Brasilien | Nummer 318 - Dezember 2000

Viele Kleinkriege und keine Einigung in Brasilien

Ein neues Kapitel in der unendlichen Geschichte der brasilianischen Landreform

Am zwanzigsten Juli diesen Jahres einigte sich die Landlosenbewegung Movimento Sem Terra (MST) mit Agrarminister Raul Jungmann und dem Präsidenten Fernando Henrique Cardoso auf eine Zusage staatlicher Unterstützungskredite für die Ansiedlung und technische Beratung von 200.000 Kleinbauern. Seit September wird der geschlossende Kompromiss neu verhandelt.

Laurissa Mühlich

Durchführung von weiteren Enteignungen im öffentlichen Interesse, Neuverhandlungen der Schulden der Kleinproduzenten, Kreditzusage für Investitionen, Wiederaufnahme des Programms Lumiar zur technischen Beratung und einen Sonderkredit für die Produktion im Wert von 2 400 DM für jede angesiedelte Familie zu den Konditionen der Linie A von PRONAF (Programm zur Finanzierung familiärer Agrarproduktion)“, so lauteten die wesentlichen fünf Punkte des im Sommer diesen Jahres gefundenen Kompromisses zwischen der brasilianischen Regierung und der Landlosenbewegung Movimento Sem Terra (MST). Dafür war eine Summe von etwa 48 Millionen DM zugesagt, die bis Jahresende ausgezahlt werden sollten. Da jedoch seit Jahresbeginn nach Aussagen des Agrarministers erst 10,8 Millionen DM auf den Weg gebracht wurden, begann der MST, Mitte September Druck zu machen. Denn für die bereits angesiedelten Familien steht und fällt mit dem zugesagten Kleinkredit die kommende Ernte.
Am 12. September besetzten etwa 600 MST-Mitglieder den Eingang einer fazenda des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso im Bundesstaat Minas Gerais, die von seiner Tochter bewohnt und verwaltet wird. Außerdem beteiligten sich etwa 3.000 MST-AnhängerInnen in elf Bundesstaaten an Besetzungen öffentlicher Gebäude, wie dem Incra (Nationales Institut für Kolonisierung und Agrarreform) und den Finanzministerium. Überraschung und Aufmerksamkeit waren zunächst groß, doch die plötzliche Belagerung wurde letztendlich alles andere als ein Druckmittel zur Durchsetzung der Kreditforderungen.

Opfer eines Hundekampfes

Der Gouverneur des Bundesstaates Minas Gerais und ehemalige Präsident Itamar Franco instrumentalisierte das Ereignis innerhalb kürzester Zeit für einen weiteren populistischen Auftritt im „Kleinkrieg“ gegen seinen Nachfolger im Präsidentenamt. Wie schon 1999 mit der Ankündigung eines Schuldenmoratoriums für den Bundesstaat Minas Gerais und jüngst mit seinem Auftritt im Plebiszit über die Auslandsverschuldung Brasiliens (vgl. LN 317) ließ er auch diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen, um Cardoso und dessen neoliberalem Wirtschaftskurs in die Quere zu kommen. Weil die Militärpolizei des Bundesstaates Minas Gerais, die unter Francos Kommando steht, erst nach gut zwei Tagen vor der fazenda eintraf, hatte Cardoso zum Schutz seines Eigentums kurzer Hand die Präsidentenwache vor seinem Landgut postiert. Franco hatte sich geweigert, Einheiten der Militärpolizei zum Schutz des Privateigentums des Präsidenten zu entsenden. Er stellte Cardoso ein Ultimatum zum Abzug seiner Truppen, auf das dieser nicht weiter reagierte. Daraufhin ließ Itamar Franco die Möglichkeit einer Enteignung des Landgutes prüfen. „Wenn die Regierung schon mein Leben auskundschaften will, habe ich auch ein Recht, zu wissen, was in seinem Leben vorgeht“, äußerte sich Franco zu seinen Recherchen über die Besitzverhältnisse Cardosos.
Der Disput war ein gefundenes Fressen für die Presse, und der eigentliche Anlass trat mitsamt seiner Wichtigkeit in den Hintergrund. „Das ist ein Streit großer Hunde und wir werden uns da nicht einmischen. (…) Wir wollen nicht ins Zentrum dieser Auseinandersetzung geraten, die die Charakteristika einer institutionellen Krise tragen“, distanzierte sich Lucídio Ravanello, der Koordinator der Belagerung vor der fazenda, von der Schlammschlacht der hohen Herren.
Dabei ist das Anliegen der Verhandlungen um staatliche Unterstützung der Kleinbauern und landlosen Familien ein ernstes. 53 Prozent des brasilianischen Bodens sind nach wie vor in der Hand von einem Prozent der LandbesitzerInnen. Das bedeutet konkret, dass beispielsweise das Landgut Cardosos, um das es in der Auseinandersetzung ging, die Größe von 1 540 Fußballfeldern hat. Von der enormen Fläche des Landes bestellen die brasilianischen Farmer jedoch sage und schreibe 0,14 Prozent. Gegen diese Besitzkonzentration anzugehen ist eines der wichtigsten Ziele des MST.

Ein Schritt vor, zwei zurück

Die MST-Mitglieder zogen sich nach knapp drei Tagen von der fazenda zurück, um die Verhandlungen mit der Regierung wieder aufzunehmen. Auch die Besetzungen von öffentlichen Einrichtungen wurden bereits am nächsten Tag beendet, um das Interesse an weiteren Gesprächen zu zeigen. Sie hatten durchaus den politischen Druck erhöht, doch die öffentliche Diskussion drehte sich weit mehr um das politische Geplänkel der „großen Hunde“.
Ende September schalteten sich die brasilianische Bischofskonferenz (CNBB), die Organisation der brasilianischen Anwälte (OAB), und der Nationale Rat der Christlichen Kirchen (Conic) wieder als Vermittler in die Verhandlungen ein, die nach acht Tagen „Waffenstillstand“ weitergingen. Zuvor allerdings waren die „Belagerer“ des Landgutes noch einmal auf ihren Posten vor den Toren des Anwesens zurückgekehrt, nachdem die Regierung Gefängnisstrafen von bis zu einem halben Jahr für die BesetzerInnen angekündigt hatte. Der MST drohte im Gegenzug mit Hungerstreik, um die zugesagten Agrarkredite noch für die diesjährige Aussaat zu bekommen.

Wer ist korrupter?

Kurz nach den brasilianischen Kommunalwahlen Anfang Oktober brachte die Regierung dann ein neues Gesetz auf den Weg, mit dem 37 Millionen DM zur Unterstützung der Landlosen im Zuge des Agrarreformprogramms frei gemacht werden sollten. Für eine Familie solle es einen Kredit über 2.400 DM zu Zinsen von 4 Prozent geben. Dazu käme ein Rabatt von 240 DM und ein Bonus von 48 DM bei pünktlicher Rückzahlung. Die Finanzierung stünde den Familien bereits ab dem 20. Oktober zur Verfügung, gab der Agrarminister bekannt. Der MST ließ sich mit seiner Reaktion Zeit. „Wir werden die Ernte 2000/2001 nicht kommerzialisieren. Die Pflanzungen sind nur zur Subsistenz gedacht. Der Grund für die Verzögerungen ist die Weigerung der Regierung, das Geld nach der PRONAF-Linie A mit Zinsen zu 1,15 Prozent und einem Rabatt von 40 Prozent auf den Kredit zu verleihen,wie es vereinbart war“, sagte Gilberto Portes, Organisator des MST.
In der Tat entsprechen die von Agrarminister Jungmann genannten Konditionen der PRONAF-Kreditlinie C. Jungmann bekräftigte am darauf folgenden Tag, dass er auf die Kreditforderungen des MST nicht eingehen würde, da in einigen Kooperativen Unregelmäßigkeiten mit bereits verliehenen öffentlichen Geldern aufgetreten seien. Damals habe die MST 3 Prozent Gebühren von den Familien kassiert, bevor sie die finanziellen Mittel des Staates für technische Unterstützung weitergeleitet hätte. Auch Präsident Cardoso schalt die Landlosenbewegung „weder demokratisch, noch verantwortungsbewusst“ zu sein. Wenige Tage später forderte Jungmann, der MST, der sich „nahe der Räuberei bewege“, solle „wegen dieser Art, Geld zu holen und zu nehmen“, seine „schwarzen Kassen“ offen legen. Doch diesen Vorwurf könnte man auch anderen machen: Schätzungsweise 1 900 Großgrundbesitzer haben sich ihr Land in den letzten zehn Jahren unrechtmäßig angeignet.

Leere Stühle am Verhandlungstisch

Zur letzten Verhandlungsrunde hatte sich die Zahl der Beteiligten bereits drastisch reduziert, da sich die drei VermittlerInnen CNBB, Conic und OAB resigniert vom runden Tisch zurückzogen. „Wir sehen keinen Sinn mehr, weiterzuverhandeln. Wir waren bereits beim Präsidenten der Republik, an wen sollen wir noch apellieren?“, erklärte der Generalsekretär der CNBB, Dom Raymundo Damasceno, ihre Entscheidung. Jungmann zeigte sich sichtlich überrascht über diesen Schritt, da die Regierungsseite mit dem neuen Kreditvorschlag ja nun den entscheidenden Schritt getan habe.
In der Realität sieht es mit seinem Kreditprogramm jedoch ganz anders aus, da die Banken sich weigerten, das Geld zu Konditionen der Linie C an die Familien herauszugeben. Die Kleinbauern konnten den Finanzinstituten nicht genügend Sicherheiten vorweisen. Bei den im Juli ursprünglich vereinbarten A-Krediten hingegen trüge der Staat das Risiko für eine Zahlungsunfähigkeit der Kleinbauern – darauf will sich die Regierung nun nicht mehr einlassen.

Eine gute Fußballpartie?

Einer der nationalen Leiter des MST, Jaime Amorim, verglich die Situation mit einer Fußballpartie, in der der Gegner die Regeln des Spiels nicht offen legt. Seiner Meinung nach hat die Regierung ihr Pulver gegen die Landlosen bereits verschossen, „indem sie die Bewegung mit Korruption in Verbindung bringen wollte.“
Für Ende Oktober drohte er denn auch mit neuen Landbesetzungen. „Der Gegner hat seinen Atem verloren und ist demoralisiert. Jetzt sind wir dran, das Feld zu betreten“, resümierte Amorim. Mit einem Spiel hat es natürlich nicht viel zu tun, wenn man sich vor Augen führt, dass ohne die Unterstützungskredite weitere familiäre Kleinbauernbetriebe Bankrott gehen und sich vom Land auf den Weg in die großen Städte machen werden. In den letzten zehn Jahren gingen etwa eine Million Kleinbauern finanziell zu Grunde. Nach Schätzungen des MST werden in den nächsten Jahren weitere zwei Millionen Landarbeiterfamilien diesen Weg gehen. Angesichts dieser Einschätzungen sind die 370 000 Familien, denen Cardoso in seiner bisherigen Amtszeit Land zugeteilt hat, ein Tropfen auf den heißen Stein.

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