Dossier | Indigene Justiz | Nummer 457/458 - Juli/August 2012

„Viele Probleme müssen noch pragmatisch gelöst werden“

Interview mit dem costaricanischen Aktivisten Alancay Morales über die schwierige Einführung und Durchsetzung indigener Rechte

Die kleine Minderheit der indigenen Bevölkerungsgruppen Costa Ricas hat theoretisch eine Vielzahl an Rechten, die sowohl durch das nationale Recht als auch durch internationale Abkommen festgeschrieben sind. Die internationalen Regelungen durch das Völkerrecht und die ILO-Konvention 169 sind für den costaricanischen Staat bindend. Zudem gibt es nationale Gesetze, die indigenes Land rechtlich schützen. Während eine wirkliche Achtung und Umsetzung ihrer Rechte weiterhin von den Indigenen politisch erkämpft werden muss, entstehen auch ohne eine autonome Rechtsprechung viele Konflikte zwischen indigenen Rechten und staatlicher Justiz.

Interview: Harry Thomaß, Tilman Massa

Wie wird in Costa Rica rechtlich geregelt, wer indigen ist?
In der Verfassung gibt es keine Bestimmung, wer indigen ist, es werden nur die indigenen Sprachen anerkannt. Die Individualrechte der Verfassung können meiner Ansicht nach in Bezug auf indigene Gruppen interpretiert und angewendet werden, wie beispielsweise das Recht auf Kultur, Gesundheit, Bildung und weitere Rechte.

Wie kann dann der Staat dennoch indigene Territorien festlegen?
Die Verfassung von Costa Rica wurde in den späten 1940er Jahren geschrieben, also zu einer Zeit, in der die Anerkennung der indigenen Gruppen in Costa Rica und in der Welt allgemein entweder sehr begrenzt oder meist überhaupt nicht vorhanden war. Dass es keine ausdrückliche Anerkennung der Indigenen in unserer Verfassung gibt, spiegelt auch diesen Zeitgeist wieder. Dennoch wurde im Laufe der Zeit ihre Existenz im nationalen Recht anerkannt, einschließlich der Verabschiedung der ILO-Konvention 169, die nach Interpretation des Verfassungsgerichts Vorrang vor der Verfassung hat. Die rechtliche Anerkennung der indigenen Gruppen in Costa Rica erfolgte in kleinen Schritten: 1939 ist mit dem Gesetz über Brachland erstmals „indigenes Land“ anerkannt worden. 1956 wurden dann die Grenzen von drei indigenen Territorien im Süden des Landes festgelegt, schließlich wurde 1977 das Indigene Gesetz verabschiedet. Es behandelt zwar nicht die Besonderheiten der indigenen Gruppen, räumt den indigenen Territorien jedoch eine vorrangige rechtliche Stellung ein, die zuvor bloß über Vollzugsanordnungen anerkannt worden waren.

Wie werden indigene Traditionen und Lebensweisen, wenn sie in Konflikt mit bestehenden Gesetzen stehen, in die Rechtsprechung einbezogen?
Ohne Frage gibt es Fortschritte in der Frage der indigenen Rechtsprechung. Die Generalstaatsanwaltschaft hat gerade eine Reihe von Richtlinien erstellt, die die Rechte der Indigenen auslegen. Ein jüngster Fall ist die Anerkennung des traditionellen Fischfangs der indigenen Gruppe der Maleku, die im Norden Costa Ricas lebt und seit jeher in dieser Region fischt. Allerdings gibt es dort verschiedene Naturschutzgebiete, in denen das Fischen verboten ist, so dass die Maleku an der Ausübung ihrer Traditionen gehindert wurden. Die Staatsanwaltschaft hat nun eine Richtlinie erlassen, die das Recht der Maleku auf ihre traditionelle Fischerei ausdrücklich anerkennt. Das Gesetz zum Schutz von Wildtieren gilt damit nicht für Malekus, die ihrer traditionellen Fischerei nachgehen. In diesen Aspekten der indigenen Rechtsprechung gibt es einige Fortschritte. In anderen Bereichen sind diese hingegen sehr begrenzt, vor allem im Zugang zum Rechtssystem und die Anerkennung weiterer indigener Rechte, wie das auf vorherige Konsultation.

Wenn nicht klar geregelt ist, wer indigen ist, wie stellt es dann die Staatsanwaltschaft fest?
Auch wenn es dazu keine ausdrückliche Regelung in der Verfassung gibt, ist es wichtig hervorzuheben, dass es eine Reihe von nationalen und internationalen Rechtsinstrumenten gibt, welche die Rechte der indigenen Gruppen anerkennen. In Costa Rica bewahren acht indigene Gruppen, die sich selbst als solche definieren, eine Reihe sehr unterschiedlicher Bräuche und Traditionen. Sie leben zusammen in bestimmten Territorien, von denen die meisten rechtlich klar definiert und geschützt sind. Im Rahmen der Menschenrechte des Völkerrechts wurde anerkannt, dass es nicht Aufgabe des Staates ist, zu definieren, wer indigen ist. Das muss jede indigene Gruppe selbst gemäß ihren Bräuchen und Traditionen festlegen. Im Fall der Fischerei der Maleku erkennt die Staatsanwaltschaft daher ein kollektives Recht der Maleku zum Fischen an, sie darf aber nicht definieren, wer Maleku ist und wer nicht. Diese Regelungen sind große Fortschritte, aber einige damit entstandene Fragen und Probleme müssen mit der Zeit noch pragmatisch gelöst werden –zum Beispiel, wie die Staatsanwaltschaft bescheinigen soll, dass eine Person auch wirklich Maleku ist. Meiner Meinung nach müssen dafür Verfahren mit den Maleku vereinbart werden, die leicht umgesetzt werden können. Es ist auch schon vorgeschlagen worden, dass nach der Bestimmung die Zugehörigkeit einer Person im Personalausweis angegeben werden kann.

Gibt es besondere Fälle, bei denen die staatliche Rechtsprechung die indigene Identität eines Opfers oder Täters beachtet hat?
Tatsächlich werden Gutachten zur indigenen Kultur in bestimmten Fällen einbezogen, um zu verstehen, ob die – aus westlicher Perspektive – angeblichen Verbrechen bestimmten kulturellen Mustern entsprechen. In den letzten Jahren wurde innerhalb der Generalstaatsanwaltschaft eine Instanz namens indigene Rechtsanwaltschaft gegründet, die solche Fälle handhabt, um die spezifischen Fragen bezüglich der indigenen Rechte – national wie international – zu beachten.

Wie organisieren sich die indigenen Gemeinden?
Die Organisation wird von den indigenen Gruppen unterschiedlich gehandhabt. Es gibt lokale Organisationen, die zu bestimmten Themen wie Handwerk, Kultur, Wohnen und Wasser arbeiten. In verschiedenen Dörfern gibt es traditionelle Organisationen, zum Beispiel Ältestenräte. Für die politisch-administrativen Aufgaben sind die Asociaciones de Desarrollo Integral, kurz ADI (lokale Verwaltungsorgane, Anm. d. Red.) zuständig. Beispielsweise läuft die Vergabe von kommunalen Bauaufträgen über die ADI, die die Verträge mit den Kommunen oder anderen staatlichen Stellen aushandelt. Seit 1975 erkennt die Regierung Costa Ricas nur die ADI als einzige legale Vertretung der einzelnen indigenen Territorien an, und somit als einzige Repräsentation der indigenen Gruppen.

Wer sind die Autoritäten, die Entscheidungen treffen? Wie werden diese gewählt?
Es gibt die bereits erwähnten traditionellen Autoritäten wie die Ältestenräte, die in einigen indigenen Gemeinden an Einfluss gewinnen. Traditionell wurden diese Autoritäten als höchste Entscheidungsinstanzen der indigenen Gruppen anerkannt, aber mit der Einführung der ADI gerieten sie in den Hintergrund. Die ADI selbst besteht aus einem Verwaltungsrat, dessen Mitglieder Indigene aus dem jeweiligen Territorium sein müssen. Der Vorstand wird von den Mitgliedern der ADI gewählt.

Wenn die Mitglieder des Verwaltungsrates indigen sein müssen, wie wird in diesem Fall bestimmt, wer überhaupt indigen ist?
Meiner Kenntnis nach wurde innerhalb der ADI in keinem der 24 indigenen Territorien eine Methode eingerichtet, um die Mitgliedschaft zu definieren. Kürzlich hat die Nationale Kommunalorganisation DINADECO ein Leitungsgremium bestimmt, das als Kontrollinstanz der ADI fungiert. Dieses Gremium hat im Fall der indigenen Gemeinde Térraba erklärt, dass nicht die ADI dafür zuständig ist zu definieren, wer indigen ist und wer nicht. Zuständig sind stattdessen die traditionellen Autoritäten, in diesem Beispiel der Ältestenrat von Térraba, der gemäß der eigenen Verfahren, Bräuche und Traditionen beglaubigen kann, wer indigen ist. Der Beschluss der DINADECO ist eine Reaktion auf innere Spannungen zwischen den Indigenen in Térraba, wo es in früheren Zusammensetzungen der ADI viele Nicht-Indigene Mitglieder gab. Sie konnten Einfluss auf die Entscheidungen der Indigenen nehmen und machten damit die Entscheidungsfindungen ungültig.

Wie wird in der costaricanischen Presse über indigene Justiz berichtet?
Es ist kein Thema, über das ausgiebig in der Presse berichtet wird. Trotzdem gab es vereinzelte Fälle, die mediale Aufmerksamkeit erhalten haben. Die Hintergrundinformationen waren aber sehr begrenzt. Unter den Aspekten, über die in den Medien berichtet wird, ist die Notwendigkeit eines Übersetzers für Indigene, die nicht oder nur kaum Spanisch sprechen und verstehen können.

Welche Rolle spielen indigene und soziale Bewegungen bei der Um- und Durchsetzung indigener Rechte?
Die indigenen Organisationen in Costa Rica haben eine lebendige Basis in den Territorien, hauptsächlich wegen der dringlichen Probleme im Bezug auf die indigenen Rechte. Die indigene Bewegung arbeitet mit vielen Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen zusammen. In erster Linie sind es die Gemeinden und lokalen Basisorganisationen, die für Verteidigung ihrer Rechte kämpfen. Vor Ort reagiert die Bewegung auf unmittelbare und dringende Probleme jeder Gemeinde, zum Beispiel wenn Nicht-Indigene in ihr Territorium eindringen oder illegale Waldrodungen stattfinden. Auf zweiter Ebene gibt es die nationalen Organisationen, die auf verschiedenen Ebenen zur Förderung der indigenen Rechte und Fragen im Zusammenhang mit diesen arbeiten. Auf nationaler Ebene werden Gesetzesvorhaben diskutiert, welche die Indigenen betreffen. Auf diese Weise ist es der Bewegung gelungen, durch lokale Aktionsformen wie Proteste, Gerichtsverfahren und Pressemitteilungen deutlichen Anspruch auf ihre Rechte zu erheben. Es werden aber auch Mechanismen des internationalen Menschenrechtssystems aktiviert, beispielsweise im Protest der Indigenen von Térraba gegen das Staudammprojekt Diquís (siehe LN 449, Anm. d. Red.).

Wie wurden diese Mechanismen aktiviert?
In Térraba hat sich eine Gruppe von indigenen Organisationen gegen das Staudammprojekt Diquís gewendet, bei dessen Planung und Bau indigene Rechte missachtet wurden, beispielsweise das Recht auf Selbstbestimmung, das Recht auf vorherige Konsultation sowie das Recht auf Territorium und dessen Ressourcen. Durch den Protest und die Klagen der Gemeinde Térraba sowie die Unterstützung zweier internationaler Institutionen konnten die internationalen Menschenrechts-Mechanismen aktiviert werden. Zum einen war das der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung CERD, der über Frühwarnmaßnahmen und Eilverfahren verfügt. Zum anderen richtete die Gemeinde einen dringenden Appell an den UN-Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte und Grundlegenden Freiheiten Indigener Völker. Diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass die rechtliche Situation der Indigenen in Bezug auf das Staudammprojekt überwacht wird. Darüber hinaus wird mit dem UN-Sonderberichterstatter zusammengearbeitet, um die vorherige, freie und informierte Zustimmung der betroffenen Indigenen im Rahmen eines Konsultationsverfahrens auch wirklich umzusetzen.

(Download des gesamten Dossiers)

 

Alancay Morales ist Verantwortlicher des Bereichs für Menschenrechte der NGO Forest Peoples Programme, die sich für Autonomie und Rechte indigener Bevölkerungsgruppen weltweit einsetzt. Morales gehört der indigenen Gruppe der Brunca aus Costa Rica an.

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