Mexiko | Nummer 384 - Juni 2006

Viele Worte nach dem Blutrausch

Nach den gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und DemonstrantInnen beschuldigen sich die Präsidentschaftskandidaten gegenseitig

Die gewaltsame Einnahme Atencos durch 3.000 Polizisten Anfang Mai, der brutale Angriff auf streikende Minenarbeiter im April – alle politischen Parteien versuchen diese Ereignisse für sich zu nutzen. Dabei wird vor allem Angst geschürt. ExpertInnen meinen: Mexiko ist auf dem Weg
zurück in den Autoritarismus.

Dinah Stratenwerth

Die Regierung besinnt sich auf Mexikos autoritäre Vergangenheit!“ Und: „Die Linke will das Staatswesen stürzen!“ Dies sind derzeit die beliebtesten Vorwürfe, die sich Vertreter der drei großen mexikanischen Parteien einen guten Monat vor der Präsidentschaftswahl um die Ohren hauen. Die Regierungspartei Nationale Aktion (PAN) macht schon seit Wochen den Kandidaten der linksliberalen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) in Fernsehspots als „Gefahr für Mexiko“ schlecht, und die ehemalige Staatspartei Institutionelle Revolutionäre Partei (PRI) fürchtet, dass die derzeitige PAN-Regierung ihren Kandidaten entgegen allen demokratischen Institutionen durchsetzt.

Zunehmende Polizeigewalt

Die Vorwürfe haben sich durch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und sozialen Bewegungen in den vergangenen zwei Monaten verschärft. Das unbarmherzige Vorgehen von Regierungsbeamten in der Eisenhütte Las Truchas in Lázaro Cárdenas, im zentralmexikanischen Bundesstaat Michoacán, und in San Salvador Atenco in der Nähe der Hauptstadt, sorgte weltweit für Empörung. Ende April kamen in Michoacán zwei Metallarbeiter ums Leben, als sowohl Landes- als auch Bundespolizisten die Fabrik stürmten, um einen seit dem 23. März dieses Jahres andauernden Streik zu beenden. Die Arbeiter hatten zum Streik aufgerufen, weil die PAN-Regierung Napoleón Gómez Urrutia nicht als Generalsekretär der Gewerkschaft anerkannte. Der Grund: Urrutia habe angeblich 55 Millionen Dollar aus der Gewerkschaftskasse veruntreut. Der abgesetzte Gewerkschaftschef argumentiert hingegen, das Geld wie vorgesehen den Gewerkschaftsmitgliedern zur Verfügung gestellt zu haben. Sowohl der Streik als auch das Verfahren gegen Gómez Urrutia dauern noch an.
In San Salvador Atenco und dem Nachbarort Texcoco hingegen stritten die Protestierenden um die Nutzung des öffentlichen Raumes: 3000 Polizisten gingen mit aller Gewalt gegen AktivistInnen vor, die ortsansässige BlumenhändlerInnen im Kampf um deren Verkaufsstände unterstützten. Das Areal soll einem Walmart-Gebäude weichen. Bei der Aktion starb ein Vierzehnjähriger, etwa 50 Menschen wurden verletzt und 200 AktivistInnen festgenommen. Beim Transport ins Gefängnis wurden sie schwer misshandelt, 23 Frauen, darunter eine Chilenin und zwei Spanierinnen, gaben an, sexuell missbraucht worden zu sein (siehe Augenzeugenbericht in diesem Heft). Aufgrund des Drucks internationaler Organisationen wie Amnesty international und Human Rights Watch hat inzwischen auch das mexikanische Innenministerium zugegeben, dass es zu Übergriffen gekommen war, und eine Untersuchung versprochen.

Aufstandsbekämpfung

Laut einigen ExpertInnen will die Regierungspartei PAN durch die harte Vorgehensweise ihre Macht gut einen Monat vor den Wahlen am 2. Juli mit allen Mitteln konsolidieren. Angst solle gesät werden, so die Theorie, damit die Bevölkerung das Gefühl bekomme, ein hartes Durchgreifen sei unvermeidlich.
Die Regierung Fox schließe mit ihrem Handeln an die autoritäre Vergangenheit Mexikos an, sagt Efraín Poot, Politologe an der Autonomen Universität Yucatán (UADY), im Interview mit den LN. Er ist der Auffassung, dass der Übergang zur Demokratie missglückt sei. In der mexikanischen Wochenzeitung Proceso analysieren mexikanische MenschenrechtsexpertInnen, dass es sich bei dem Vorgehen in Atenco sowie bei dem Streik um eine militärische Aufstandsbekämpfungsstrategie handle, entwickelt 1994 in Chiapas im Kampf gegen die ZapatistInnen. Ziel der Strategie sei die Zerschlagung der sozialen Bewegungen in Zentralmexiko sowie eine warnende Nachricht an Subcomandante Marcos, der sich seit Anfang Mai im Rahmen der „Anderen Kampagne“ der ZapatistInnen in Mexiko-Stadt aufhält und sich mit den Protestierenden solidarisiert hat.
Der Philosoph Edgar González Ruiz führt gegenüber dem Proceso aus, dass die extreme Rechte marginalisierte Bevölkerungsteile kriminalisieren und ausschließen wolle, um den Eliten die Macht zu erhalten.

Kampf gegen Gewerkschaften

Mit Machterhalt habe auch der Umgang der Regierung mit der Metallarbeitergewerkschaft zu tun, so Politologe Poot. 2001 erkannte die Regierung Fox Gómez Urrutia als Generalsekretär des Arbeiterverbandes an. Die 55 Millionen Dollar, um die es heute geht, waren ein Gewinn aus der Privatisierung des Lázaro-Cárdenas-Werkes; die Gewerkschaft sollte sie in einer Treuhandgesellschaft verwalten. Poot bestreitet nicht, dass Korruption üblich war. Gómez Urrutia hatte sein Amt vom Vater „geerbt“, der 41 Jahre lang Präsident der landesweiten Metallarbeitergewerkschaft gewesen war. Um regieren zu können, musste die PAN, die von der PRI in 70 Jahren Alleinherrschaft geschaffenen Gewerkschaftsstrukturen nutzen, meint Poot. Daher habe sie die Korruption zunächst toleriert. Doch dann hätten die Arbeitervertreter nicht so „funktioniert“, wie Fox sich das vorgestellt hatte. Die Mitglieder zeigten sich in Lohnverhandlungen eisern und verweigerten der Partei hundertprozentige Loyalität. So wurde Gómez Urrutia durch einen der Regierung genehmen Mann ersetzt. Zugleich wollte sich die Fox-Regierung einmal mehr als Verteidigerin der Demokratie zeigen, so Poot: Gómez Urrutia verlor seinen Posten nachdem das Arbeitsministerium ein Dokument der Dissidentenversammlung innerhalb der Gewerkschaft anerkannt hatte. Nach dem Motto: Wir respektieren die Entscheidungen der Gewerkschaftsmitglieder. Aber: „Das ging in die Hose“, sagt Poot lapidar. Es kam zu Streiks, und die Gewerkschaftsführer in Mexiko seien sich „einig wie nie“, so der Politologe, in der Verteidigung ihrer Autonomie. Nach diesem Desaster wollte die Regierung laut Poot die Macht über die Gewerkschaften auf die altmodische und gewalttätige Art zurückgewinnen.

Zwielichtiger Sicherheitschef

Weiter gehen ExpertInnen, die sagen, die Regierung wolle Angst schüren und der Bevölkerung das Bild vermitteln, ihre Sicherheit sei in Gefahr. Dabei spielen die Medien, vor allem das Fernsehen, eine wichtige Rolle. Miguel Velasco vom Menschenrechtszentrum Miguel Augustín Pro denkt, dass Polizisten der Präventivpolizei nicht zufällig genau dort eintrafen, wo die Fernsehteams sich bereits aufgestellt hatten. Er vermutet sogar, dass einige Beamte absichtlich allein gelassen wurden, damit die Demonstrierenden sie vor laufenden Kameras verprügeln konnten. Ein Bild, das immer wieder in den Nachrichten wiederholt wurde. Die „Bauernopfer“ waren dabei laut Velasco die Beamten der lokalen Sicherheitskräfte. Die bundesweit operierende Präventivpolizei kam später und „räumte weg“, wen die Staats- und Ortsbeamten aufgescheucht hatten.
Kopf der Polizeiaktion war Wilfredo Robledo Madrid. Mitarbeiter des Innenministeriums im Staat Mexiko behaupten, er habe es ausgeschlossen, mit den Protestierenden zu verhandeln, und sei mit dem Satz „entweder, ihr lasst mich machen, oder ich trete zurück“ zur Tat geschritten. Laut dem Proceso hat Robledo Madrid eine lange Karriere als Militär, Polizeichef und Geheimdienstmitarbeiter hinter sich. Dabei wurden ihm gute Verbindungen zum Drogenhandel nachgesagt. Zu Beginn der Regierungszeit von Fox verlor er seinen Posten beim Geheimdienst CISEN und wurde wegen der illegalen Beschaffung von zwölf Flugzeugen angeklagt. 2002 brachten ihm seine windigen Geschäfte sogar eine Suspendierung vom Staatsdienst und eine Strafzahlung von 2.7 Millionen Pesos (ca. 270.000 Dollar) ein. Dennoch ernannte der Gouverneur des Staates México Robledo noch im selben Jahr zu seinem Sicherheitschef, mit der Begründung, die Suspendierung gelte nur auf Bundesebene.
Unabhängige RechtsexpertInnen sind der Auffassung, dass Robledo als Kopf der Polizeiaktion vom 4. Mai vor Gericht zu
stellen sei.

Schuldzuweisungen

Hinter dieser Aufstandsbekämpfung, wie die MenschenrechtlerInnen das Vorgehen der Sicherheitskräfte bezeichnen, steht nach Meinung von Edgar González Ruiz der Einfluss der extremen Rechten in der PAN. Sie nutze ihren Einfluss, um das autoritäre Vorgehen des Staates durchzusetzen und so an der Macht zu bleiben, so der Philosoph. Den ZapatistInnen wird derselbe Vorwurf gemacht: Sie schürten das Chaos, um die Demokratie zu diskreditieren und die Wahlen zu verhindern, meinen KritikerInnen. Marcos selbst ließ am Tag nach der Polizeiaktion im Fernsehen verlauten, er denke, dass PRD-Kandidat Andrés Manuel López Obrador trotz allem gewählt werde. Eine ganz hinterhältige Strategie, so der Philosoph Roger Bartra: Lobende Wort von Marcos würden López Obrador nur schaden und der Subcomandante wolle die Linke spalten.
PRI-Kandidat Madrazo und PAN-Kandidat Calderón sind sich selten einig darin, dass die PRD hinter den Unruhen steckt, um das Land vor den Wahlen zu destabilisieren. Dennoch sieht Madrazo in der PAN die größere Gefahr: Die Regierung versuche mit allem ihr zur Verfügung stehenden Geld, Calderón durchzusetzen, warnte er.
Aller Schuldzuweisungen und Theorien zum Trotz ist Politologe Poot der Ansicht: Keine Partei hat durch die gewaltsamen Aktionen in Michoacán und dem Bundesstaat México gewonnen. Es zeige sich nur einmal mehr, wie schwach die mexikanische Demokratie noch immer sei, und wie wenig es gelungen sei, funktionierende Institutionen zu schaffen.

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