Europa | Kuba | Lateinamerika | Nicaragua | Nummer 384 - Juni 2006

Verlorene Hoffnung, bleibende Erinnerung

Das Abenteuer der Nicaraguabrigaden

Fast 800 SchweizerInnen reisten während der sandinistischen Revolution in einer Solidaritätsbrigade nach Nicaragua. Sie bauten Brücken, Schulen und Dörfer, beteiligten sich an der Kaffeeernte oder arbeiteten in Gesundheitszentren. In der Schweiz selbst gab ihr Einsatz Anlass zu heftigen politischen Auseinandersetzungen. Ein Rückblick auf ein außergewöhnliches Kapitel der internationalen Solidarität.

Thomas Kadelbach

Wir waschen uns im Bach neben dem Dorf, der manchmal dreckiger ist als wir selbst“, berichteten die TeilnehmerInnen einer Schweizer Solidaritätsbrigade im Herbst 1987 aus Santa Emilia, einem Dorf in der Nähe von Matagalpa, Nicaragua. „Nachts besuchen uns Ratten“, fuhren sie fort, „die möglicherweise sogar über unsere Köpfe spazieren, Hühner, Flöhe, Mücken und Fliegen, kurz gesagt, eine unbestimmte Anzahl von Vertretern des Tierreiches.“ Seit einigen Wochen schon war die kleine Gruppe aus der Schweiz mit dem Bau einer Schule für die Dorfkinder beschäftigt und trotzte dabei den Widrigkeiten nicaraguanischen Landlebens.
Als das Gebäude schließlich im Oktober fertig gestellt wurde, trug es den Namen „Escuela Max Frisch“ und erinnerte damit an den bekannten Zürcher Schriftsteller und Theaterautor. Dieser hatte kurz zuvor den Erlös eines ihm verliehenen US-Literaturpreises an die Schweizer Solidaritätsgruppen mit Nicaragua weitergeleitet, um gegen die Militärhilfe der Vereinigten Staaten an die „als contras bekannten Terroristen“ zu protestieren. Sein Engagement reihte sich ein in die vielfältigen Initiativen einer Solidaritätsbewegung, die sich aus der Begeisterung über den Sturz des Diktators Anastasio Somoza im Juli 1979 außerhalb bestehender Institutionen entwickelt hatte und bald in politischen Parteien, Gewerkschaften, kirchlichen Kreisen und Hilfswerken Unterstützung fand. Nica-Bananen wurden verkauft, Städtepartnerschaften ausgerufen und Erklärungen verabschiedet. Der deutlichste Ausdruck der Solidarität mit Nicaragua aber waren die Arbeitseinsätze von Hunderten von Freiwilligen, die sich unter ungewohnten und zum Teil dramatischen Bedingungen am Aufbau des Landes beteiligten.

Brigaden für Nicaragua

Als die USA im Oktober 1983 auf der Karibikinsel Grenada militärisch eingriffen, schreckten sie damit nicht nur die Weltöffentlichkeit auf, sondern sendeten auch eine deutliche Warnung an Kuba und Nicaragua. In Managua wurde diese verstanden. Um eine Invasion abzuwenden, die unmittelbar bevorzustehen schien, wandten sich damals die Sandinistische Befreiungsfront FSLN und die Massenorganisationen an die internationale Solidarität. Die Anwesenheit von AusländerInnen sollte den politischen Preis einer US-amerikanischen Intervention erhöhen. In der Schweiz stieß der Aufruf auf ein großes Echo. Innerhalb weniger Wochen meldeten sich circa 200 Personen für einen Arbeitseinsatz in Nicaragua. Im Januar 1984 beteiligten sich Schweizer Freiwillige am Aufbau einer landwirtschaftlichen Kooperative in der Nähe des Rio San Juan und fällten hohe Bäume im Urwald. „Wir wollten den Einmarsch der US-amerikanischen Armee und auch die Aktivitäten der contras von Eden Pastora erschweren, die von Costa Rica aus operierten“, erinnert sich ein Teilnehmer. In den Jahren 1984 bis 1986 lösten sich die Solidaritätsbrigaden im Zweimonatsrythmus ab. In Matagalpa entstand ein Schulhaus, in La Rondalla ein Dorf mit zwanzig Häusern für die LandwirtschaftsarbeiterInnen. Anderswo wurden Bananen gepflückt und Kaffeebohnen geerntet, zehn Stunden täglich, trotz Regen und Kälte in den nicaraguanischen Bergen. 1984 trafen auch die ersten Gesundheitsbrigadistinnen ein und waren während drei Monaten, später während einem Jahr unter schwierigen Bedingungen in der ländlichen Gesundheitsversorgung tätig. „Ich habe dann dort reiten gelernt“, erzählt eine Krankenschwester, „denn ohne Pferd war man verloren. Zum Teil ritt ich ganz allein ein bis zwei Stunden für einen Hausbesuch.“ Im gleichen Jahr stellte die christliche Solidarität eine Friedensbrigade für Nicaragua auf die Beine. Innerhalb weniger Monate waren die Nicaraguabrigaden zu einer Massenerscheinung geworden.

Widersprüchliche Solidarität

Dabei blieben vor allem die Kurzzeiteinsätze nicht ohne Widersprüche und wurden zum Teil auch innerhalb der Solidaritätsbewegung selbst in Frage gestellt. „Die Nicaraguabrigaden verwandeln sich in eine Art Ferienkolonie im Pfadfinderstil“, kritisierte eine Teilnehmerin Ende 1984 und zweifelte am Sinn des immer größer werdenden Stroms von AusländerInnen, der sich über Nicaragua ergoss. Andere verwiesen auf die mangelnde Qualifikation der BrigadistInnen für Bauarbeiten und schlugen vor, das Geld für das Flugticket doch besser in ein Entwicklungsprojekt zu investieren.
Letztlich aber waren andere Argumente entscheidend. Der Zweck der Solidaritätsbrigaden lag nicht nur im Einsatz vor Ort. Der Aufenthalt sollte die Informationsarbeit in der Schweiz verstärken und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Ereignisse in Mittelamerika lenken. Aus diesem Grund organisierten die BrigadistInnen nach ihrer Rückkehr Pressekonferenzen, Vorträge und Solidaritätsabende und berichteten über ihre persönlichen Erfahrungen in Artikeln, Leserbriefen und Broschüren. Meist fehlte es ihrer Stimme aber an Gewicht, um die öffentliche Wahrnehmung entscheidend beeinflussen zu können. „Die Berichterstattung der Medien über Nicaragua folgte fast immer der einfältigen Propaganda der US-Regierung“, erinnert sich ein Teilnehmer.
Tatsächlich gaben Nicaragua und seine Revolution in der Schweiz den Anstoß zu ideologischen Auseinandersetzungen, die den Antikommunismus des Kalten Krieges ein letztes Mal zu Höchstform auflaufen ließen. Im April 1986 besuchte eine Gruppe rechtsgerichteter Parlamentsabgeordneter das kleine mittelamerikanische Land, in dem sich, wie sie nach ihrer Rückkehr öffentlichkeitswirksam berichteten, eine totalitäre Diktatur nach sowjetischem und kubanischem Muster eingerichtet hätte.

„Links engagierte Leute“

Als im gleichen Jahr die beiden Schweizer Entwicklungshelfer Maurice Demierre und Yvan Leyvraz von der contra ermordet wurden, drückte das Außenministerium zwar sein Bedauern aus, verzichtete aber auf einen Protest bei der US-Regierung. Zudem erklärte ein Staatssekretär, er habe den US-AmerikanerInnen zugestehen müssen, dass es sich bei den erschossenen Schweizern schon um links engagierte Leute gehandelt habe.
Als Reaktion auf den Tod der beiden Hilfswerksmitarbeiter beschloss die Regierung schließlich, in gewissen Gebieten Nicaraguas aus Sicherheitsgründen sämtliche staatlich finanzierten Entwicklungsprojekte zu verbieten. Damit setzte sie sich dem Vorwurf aus, die Ziele der US-Nicaraguapolitik direkt zu unterstützen. Von der Entscheidung war auch eine Schweizer Solidaritätsbrigade betroffen, die ihr Bauprojekt kurzfristig verlassen musste. „Das war die schlimmste politische Erpressung der offiziellen Schweiz, die ich erlebt habe“, berichtet ein Teilnehmer. „Das schlimmste für mich war, dass wir die Menschen dort zurückließen. Sie konnten vor dem Krieg nicht fliehen, und wir wurden dazu gezwungen.“

Alternative Entwicklungszusammenarbeit

Die Wahlniederlage der SandinistInnen im Februar 1990 bedeutete für die Solidaritätsbewegung einen Schock, von dem sie sich nie wieder erholte. Gewisse Ermüdungserscheinungen machten sich aber schon früher bemerkbar: die Nicaraguasolidarität litt an inneren Gegensätzen, und ihre Erneuerung gelang nur beschränkt. Nicht zu übersehen ist, dass sich im Verlauf der 80er Jahre auch Sinn und Zweck der Brigaden veränderten. Der erwartete Einmarsch der US-Armee, der 1983 in einer Notfallübung Tausende von InternationalistInnen nach Nicaragua hatte strömen lassen, trat schließlich doch nicht ein, weil die contra mit ihrem low intensity warfare (Krieg niederer Intensität) die gleiche Aufgabe wesentlich effizienter erfüllte. Die Solidaritätsbrigaden glichen damit immer mehr einer Art alternativen Entwicklungszusammenarbeit. Sie verbesserten punktuell die Lebensbedingungen der nicaraguanischen Bevölkerung und brachten moralische Unterstützung, erwiesen sich aber als völlig bedeutungslos für den Erfolg oder das Scheitern der sandinistischen Revolution.
Trotzdem wäre es falsch, das Abenteuer der Nicaraguasolidarität als Misserfolg zu bezeichnen. Sie hat es Hunderten von SchweizerInnen ermöglicht, während einer beschränkten Zeitdauer in einem Entwicklungsland zu arbeiten und die schwierigen Lebensverhältnisse der Bevölkerung mit all ihren Problemen, Ängsten und Hoffnungen zu teilen. Auf der Grundlage von persönlichen Erfahrungen konnte so in breiten Kreisen ein neues Verständnis für die Nord-Süd-Problematik geschaffen werden. Darin liegt das wohl größte Verdienst der Nicaraguabrigaden. „Nach ihrer Rückkehr erlebten die meisten Teilnehmer einen Kulturschock“, erzählt Andrés Rando, der ehemalige Koordinator der Schweizer Solidarität in Managua. „Dank der Beschäftigung mit der Situation vor Ort konnten sie eine differenzierte Haltung einnehmen, zum Beispiel bezüglich des Unterschieds zwischen Armut und Elend.“

Zwanzig Jahre danach

Und Nicaragua ist in der Schweiz auch zwanzig Jahre nach der Revolution nicht in Vergessenheit geraten. Um an die Ermordung von Maurice Demierre zu erinnern, besuchte im Januar 2006 eine vierzigköpfige Delegation das mittelamerikanische Land. An der Reise nahmen auch Parlamentsabgeordnete, Medienschaffende und Künstler teil. Im Norden Nicaraguas, an der Stelle, wo Maurice Demierre zusammen mit vier Bäuerinnen von der contra erschossen wurde, führten sie in Begleitung von Hunderten von NicaraguanerInnen einen Erinnerungsmarsch durch. „Quiero ser humus que fertilice esta tierra“, war auf dem Transparent zu lesen. Begrabt mich in Nicaragua, hatte Maurice Demierre einmal gesagt, ich möchte Humus sein, der diese Erde fruchtbar macht.

Informationen zur Reise nach Nicaragua vom Januar 2006 unter www.e-changer.ch
Koordinationsstelle der Solidarität ist das Zentralamerika-Sekretariat ZAS in Zürich. Mail: zas11@access.ch,
Fon: 0041-44/2715730

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