Film | Nummer 404 - Februar 2008

Verloren im Grenzlabyrinth

Der mexikanische Dokumentarfilm La Frontera Infinita begleitet zentralamerikanische MigrantInnen auf ihrer Odyssee Richtung USA

Manuel Burkhardt

Langsam, ganz langsam setzt sich der Güterzug unter dem Geschrei der darauf Aufgesprungenen in Bewegung und entschwindet allmählich aus dem Bild. Zurück bleibt die üppige Vegetation von Chiapas im Süden Mexikos. Eine scheinbar abgeschiedene Idylle, die kaum glauben lässt, dass hier nur wenige Minuten vorher für Hunderte zentralamerikanischer Menschen der Moment gekommen ist, auf den sie wochen- oder monatelang gewartet und hingearbeitet haben. Mit dieser Einstellung endet der mexikanische Dokumentarfilm La Frontera Infinita („Die unendliche Grenze“) und stellt doch nur eine Momentaufnahme aus der Odyssee zentralamerikanischer MigrantInnen gen Norden dar. Am Ende haben sie erst den kleinsten Teil der Reise bewältigt, bis zum Ziel, der Überwindung der US-amerikanischen Grenze, fehlen noch 4.000 Kilometer voller Entbehrung, Gefahr und Ungewissheit.
Monatlich passieren 25.000 ZentralamerikanerInnen „illegal“ die mexikanische Südgrenze, um über Mexiko in die USA zu gelangen. Jährlich sterben durchschnittlich 200 von ihnen auf ihrer Reise, mehr als Hundert werden zu InvalidInnen in Folge von Zugunfällen oder Polizeiübergriffen. Diese Zahlen entstammen einer Studie mexikanischer ParlamentarierInnen von 2006; Nichtregierungsorganisationen gehen von weit höheren Zahlen aus.
Der Dokumentarfilm des 27-jährigen Mexikaners Juan Manuel Sepúlveda gibt den Menschen hinter diesen Statistiken ein Gesicht. Er begleitet sie auf einem Teil ihres Weges und lässt sie von ihren Erlebnissen, Hoffnungen und Ängsten erzählen. Für einige von ihnen ist es das erste Mal, dass sie sich auf den Weg machen. Viele andere haben es schon mehrfach versucht, sind abgeschoben worden und versuchen es erneut.
„Die Idee, zentralamerikanische Migranten nach Mexiko auf dem Weg in die USA zu begleiten, hat sich als unzureichend erwiesen. Wie zeigt man den Exodus von einer halben Millionen Menschen jährlich? Was nützt es zu wissen, ob wir in Honduras, El Salvador oder Guatemala sind, wenn wir irgendwo auf der Welt sein könnten? Wer ist Immigrant? Wer nicht? Wie können wir mit diesen Klassifizierungen brechen?“ fragt zu Beginn eine Stimme aus dem Off. Dies ist das Hauptthema für Sepúlveda. Er sei überzeugt, dass wir alle in kleinerem oder größerem Maße Migranten sind, äußert der Regisseur in einer Stellungnahme zum Film. Die Geschichte von Menschen, die alles zurücklassen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, sei Teil aller Kulturen auf der Welt. „Ich versuche, in dem Film weniger das Phänomen der Migration zu analysieren, sondern es zu beobachten. Ich wollte mit den Migranten ihren Alltag und die vordergründig toten Zeiten auf ihrer Reise teilen. Nur so schien es mir möglich, diese Menschen als Ebenbürtige dazustellen und die Sichtweise von Migranten als Opfer und Außenseiter, wie sie die Mehrheit der Staaten wahrnimmt, zu beenden. Auf diese Weise sind sie als das zu sehen, was sie wirklich sind: Menschen, die dem Rest der Menschheit vor allem ähneln.“
So versucht Sepúlveda nicht, streng chronologisch den Weg der MigrantInnen aus Honduras, El Salvador oder Guatemala von ihrem Heimatort bis an die US-Grenze darzustellen. Eine solche Herangehensweise würde der Mehrheit der tatsächlichen Geschichten nicht gerecht werden. Statt dessen erfahren wir, wie die Interviewten früher oder später von der Migrationspolizei aufgegriffen und über mehrere Stationen abgeschoben werden, wie sie wegen Verletzungen eine Zwangspause einlegen, wie ihnen Geld ausgegangen oder geraubt worden ist und sie auf Geldüberweisungen aus der Heimat warten oder es sich irgendwie erarbeiten müssen. Warten müssen sie auch oft tage- oder wochenlang auf den nächsten Güterzug gen Norden, darauf, ob ein Platz frei ist und ob er überhaupt kommt. So entsteht im Film ein Vor, Zurück und Nebeneinander von Zeiten und Orten, in denen die schier endlosen Phasen des Wartens das strukturierende Element bilden. Die ganze Region Zentralamerika und Mexiko wird für die MigrantInnen zu einer einzigen Grenzregion, oder wie der Titel des Film es benennt, zu einer grenzenlosen, unendlichen Grenze. Es ist der Verdienst Sepúlvedas, dies für das Publikum zumindest im Ansatz erfahrbar zu machen.
Dabei gelingt es ihm, die ProtagonistInnen nicht als Objekte sondern als Subjekte darzustellen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie trotz aller Ängste und Rückschläge stets in die Kamera sagen, dass sie die Hoffnung nie aufgeben, ihr Ziel irgendwann zu erreichen. Im Film mischen sich Momente kämpferischer Zuversicht und Wut mit tragischem, da aussichtslosem Festklammern am Traum. Ein circa 40-jähriger Mann erzählt etwa, dass er die Grenze Guatemala-Mexiko bereits 89 Mal passiert habe und es so lange weiter probieren werde, bis er eines Tages die USA erreicht. Einem 14-jährigen Junge, der sich in einem kirchlichen Hilfszentrum im Süden Mexikos befindet, fehlen ein Arm und ein Bein. Er berichtet, wie er durch einen Zugunfall ein Bein verloren habe und bei einem weiteren Versuch, auf den Zug aufzuspringen, auch noch sein Arm unter den Zug geriet. Dennoch verkündet auch er, irgendwann in die USA oder Kanada zu gelangen, um dort zu arbeiten. Als die Kamera weiter auf ihm verharrt, fügt er nervös hinzu: notfalls auch nur nach Mexiko-Stadt oder Tijuana und versucht, den Blick nicht abzuwenden und optimistisch zu wirken. Seinen Traum machen auch die Macht der Fakten nicht zunichte. Die Eindringlichkeit der Kamera hat hier jedoch einen voyeuristischen Beigeschmack. Es ist die Frage, ob der Regisseur in solchen Szenen nicht hinter seinen eigenen Anspruch zurückfällt, sein Gegenüber als gleichwertiges Subjekt mit Anrecht auf Diskretion und Würde zu behandeln.
Immer wieder bricht aus den Menschen Wut und Unverständnis darüber hervor, von den Regierungen der USA und ihren lateinamerikanischen Erfüllungsgehilfen wie Kriminelle, wie Terroristen behandelt zu werden, wo sie doch nur die Not treibt und sie dabei Familie und Heimat zurücklassen müssen. „Sie feiern den Fall der Berliner Mauer und bauen eine neue“, kommentiert ein Migrant die fortschreitende Errichtung der Mauer an der US-amerikanischen Grenze, die immer wieder eingeblendet wird. Doch wie viele andere Betroffene in der Dokumentation teilt er die Einschätzung, dass langfristig nichts und niemand Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben aufhalten könne.

La Frontera Infinita von Juan Manuel Sepúlveda, Mexiko 2007, 90 Minuten, läuft auf der Berlinale vom 7.-17. Februar im Forum-Programm.

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