Nummer 341 - November 2002 | Uruguay

Volksküchen und Psychologen

Der uruguayische Gewerkschafter Victor Chasque über die aktuelle Krise

Der Gewerkschafter Victor Chasque arbeitet beim Instituto Cuesta Duarte, das eine Forschungseinrichtung des uruguayischen Gewerkschaftsbündnisses PIT-CNT ist. Das Institut erstellt Studien über die ökonomische und soziale Enwicklung und liefert der PIT-CNT wichtige Daten für die politische Auseinandersetzung mit den Parteien. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihm über die Krise, die das Land seit einigen Monaten fest im Griff hält (siehe LN 339/340).

Matti Steinitz

Wo liegen die Ursachen für die aktuelle Krise in Uruguay und wie äußert sich diese?

Zur aktuellen Situation haben verschiedenste Aspekte beigetragen. Neu hinzugekommen ist die Finanzkrise, die Mitte diesen Jahres ausgebrochen ist. 55 Prozent der Bankguthaben sind aufgelöst worden. Fünf Banken arbeiten nicht mehr, die Auszahlungen wurden unterbrochen. 85 Prozent der Kredite wurden in US-Dollars aufgenommen und da der Wert des US-Dollars durch die Abwertung inzwischen von 14 auf 30 Pesos gestiegen ist, wird die Zurückzahlung für viele unmöglich. Das hat schlimme Auswirkungen für die Landwirtschaft, die Industrie, den Handel und den Dienstleistungssektor, die nicht unter normalen Bedingungen arbeiten können. Tausende Personen stehen Schlange um einen Teller mit Nahrung bei den Volksküchen zu ergattern, die größtenteils ohne staatliche Unterstützung von sozialen Organisationen und Nachbarschaftsvereini-gungen organisiert wurden.
Doch was hat zu dieser Krise geführt? In einem kürzlich vom Ökonomen Luis Porto veröffentlichten Buch, das sich mit der Bankenkrise beschäftigt, wird ein holländisches Sprichwort zitiert: „Wir können zwar nicht den Wind verhindern, aber wir können Mühlen bauen.“ In Uruguay scheint die Devise anders zu lauten: „Wir können zwar nicht die Stürme verhindern, aber wir können die Türen offen lassen.“ Die Politik der Regierung Batlle und die Regulierungsmechanismen der Banken haben versagt. Die hohe Wachstumsrate der Neunzigerjahre war dem günstigen internationalem Wirtschaftsklima geschuldet. Sie ermöglichte einen hohen Kapitalfluss in die Region und eine Stabilisierungspolitik, die auf dem festen Wechselkurs basierte. Im Jahr 1999 wuchsen dann die Zweifel, ob Uruguay und Argentinien die relativ stabilen Wechselkurse angesichts der Abwertung in Brasilien aufrecht erhalten würden können. So begann die Rezession, die erst Argentinien erfasste und uns dann mit in den Strudel riss, da alle Geschehnisse im Nachbarland ansteckenden Charakter für uns haben. Der Direktor unseres Instituts Daniel Olesker hat in seinem Buch „Wachstum und Ausschluss“ die sozialen Folgen des ökonomischen Systems in Uruguay beschrieben. Nachdem man die Krise der Sechzigerjahre überwunden hatte, konnte der Reichtum in den letzten 30 Jahren verdoppelt werden. Trotzdem sind inzwischen von drei Millionen Einwohnern, 800.000 arbeitslos, 750.000 leben unterhalb der Armutsgrenze und der Durchschnittslohn ist gegenüber 1970 um zwei Drittel gesunken. Die Auswanderung steigt stetig an: Man schätzt, dass in diesem Jahr ungefähr 70.000, hauptsächlich junge Uru-guayerInnen das Land verlassen.

Wie sieht die Situation aus der gewerkschaftlichen Perspektive aus?

Die Arbeitsreform, die hauptsächlich in einer Deregulierung bestand, war Teil des Modells, das heute in Uruguay in sich zusammenfällt. Der Verlust an Regulierungsmechanismen im der nationalen Produktion hatte zur Folge, dass die Arbeitsbedingungen zunehmend unsicher geworden sind und dass sich der Reichtum sehr einseitig verteilte. Eins der größten Probleme der Gewerkschaften ist die hohe Arbeitslosigkeit. Es ist für die Gewerkschaften sehr schwierig, die vielen Arbeitslosen zu organisieren und es wurde bis jetzt kein Weg gefunden, sie in ihrem Kampf zu unterstützen. Das von der Regierung angewandte Wirtschaftsmodell führte zu einer weit reichenden Zerstörung der nationalen Industrie, die durch importierte Produkte abgelöst wurde. Der tiefe Wandel in der Struktur der Arbeiterklasse ist ein weiteres großes Problem, mit dem sich die Gewerkschaftsbewegung konfrontiert sieht.
Heutzutage finden sich die meisten ArbeitnehmerInnen nicht mehr in den Fabriken, sondern in den Supermärkten, wo es praktisch unmöglich ist, die Leute gewerkschaftlich zu organisieren. Ein Großteil der ArbeiterInnen gehört heute Sektoren an, die keine kollektive Verhandlungsbasis haben. Dadurch dominieren die Angestellten des öffentlichen Dienstes die Führung der Gewerkschaften und die Arbeitskämpfe richten sich fast ausschließlich gegen die Privatisierungen. Folglich bleiben besonders der private Sektor und die Arbeitslosen ohne Interessenvertretung in der Gewerkschaft. In den vergangenen Monaten hat es jedoch ein paar wichtige Schritte hin zu einer Koordinierung der Mobilisierung zwischen PIT-CNT und Kleinhandelsorganisationen gegeben, die sich zum Beispiel in der Gründung der so genannten Concertación para el crecimiento (Bündnis für das Wachstum) und gemeinsamen Großdemonstrationen äußerten.

Wie verhält sich die Frente Amplio zur Krise? Wird das Vorgehen mit den Gewerkschaften abgestimmt?

Die Umfrageergebnisse der Frente Amplio sind in jüngster Zeit bis auf 52 Prozent gestiegen. Das hieße, dass sie die nächsten Wahlen gleich in der ersten Runde gewinnen könnten. Colorados und Blancos (die beiden konservativen Regierungsparteien) könnten momentan lediglich jeweils 15 Prozent auf sich vereinigen. Das spielt aber keine besonders große Rolle, da die Wahlen erst Ende 2003 stattfinden. Die Popularität, die die Opposi-tion im Moment genießt, ist aber nicht unbedingt Resultat der Politik der FA, sondern vielmehr Ausdruck der großen Unzufriedenheit mit der desaströsen Regierungspolitik von Präsident Jorge Batlle geschuldet. Die FA hat die Lust verloren, konkrete Vorschläge für alternative Lösungen zu machen, da diese von der Regierung mit nichts als destruktiver Kritik bedacht wurden. Außer einer Beteiligung in der Concertación hat es von Seiten der FA keinerlei Abstimmung mit den Gewerkschaften gegeben. Die Gewerkschaftsbewegung hat sich ein gesundes Maß an Autonomie bewahrt. Es hat sogar erhebliche Diskrepanzen gegeben, wie in Montevideo, wo es zu vielen Auseinandersetzungen mit der Kommunalverwaltung von Bürgermeister Mariano Arana (FA) gekommen ist. Es gibt natürlich auch viele Übereinstimmungen, wie zum Beispiel in der Verteidigung des öffentlichen Sektors gegen Privatisierungen. Zugegebenermaßen stehen die meisten GewerkschaftlerInnen der FA sehr nahe, aber man muss wirklich sagen, dass auch dieses Parteienbündnis im Moment kein klares Programm für einen Ausweg aus der Krise anzubieten hat.

Wie siehst du die Chancen des FA, die nächste Wahl zu gewinnen?

Der Wahlsieg ist wahrscheinlicher als bei den letzten beiden Wahlen. Aber man darf nicht vergessen, dass es noch immer viele Menschen gibt, die große Angst vor der FA haben. Nicht umsonst greift Ex-Präsident Sanguinetti des Öfteren auf den alten Diskurs von der „marxistischen Gefahr“ zurück, um die Linke anzugreifen. Es wird auch häufig vor den gefährlichen Folgen, die von populistischen Regierungen wie der von Chávez in Venezuela ausgehe, gewarnt, um linke Reformprojekte wie das von Lula in Brasilien und die FA hier in Uruguay zu diskreditieren. Sie werden als unverantwortlich, unseriös und antinorteamericano dargestellt, um den Leuten Angst zu machen. Wenn man die Geschichte Lateinamerikas studiert, stellt man jedoch fest, dass die meisten populistischen Regierungen von der Rechten gestellt wurden.

Kann man die Situation in Uruguay mit der in Argentinien vergleichen? Besteht die Möglichkeit ähnlich gewalttätiger Auseinandersetzungen ?

Der Vergleich ist nur möglich, wenn man ihn auf das Scheitern des ökonomischen und sozialen Modells bezieht, das in beiden Ländern untergegangen ist. Trotz aller Unterschiede existieren auch in Uruguay Bedingungen für eine soziale Rebellion. Sowohl die Gewerkschaftsbewegung als auch die Parteien und andere Organisationen haben hier einen höheren Stellenwert. Beispielsweise führte die Bankenkrise in Argentinien zu gewalttätigen Angriffen auf die Filialen, während hier in Uruguay die Gewerkschaft der Bankangestellten eine entscheidende Rolle bei der Organisierung der verschuldeten Klienten und Verhandlungen mit der Regierung gespielt hat. In Argentinien gibt es keine oppositionelle Kraft die 52 Prozent der Stimmen auf sich vereinen könnte. Der bekannte argentinische Journalist Jorge Lanata von der Zeitung Pagina12 hat mal gesagt: „Sogar bei der Organisierung einer Volksküche unterscheidet ihr uruguayos euch von uns. Zusätzlich zum Essen stellt ihr noch einen Psychologen hin, der sich um die Leute kümmert.“ Während sich in Argentinien die piqueteros ziemlich gewalttätiger Methoden bedienen, neigt man hier eher zu anderen Protestformen, die auf eine umfassende Organisation und praktische Lösungen ausgerichtet sind.

Hat der vorausichtliche Sieg von Lula in Brasilien großen Einfluss?

Scheinbar nicht. Lula wird in Uruguay weder als Gefahr noch als Rettung angesehen. Es ist schwer vorstellbar, dass sein Sieg einen substantiellen Wechsel bringen werde. Die einzige Hoffnung besteht darin, dass Brasilien verstärkt Produkte von Uruguay kaufen könnte, aber das scheint angesichts der gravierenden ökonomischen Probleme beim großen Nachbarn im Norden keine sehr realistische Perspektive zu sein. Eine andere interessante Möglichkeit könnte darin bestehen, dass wieder mehr Energie in die Stärkung des Mercosur investiert wird. Daran ist die Regierung von Batlle keineswegs interessiert, da sie eher auf die Freihandelszone ALCA setzt. Batlle spekuliert auf die Instabilität in Argentinien, das ob der ungeklärten Machtverhältnisse bis zu den nächsten Wahlen nichts zu einer Renaissance des Mercosur beitragen kann.

Wie hat es Präsident Batlle geschafft, im Gegensatz zu Argentinien, so viel Unterstützung von den USA, dem IWF und der Weltbank zu bekommen?

Das hat unterschiedliche Gründe. Einerseits handelt es sich um eine Regierung, die extrem viel Vertrauen in die Zusammenarbeit mit den USA und den internationalen Organismen gesteckt hat. Den USA wurde kürzlich von Uruguay der Gefallen getan, in Vertretung die Klage gegen Kuba vor der UN-Menschenrechtskommission einzureichen und als Folge sogar einen Bruch der diplomatischen Beziehungen mit der Insel in Kauf zu nehmen (siehe LN 336). Andererseits musste gezeigt werden, dass es sich lohnt, nicht dem von Argentinien eingeschlagenen Weg zu folgen, das sich zeitweilig geweigert hatte, die Auslandsschuld weiter zu bedienen. Ein anderer Aspekt besteht darin, dass die finanzielle Unterstützung natürlich an viele politische Bedingungen geknöpft ist. In einem Land, das sich bis jetzt durch Plebiszite erfolgreich gegen größere Privatisierungsprojekte gewehrt hat, wird es natürlich leichter, gewisse Ziele zu verfolgen. Jetzt folgt eine Niedrigpreisversteigerung der natürlichen Ressourcen und der staatlichen Unternehmen und was sonst noch so alles gewünscht wird.

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