch nur in ärmere Gebiete verlagert.

Der Fall Peralta

Am 12. August hatten zwei Jugendliche beim Angeln die Leiche des 17-jährigen Diego Peralta in einem Baggersee in Ezpeleta, Provinz Buenos Aires, entdeckt. Der Schüler aus El Jagüel war offensichtlich brutal erstochen und mit einem Gewicht an den Beinen im See versenkt worden. Am 5. Juli hatten zwei wie Polizisten gekleidete Männer Peralta auf dem Schulweg aus einem Taxi gezerrt und entführt. Am selben Tag forderten Unbekannte 200.000 US-Dollar Lösegeld von der Familie. Eine astronomische Summe für den Vater, der eine kleine Getränkehandlung betreibt. Nach der Zahlung von 9.000 Pesos und 2.000 US-Dollar tauchte der Entführte aber nicht auf. Das örtliche Komissariat gab sich verdächtig wenig Mühe bei den Ermittlungen. So entschloss sich die Familie, den Fall mit Demonstrationen im Viertel und vor dem Regierungssitz öffentlich zu machen.
Der Vater Peraltas ist bis heute überzeugt, dass einige der Be-amtInnen, die den Fall untersuchten, in die Entführung verwickelt waren. Ein Junge aus der Nachbarschaft, unter dem Vorwurf verhaftet telefonisch Lösegeld gefordert zu haben, sagte aus, er habe den Dienst habenden Wachtmeister bei der Entführung beobachtet. Dieser habe den Vorgang in einem Auto aus sicherer Entfernung überwacht.
Am Abend des 12. August, dem Tag als Diego ermordet aufgefunden wurde, versammelten sich FreundInnen und NachbarInnen vor dem Haus der Familie Peralta. Bei Einbruch der Dunkelheit machten sie ihrem angestauten Unmut Luft, indem sie das Kommissariat von El Jagüel anzündeten. Danach wechselten sehr schnell die Zuständigkeiten bei der Polizei. Die neuen ErmittlerInnen präsentierten Anfang September 17 „Verdächtige“. Nachdem fünf von ihnen verhört waren, erklärten sie den Fall für abgeschlossen. Die angebliche Bande besteht aus Bewohnern der Elendssiedlungen in der Nähe von El Jagüel und Ezpeleta. Das Ermittlungsergebnis entspricht somit dem von der Regierung gewünschten Resultat: Die Annahme einer “gemischten Bande“ aus Polizisten und Zivilis-ten konnte widerlegt werden. Dass während der Razzien auch zwei Polizisten verhaftet wurden, darunter der Dienst habende Wachtmeister, habe nichts mit dem Fall zu tun, erklärten die ErmittlerInnen einvernehmlich: Dem Wachtmeister würde zur Last gelegt, ein Motorrad gestohlen zu haben. Als Reaktion auf die Fragwürdigkeit der Ermittlungsergebnisse haben die Eltern ein Transparent aus dem Haus gehängt: “Wir sind zwar arm, aber nicht dumm!“

Entführungen Marke „Express“

Seit dem Amtsantritt des Sicherheits- und Justizministers der Provinz Buenos Aires, Juan Pablo Cafiero, vor drei Monaten hat es laut Presseberichten über 120 Entführungsfälle gegeben. León Arslanian, der bis 1999 unter Carlos Ruckauf den Posten Cafieros bekleidete, wurde inzwischen vom Präsidenten Eduardo Duhalde zum Berater in Sicherheitsfragen berufen. Gegenüber der Presse äußerte er, es handle sich bei den so genannten Express-Entführungen um eine Mode „wie der Taxiraub und vorher die Geiselnahmen“. Sie verschwinde wieder, sobald sich die Umstände änderten. Arslanian nannte drei Gründe, die den Anstieg der Entführungsfälle erklärten: 1. Der corralito, die Kontensperre, welche früher profitable Bandendelikte wie Bankraub unrentabel gemacht habe. 2. Die Reform der Provinzpolizei, die zu fehlender Kontrolle der BeamtInnen geführt habe. 3. Die aggressive Berichterstattung der Medien, die NachahmerInnen auf den Plan riefe. Als Gegenmaßnahmen kündigte Arslanian an, die StaatsanwältInnen mit Sondervollmachten auszustatten. Insbesondere sollen sie Hausdurchsuchungen und Telefonüberwachungen ohne richterliche Anweisung durchführen dürfen.

Die Rolle der Medien

Die argentinischen Medien schlachten zurzeit das Thema „Entführungen“ weidlich aus. Die reißerische Berichterstattung vor allem der großen Medien trägt dazu bei, das Gefühl der Unsicherheit in der Bevölkerung zu verstärken. Das politische Kalkül dahinter ist unschwer zu erraten: Das Klima der Unsicherheit destabilisiert. Das fördert auf mittlere Sicht rechte KandidatInnen. Dies ist im Interesse der Wirtschaftseliten, der BesitzerInnen der großen Medienkonzerne. Außerdem hofft man, im Einklang mit der Regierung die sich außerhalb der traditionellen politischen und sozialen Institutionen formierende Opposition zu spalten.
Ein Beispiel aus der Tageszeitung Clarín illustriert die Doppelzüngigkeit der Medien: Einerseits denunzierte sie das Vorgehen der Provinzpolizei im Fall Peralta, übernahm sogar die Hypothese einer „gemischten“ Bande. Andererseits waren die gezogenen Schlüsse wieder auf einer Linie mit den Interessen ihrer politischen Verbündeten: Um die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen, müsse die Anzahl der patrouillierenden Sicherheitskräfte erhöht werden.
Wie Untersuchungen des Journalisten Raúl Kollmann ergeben haben, sind es gerade diese Polizeistreifen, die das offene Gesicht der Korruption darstellen: Die BeamtInnen der Provinzpolizei kon-trollierten in ihrem Einsatzgebiet Glücksspiel, Schutzgeldzahlungen, Prostitution, Drogengeschäfte und in letzter Zeit zwei neue Aufgabenfelder: die Entführungen und die Erpressung der cartoneros, der inzwischen in die Hundertausende gehenden Zahl von ArgentinierInnen, die vom Sammeln von Papier und Karton leben.

Wahlkampf à la Argentina

Sicherheitsminister Cafiero vermutet hinter dem Anstieg der Kriminalität in der Provinz Buenos Aires ein politisches Manöver: Die BeamtInnen boykottierten die Ermittlungen, weil sie von Anfang an gegen seine Berufung gewesen seien. Als Cafiero ankündigte, die Morde an den Piqueteros in Avellaneda aufzuklären, wurde in der Nacht darauf der jüdische Friedhof geschändet. Das ist seit jeher ein Zeichen der Sicherheitskräfte, zu demonstrieren, dass man sie nicht kontrollieren kann.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass der Minister die mafiösen Strukturen der Provinzpolizei geißelte und ihre mangelnde Effizienz mit dem Machtkampf innerhalb der peronstischen Partei in Verbindung brachte. Sein Dienstherr, der Gouverneur von Buenos Aires, wurde traditionell als “natürlicher“ Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur angesehen. Mittlerweile ist das innerparteiliche Gerangel um die Kandidatur in vollem Gange. Nun kämpfen die so genannten Vorkandidaten mit allen Mitteln, um die anderen zu diskreditieren. Ein probates Mittel ist, im Zuständigkeitsbereich des anderen den Eindruck von Chaos zu erzeugen, wenn nötig mit Hilfe angestifteter Straftaten. “Lärm machen“ wie es ein im Gefängnis sitzendes Mitglied einer Entführungsbande gegenüber Raúl Kollmann ausdrückte. Cafiero erklärte unterdessen “man pflasterte den Weg mit Leichen“, um die Wiederwahl Felipe Solás zum Gouverneur zu torpedieren. Eine perverse Logik, nach der in Argentinien Wahlkämpfe betrieben werden. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Ermittlungen im Fall Peralta nicht ebenso im Sand verlaufen wie im Fall des 1997 ermordeten Journalisten José Luis Cabezas. Auch damals sprach man von einer “gemischten Bande“, aber es wurden weder die Hintermänner noch das Tatmotiv bekannt.

Kaste: Oppositionsbündnis formiert sich – Für die Aufhebung aller Mandate und eine verfassunggebende Versammlung

Während in der Regierungspartei ein offener Streit darüber ausgebrochen ist, wer sich als Kandidat zu den nächsten Wahlen präsentieren darf, haben sich die oppostitionellen Kräfte inzwischen angenähert. Unter der Führung von Elisa Carrió von ARI (Alternative für eine Republik der Gleichen), die in Umfragen gleichauf liegt mit dem nationalpopulistischen Peronisten und 7-Tage-Präsidenten Rodríguez Sáa, haben sich Luis Zamora von AyL (Selbstbestimmung und Freiheit) und Víctor de Gennaro von der CTA (Zentrale der argentinischen Arbeiter) auf drei zentrale Punkte geeinigt: 1. Aussetzung ihrer Wahlkampagnen, 2. Aufhebung aller Mandate (Parlament, Senat und Oberster Gerichtshof), 3. Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung.
Schon vor einigen Monaten hatte Carrió mit dem Bürgermeister von Buenos Aires, Aníbal Ibarra und dem Gouverneur von Santa Cruz, Nestor Kirchner, vereinbart, sich für die Aufhebung aller Mandate auf nationaler und Provinzebene einzusetzen. Das neue Bündnis bezieht zudem zwei der großen Arbeitslosenorganisationen, die CCC (Klassenkämpferische Strömung) und die FTV (Föderation Land und Habitat), zahlreiche studentische Organisationen, Menschenrechtsorganisationen und Intellektuelle mit ein.
Beim ersten zentralen Akt am 30. August waren auch linke Parteien und die Arbeitslosen vom Nationalen Piquetero Block anwesend, denen die Forderungen des Bündnisses nicht weit genug gehen. Sie wollen eine verfassunggebende Versammlung, die einen „wirklichen” Systemwechsel einleitet. Übereinstimmend erklärten Zamora, Carrió und De Gennaro, dass es sich bei den auf März 2003 vorverlegten Wahlen um ein Manipulationsmanöver der Regierung Duhalde handele. Statt in wesentlichen Punkten auf die Forderungen der Bevölkerung einzugehen, glaube man mit Wahlen die Gemüter beruhigen zu können. Präsident Eduardo Duhalde hat auf seine Art auf den Ruf „Alle sollen verschwinden” reagiert. Er hat eine Liste derjenigen angefangen, die nicht zu den nächsten Präsidentschaftswahlen antreten werden. Er unterzeichnete als Erster – und wohl auch als Letzter, wie ein Kommentator der Tageszeitung Página 12 resümierte.

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