Kolumbien | Nummer 475 - Januar 2014

„Vier Generationen wissen nicht, was Frieden ist“

Interview mit Abilio Peña von der ökumenischen Organisation Justicia y Paz und Juan Pablo Soler von der Umweltorganisation CENSAT – Agua Viva

Vor wenigen Wochen verkündeten die kolumbianische Regierung und Vertreter_innen der Guerilla Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) eine Einigung im zweiten Punkt der Friedensverhandlungen, der politischen Partizipation. Anlässlich dieser aktuellen Entwicklungen sprachen die LN mit den kolumbianischen Aktivisten Abilio Peña und Juan Pablo Soler über ihre Perspektiven auf den Friedensprozess.

Interview: Madlen Haarbach

Was sind die Inhalte der Entwürfe zur politischen Partizipation im gemeinsamen Bericht der FARC und der kolumbianischen Regierung?
Abilio Peña: Die Vorschläge des Berichts betreffen drei Themenfelder. Zunächst geht es um allgemeine Garantien und eine spezifische Rechtsprechung, sowohl in Bezug auf Wahlen als auch für oppositionelle Gruppen.
Gleichzeitig beinhaltet dieser Punkt eine Anerkennung der friedlichen Proteste und sozialen Bewegungen und ein Sicherheitsversprechen für Menschen, die in der Politik mitwirken. Zweitens geht es um den Zugang zu Medien, vor allem in ländlichen Regionen. Der letzte Aspekt ist die Reform des Wahlsystems.

Was halten Sie von den Entwürfen?
Abilio Peña: Wir halten die drei genannten Themenfelder für sehr wichtig. Was jedoch in der veröffentlichten Version völlig fehlt, ist der Paramilitarismus (Anm. d. Red. gemeint ist das Fortbestehen paramilitärischer Gruppierung trotz deren offizieller Demobilisierung). Ohne eine Lösung dieses Problems kann es keine Sicherheitsgarantien für politisch aktive Personen aus den oppositionellen Gruppen geben. Auch ist noch nicht klar, wie die Umsetzung der Entwürfe erfolgen soll. Dies liegt aber auch daran, dass nach wie vor kaum Details bekannt sind.

Was wären mögliche Auswirkungen der Entwürfe für Bäuerinnen und Bauern und die Bevölkerung der ländlichen Regionen?
Abilio Peña: Die Regel lautet, es gibt keine Einigung, bis eine Einigung in allen Punkten besteht. Die Verhandlungen haben bis jetzt überhaupt keine reale Auswirkung.
Man kann allerdings spekulieren. Zum Beispiel könnten soziale Organisationen unter einer speziellen Regelung zur Wahl antreten und Präsidentschaftskandidaten stellen – allein durch die Tatsache, dass sie aus einer Konfliktregion stammen.
Juan Pablo Soler: Genau, denn es gibt in den Entwürfen eine Art Anerkennung der sozialen Bewegungen als Akteure des Wandels. Also nimmt die Politik erstmals auch die friedlichen Gruppen als Akteure wahr, nicht nur die bewaffneten. Die Menschen, die zum Teil seit Jahrzehnten friedlich für ihre Rechte kämpfen, wurden bis dato stets unsichtbar gemacht – wenn nicht sogar verurteilt oder ermordet. Es wird aber immer notwendiger, die zivilen Akteure in die politischen Entscheidungen und den Friedensprozess miteinzubeziehen. Vielleicht eröffnen die Entwürfe neue Möglichkeiten, dies zu erreichen.

Kürzlich verkündete die Partei Patriotische Union (UP), die 1985 unter anderem aus dem politischen Arm der FARC und der Kommunistischen Partei hervorging, ihren Wiederantritt bei den kommenden Wahlen. Was haltet ihr von dieser Entwicklung?
Abilio Peña: Das ist eine sehr gute Nachricht. Tausende UP-Mitglieder wurden Ende der 1980er Jahre ermordet. Dass die Partei auf die politische Bühne zurückkehrt, ist ein sehr positives Zeichen für die kolumbianische Demokratie. Die Präsidentschaftskandidatin Aída Abella lebte die letzten 16 Jahre im Exil in Genf. Dass sie nun zurückgekommen ist und die Botschaft einer Einheit der gesamten linken Parteien des Landes verkündete, erscheint uns sehr bedeutsam. Auch wenn der Schatten der Vergangenheit nach wie vor über der UP hängt.

Es gab nun mehrere Agrarproteste und -streiks in Kolumbien. Welche Auswirkungen haben diese auf die Friedensverhandlungen?
Abilio Peña: Ich glaube, dass die Agrarproteste sehr hilfreich sind. Auf diese Weise machen die Menschen ihre Bedürfnisse und Probleme öffentlich. Eigentlich wäre es Aufgabe des kolumbianischen Staates, sich von selbst um diese Themen zu kümmern. Aber er erfüllt seine Pflichten oft nur, wenn es Druck von außen gibt. So entstand nicht eine der Friedensverhandlungen, die bis dato geführt wurden, aus Eigeninitiative der Regierung.
Juan Pablo Soler: Die Agrarproteste haben ein sehr starkes Zeichen hinterlassen. Sie haben die Regierung daran erinnert, dass nicht alle Themen, die die Bevölkerung beschäftigen, am Verhandlungstisch vertreten sind. Bis dato haben zum Beispiel soziale Gruppen mehr als 3.800 Vorschläge für die Verhandlungen eingebracht. Noch ist nicht deutlich, welche davon bei den Dialogen aufgegriffen wurden. Die Friedensverhandlungen sind der Beginn eines Prozesses, der noch lange nicht beendet ist. Denn der bewaffnete Konflikt wurde durch bestimmte Gründe ausgelöst und auf die große Mehrheit der Gründe wird bei den Verhandlungen überhaupt nicht eingegangen.

Was fehlt noch auf dem Verhandlungstisch?
Juan Pablo Soler: Das Wirtschaftsmodell, vor allem das Thema der Großprojekte. Es gibt bislang keinen gesetzlichen Rahmen für die Rechte der Betroffenen von Bergbau-, Erdöl- und Staudammprojekten. Bei Konflikten wird stets zu Gunsten der Großunternehmen entschieden, nicht zu Gunsten der Betroffenen. Außerdem müssen das Grundrecht auf zivilen Protest und damit verbundene Schutzgarantien in der Verfassung verankert werden.
Abilio Peña: Grundlegend ist außerdem, dass die Nationale Befreiungsarmee (ELN) sich mit an den Verhandlungstisch setzt. Sonst gibt es einen Frieden mit der einen Guerilla, aber die andere führt den bewaffneten Kampf fort.

Wie stellen Sie sich ein friedliches Kolumbien vor?
Abilio Peña: Ich glaube, dass wir uns zuerst daran gewöhnen müssen. Weil ich keinen einzigen Tag meines Lebens kenne, an dem Frieden in Kolumbien herrschte. Ich denke, vier kolumbianische Generationen wissen nicht, was Frieden ist. Wie wäre es?
Juan Pablo Soler: Ja, das ist eine schwierige Frage. Kolumbien ist ein multikulturelles Land und uns ist jetzt klar, dass es keinen wirklichen Frieden geben kann, wenn die Kultur und Lebensweise der Menschen nicht respektiert und bewahrt wird. Das gilt zum Beispiel für indigene Gruppen, afrokolumbianische Gemeinden oder auch Bauerngemeinden mit nicht-kapitalistischen Wirtschaftsmodellen. All diese Menschen haben verschiedene Ideen, Wirtschaftsweisen und Traditionen. Die Regierungen glaubten stets, ein einziges politisches Modell für das ganze Land finden zu können. Man muss aber auch alternative Möglichkeiten bedenken.

Infokasten:

Abilio Peña und Juan Pablo Soler
Abilio Peña ist bei der ökumenischen Organisation Justicia y Paz tätig, die in verschiedenen Regionen Kolumbiens Vertriebene bei der Rückkehr auf ihr Land begleitet und durch Beratung, Bildung und juristischen Beistand unterstützt.
Juan Pablo Soler arbeit bei CENSAT – Agua Viva (Friends of the Earth Kolumbien) zur Rolle von Bergbau für Landgrabbing sowie zu ökologischen und sozialen Konflikten, die aufgrund von Bergbauprojekten entstehen.

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