Film | Nummer 428 - Februar 2010

Verloren im Meer voller Lügen

Der kolumbianische Film Retratos en un Mar de Mentiras erzählt vom Schicksal der durch den Bürgerkrieg intern Vertriebenen

Olga Burkert

Marinas schön geschwungener Mund bleibt meist geschlossen. Es sind ihre großen dunklen Augen, mit denen sie mit der Welt kommuniziert. Aufmerksam, nachdenklich, aber eben still beobachtet sie alles und jeden um sich herum. Umgekehrt kann niemand in sie hinein gucken. Das, was in ihr vorgeht, hält sie fest in sich verschlossen. Die meisten halten Marina (Paola Baldión Fisher) daher nicht nur für stumm, sondern für dumm und verrückt. Dementsprechend hänseln und schlagen sie sie, wird sie angeschrien und herum gestoßen.
Als Marinas Großvater Nepomuceno (Edgardo Román) bei einem Erdrutsch ums Leben kommt, verlässt Marina ihr von Armut, Alkohol und einer strengen Tante bestimmtes Leben in einem Armenviertel in Bogotá. Zusammen mit ihrem Cousin Jairo (Julián Román) macht sie sich auf zur Karibikküste des Landes, um das Stück Land, von dem ihre Familie einst vertrieben wurde, zurück zu fordern. In einem kleinen klapprigen und quietschroten Renault eingezwängt, winden sie sich durch Serpentinenstraßen in Richtung Küste.
Der Spielfilm Retratos en un Mar de Mentiras („Portraits in a Sea of Lies“) des kolumbianischen Regisseurs Carlos Gaviria ist ein Roadmovie durch die atemberaubenden Landschaften Kolumbiens. Gleichzeitig ist er auch eine Reise in Marinas Vergangenheit sowie ins Innere des bewaffneten Konflikts im Land.
Kurve um Kurve bahnt sich auch Marinas Geschichte ihren Weg an die Oberfläche. Durch äußere, offensichtliche oder eher nebensächliche Eindrücke auf ihrer Reise stimuliert, dringen Fetzen von lange Verdrängtem in Marinas Bewusstsein. Meist wird sie dann ohnmächtig. Denn an was sie sich erinnert, ist nur schwer auszuhalten. Und genau so zaghaft, wie sie sich ihrer Vergangenheit stellt, beginnt sie auch zu sprechen.
Parallel zu Marinas persönlicher Geschichte dringen die ZuschauerInnen in die Gewaltspirale des kolumbianischen Bürgerkriegs ein, bei dem die Zivilbevölkerung seit Jahrzehnten zwischen die Fronten von Guerilla, Militär und Paramilitärs gerät. Marina und Jairo kommen auf ihrem Weg nach La Ceiba wiederholt mit diesem Konflikt in Kontakt. Am Straßenrand stehen ärmliche Hütten, Kinder betteln um etwas Geld. Es sind intern Vertriebene, die der Bürgerkrieg zwang, ihre Häuser zu verlassen und sich woanders niederzulassen. Auch die beiden Protagonisten werden unterwegs von Militärs kontrolliert. Einmal geraten sie sogar mitten in ein Gefecht zwischen den Regierungstruppen und der Guerilla. Carlos Gaviria macht hier deutlich, wie sehr neben den persönlich Betroffenen, das Leben und der Alltag Aller durch die Gewalt bestimmt ist. Ein einfaches Fortbewegen oder Reisen ist nicht möglich.
Marinas heftige Reaktionen auf die Soldaten deuten die Ursache ihres Traumas bereits an. Am Ziel ihrer Reise angekommen, überschlagen sich die Ereignisse und die Geschichte droht, sich zu wiederholen. Carlos Gaviria lässt seiner Hauptdarstellerin Paola Baldión Fisher viel Raum sich und ihr grandioses Minenspiel zu entfalten. Die Kamera begleitet sie von ganz nah, ruht immer wieder auf ihrem ebenmäßigen Gesicht. Eindrucksvoll bringt Paola Baldión, die vor dem Film hauptsächlich in Fernsehserien und Telenovelas mitspielte, mit minimalen Veränderungen ihrer Mimik eine große Bandbreite an Gefühlen zum Ausdruck.
Retratos en un Mar de Mentiras erzählt eine Geschichte von Trauma und Gewalt, vom Zustand einer Gesellschaft inmitten des Krieges. Er kritisiert sowohl die verschiedenen Konfliktparteien, die die Zivilgesellschaft zwischen ihren Interessen aufreiben, als auch das „Meer von Lügen“, also die gezielte Propaganda, die die Vertriebenen zu Ausgestoßenen stigmatisiert. Der Rest der Gesellschaft begegnet deren Schicksal oftmals mit Gleichgültigkeit. So sind die über vier Millionen Vertriebenen in Kolumbien die wahren ProtagonistInnen von Gavirias Film.

Retratos en un mar de Mentiras // Spielfilm von Carlos Gaviria // 90 min. // Kolumbien 2009 // Spanisch, engl. UT // Berlinale Sektion Generation 14plus

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