Chile | Nummer 202 - April 1991

Versöhnung auf Kosten der Wahrheit

Am 8.Februar wurden in Chile die Ergebnisse der Kommission “der Wahrheit und Versöhnung” dem Presidenten Patricio Aylwin vorgelegt. In diesem Bericht, den Aylwin der Öffentlichkeit im Fernsehen presentierte, werden die Menschenrechtsverletzungen 16 jähriger Diktatur dokumentiert. Der “Informe Rettig”, nach dem Vorsitzenden der Kommission benannt, und die Reaktion auf die Ergebnisse der Untersuchung sind charakteristisch für die innenpolitische Situation Chiles. Das in Deutschland gutbekannte Problem der Vergangenheitsbewältigung ist eine der größten Hürden für Chile auf dem Weg zur Demokratie.

Pedro Pérez V.

El Informe

Neun Monate dauerte die Untersuchung, die von dem Juristen Raul Rettig geleitet wurde. Die Kommission zählte insgesamt acht Personen, unter ihnen zwei Vertreter aus dem Kabinett des ehemaligen Diktators Pinochet. 2279 Morde, 957 bis heute Vermißte, 641 ungeklärte Fälle sind in dem Bericht aufgelistet. Unter anderem wird über den Mord an dem Sänger Victor Jara berichtet, der nachdem ihm Hände und Arme zerstümmelt worden waren durch 44 Schüße getötet worden war, sowie über den Mord an dem Journalisten José Carrasco, dem Leiter der Zeitschrift “Analisis”, und zu dem Gewerkschaftsführer Tucapel Jiménez, um nur einige Beispiele zu nennen. Von dem Tod des ehemaligen Presidenten der Unidad Popular Salvador Allende wird behauptet, er hätte sich das Leben genommen.
Verschiedene Foltermethoden werden im Bericht benannt, die von der Grausamkeit der Diktatur bezeugen: Elektroschocks, Vergewaltigungen, Verbrennen bei lebendigem Leibe.
Interessant erscheint auch, daß sogenannte linksextreme Gruppierungen wie MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) und Frente Patriótico Manuel Rodriguez (FPMR) wegen Menschenrechtsverletzung angeklagt werden. Die Frente z.B. aufgrund des an Diktator Pinochet verübten Attentats, bei dem fünf Leibwächter getötet wurden. In dem Bericht werden jedoch Namen der Verantwortlichen für diese Menschenrechtsverletzungen der Öffentlichkeit nicht preisgegeben.

Die Reaktion in der chilenischen Öffentlichkeit

Die Reaktion der Mehrheit der politischen Parteien von Rechts bis Links war überwiegend positiv: so bewertete der President der UDI (pinochetistische Partei) während eines Interviews im Fernsehen die Rede Aylwins als “ausgeglichen”, weil “er es sehr gut verstanden hat, eine Grundlage für die Zukunft zu finden” und “ihn (den Bericht) nicht zur Öffnung von Wunden aus der Vergangenheit benutzt hat”. Auch Volodia Teitelboim, Generalsekretär der kommunistischen Partei äußerte sich positiv, schränkte aber ein, daß die Aufklärung des Geschehenen an die Frage nach Justiz gekoppelt werden muß. Dagegen wurden die Erwartungen der Betroffenen und der Menschenrechtsorganisationen eher entäuscht. Demonstrationen um Unmut darüber zu äußern, daß die Mörder und Menschenrechtsverletzer im “Informe Rettig” nicht genannt wurden, waren die Reaktion auf Aylwins Fernsehauftritt. Die Beroffenen fragen sich, wie es möglich ist, daß die Mörder den Angehörigen der Opfer und den Menschenrechtsorganisationen gegenüber bevorzugt werden und versichern: “Wir können weder Einschüchterungsversuche noch Drohungen akzeptieren. Sie haben die Waffen, aber zwischen dem Mut zur Wahrheit und der feigen, unmoralischen und opportunistischen “Zukunft” gibt es keine Wahl”.

Die Reue und die Vergebung

Der Bericht der Kommission für “Wahrheit und Versöhnung” soll zur Vergangenheitsbewältigung beitragen und ist der Versuch eine Basis für den künftigen Weg Chiles in Richtung Demokratie zu schaffen. Konkret bedeutet dies “Vergebung von Seiten der Opfer und Reue von Seiten der Schuldigen”, um Aylwin zu zitieren. Müssen aber nicht die Taten und die Täter in der Öffentlichkeit bekannt werden, die den institutionellen Zusammenbruch in Chile verursacht haben, damit dies sich in der Zukunft nicht wiederholt? Handelt es sich nicht ansonsten um eine unilaterale Vergebung, die zum Ziel die moralische Entlastung der Verantwortlichen hat?. Auf jeden Fall verdeutlicht der “Informe Rettig” den Verhandlungswillen der Regierung mit dem Militär. Man/Frau munkelt sogar, ob die Namen der Täter im “Informe Rettig” genannt werden, am 20 Dezember letztes Jahres ausgehandelt wurde. Das Militär hatte zu diesen Zeitpunkt eine eintägige nationale “Alarmübung” veranstaltet und so versucht, die Regierung zum Verschweigen der Namen der Täter zu bewegen. Wenn der Bericht über die Menschenrechtsverletzungen sich darauf beschränkt, einige Taten aber nicht die Täter zu nennen, diese Namen lediglich der Justiz weiterleiten will, wohl wissend, daß die meisten Richter noch seit der Zeit Pinochets auf ihren Stühlen sitzen, dann ist es nicht die Wahrheit die angestrebt wird, sondern das Vergessen.
Kritische Stimmen bewerten den “Informe Rettig” als einen weiteren Beweis dafür, daß die Politik des Pinochetismo unter dem Deckmantel der Demokratie fortgesetzt wird. Nach wie vor leben 47 Prozent der Bevölkerung in Armut während die Regierung die neoliberale Wirtschaftspolitik Pinochets fortgesetzt und sogar den Glauben verbreitet, daß diese Wirtschaftsordnung die Lösung für die sozialen Probleme Chiles bringen könnte. Es sich nach wie vor die selben transnationalen Konzerne, die die wirtschaftliche Entwicklung des Landes dominieren. Die wichtigsten Institutionen, die das Pinochetregime früher getragen haben, sind immer noch intakt: die Justiz, das Militär, das inländische Kapital, und die rechten Parteien, im Parlament vertreten durch die UDI und Renovación Nacional (RN).
Genauso wie die sozial-politische Lage Chiles aufzeigt, daß die Regierungszeit der Concertación als die Phase zwischen Diktatur und Demokratie verstanden werden muß, kann der “Informe Rettig” nur als ein Schritt auf den Weg zur Lösung der Menschenrechtsfrage in Chile gesehen werden.

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