Literatur | Nummer 401 - November 2007

Vom Geist der Ruinen

Portrait des kubanischen Schriftstellers Antonio José Ponte

Unter apokalyptischem Zeichen entsteht Kunst der Ruinologie und Literatur in einer Zwischenwelt.

Martina Buschmann

Woher kommt die dekadente Faszination am urbanen Verfall? Was ist so charmant anziehend und gleichzeitig lustvoll skandalös an der Erkundung alter Gebäuderuinen? Fragen wie diesen geht der kubanische Schriftsteller Antonio José Ponte seit 1995 in seiner Poesie und Prosa nach. Seine Texte sind dabei häufig von einer Atmosphäre bedeutungsvoller Abwesenheit und nostalgischer Wünsche geprägt. Davon konnte man sich anlässlich des Internationalen Literaturfestivals Berlin im September bei einer Lesung Pontes überzeugen. Als der Dichter mit dem verschlossenen Blick das Gedicht „La promesa mayor“ (Das größte Versprechen) klangvoll vorträgt, wird auch das Publikum unweigerlich in eine melancholische Stimmung der Abwesenheit versetzt: „Un aire venido del mar levanta las cortinas, las deja caer, y puede que a esta hora signifique algo.“ (Eine Meeresbrise hebt die Vorhänge, bringt sie zu Fall und vielleicht hat das zu diesem Zeitpunkt etwas zu bedeuten.)
In zahlreichen Gedichten, Kurzgeschichten und essayistischen Romanen thematisiert der selbsternannte Ruinologe die verfallenen Altbauten Havannas in unterschiedlichen Kontexten. Sie verleihen der Stadt immer wieder eine Aura apokalyptischer Fiktion. Jene Aura empfindet der 1964 in Matanzas geborene Autor nicht nur beim Gedanken an Kubas Hauptstadt, sondern ebenso im Hinblick auf die Geschichte und politische Situation des Landes. „Seit wir klein sind, werden wir darauf vorbereitet, dass ein Angriffskrieg unmittelbar bevorsteht. Das zeigt sich sogar in Kinderspielen. Seit 1959 ist die Apokalypse eine Konstante im kubanischen Denken.“
Diese Apokalypse ist bisher nicht eingetreten und die offizielle Präsentation Kubas erhält nach außen ungebrochen viel Sympathie, deshalb erscheint Ponte sein Land zunehmend als fiktiv. Sogar fiktiver als andere Länder: „Es gibt außerhalb des Landes viele Legenden zu Kuba. Die Vorstellungen, die um Kuba ranken, sind aufgrund ihrer mythologischen Konsistenz viel fiktiver als z.B. bei Argentinien oder Guatemala.“ Allerdings scheint der fiktive Zustand des Landes nicht im Widerspruch zu Pontes eigenem Leben und literarischem Schaffen zu stehen. „Es ist nicht so, dass Kuba eine Fiktion ist und ich es nicht wäre. Auch mein eigenes Leben erscheint mir als eine Fiktion. Es kommt immer ein Punkt, an dem alles unwirklich wird. Deshalb spreche ich über Fiktion. Auf diese Art nähert man sich einer Literatur, die oft sehr glaubwürdig wirken kann, aber sie kommt immer zu der Wendung, an der man erkennt, dass sie nicht die Realität verkörpert.“
Aber was hat Fiktion mit Ruinen zu tun? Die Antwort liegt im Verhältnis des Autors zu Havanna. „Diese Stadt zu lieben bedeutet nicht nur die Präsenz, sondern auch die Abwesenheit zu lieben.“ Ruinen als Symbolkraft des Abwesenden. Jene bezeichnet der gelernte Hydraulikingenieur mit den ernsten braunen Augen jedoch nur als eine seiner zahlreichen literarischen Obsessionen. Der Geist der Ruinen zieht sich dennoch wie ein roter Faden durch Pontes Werk. Davon zeugen der Gedichtband „Asiento en las ruinas“ (Sitzplatz in den Ruinen) oder die Kurzgeschichte „Un arte de hacer ruinas“ (Die Kunst, Ruinen zu erschaffen). Diese handelt von einem Architekturstudenten, der seine Abschlussarbeit über die so genannten Barbacoas, die Zwischengeschosse in Havanna, schreiben will.
Dafür sucht der Protagonist eigentlich längst unbewohnbare Häuser auf und dringt in das Leben ihrer BewohnerInnen ein. Es geht dabei nicht vordergründig um die Beschreibung des Zustandes maroder Altbauten, sondern um Ruinen als universale Metapher für die Verwaltung von Zeit, als Erscheinungsformen von Alter und Tod, das Auftauchen und Verschwinden von Lebensformen.
Neben jenen emblematischen Aspekten stehen die Ruinen Havannas aber auch für ein kritisches Statement gegenüber der kubanischen Stadtplanung. Besonders in dem von Ponte mitgestaltetem Dokumentarfilm „Die neue Kunst, Ruinen zu bauen“ kommt das zum Ausdruck. In ihm wird auf den problematischen und bisweilen lebensgefährlichen Alltag von Menschen aufmerksam gemacht, die aufgrund von knappem Wohnraum in einsturzgefährdeten Gebäuden leben müssen. Er zeigt betroffene Personen bei ihrer Alltagsgestaltung, so z.B. beim Kampf gegen die ins Wohnzimmer hinein fließenden Abwässer. Oftmals sind es poetisch-philosophische Reflexionen über ein Leben in Havannas maroden Altbauten, die die begleitende Kamera einfängt. Auch Ponte selbst führt den Zuschauer als Interviewpartner mit fester rauer Stimme durch das Ruinenlabyrinth. Zu dieser Zeit hatte er sich bereits mit seinem literarischen Schaffen bei der Schriftsteller- und Künstlervereinigung Kubas unbeliebt gemacht und als Konsequenz ein mehrjähriges Publikations- und Ausreiseverbot auferlegt bekommen.
Grundsätzlich scheinen die Veröffentlichungen Pontes nicht nur inhaltlich, sondern auch im Hinblick auf literarische Ästhetiken aus dem nationalen Rahmen zu fallen. Denn der Lyriker, Essayist, Erzähler und Drehbuchautor setzt sich zwar wie die einstigen Wegbereiter der kubanischen Neobarockliteratur mit der Gestaltung des leeren Raums auseinander, jedoch nicht mit der Absicht, diesen im Sinne des „horror vacui“ zu füllen. Vielmehr geht es ihm darum, das Abwesende zu betonen. „Ich bin nicht Teil dieser barocken Mehrheitsströmung Kubas: Mich interessiert es, auf die Armut mit einem Stil der Einfachheit zu antworten und nicht mit einem Stil der Fülle.“ Was jedoch die literarische Orientierung Pontes angeht, so kennt diese keine expliziten geographischen oder geschichtlichen Abgrenzungen. Ob Virginia Woolf, Jean Paul Sartre, Johann Wolfgang von Goethe, Fernando Ortiz, Guillaume Apollinaire, Émile M. Cioran oder Marcus Tullius Cicero – seine Inspirationsquellen sind äußerst vielfältig.
Seit 2006 lebt der mit Einreiseverbot nach Kuba belegte Ponte in Madrid und ist Mitherausgeber der dort erscheinenden regimekritischen Monatszeitschrift „Encuentro de la Cultura Cubana“ (Treffen mit der kubanischen Kultur). Außerdem arbeitet er an einem Essay über das Verhältnis zwischen Ruinen und der Erinnerungskraft. Und mittlerweile ist man auch außerhalb des spanischsprachigen Raumes, in Frankreich und Deutschland, auf den unkonventionellen und vielseitigen Schriftsteller aufmerksam geworden. So erscheint sein jüngster Roman „La fiesta vigilada“ (Das überwachte Fest) im Herbst 2008 in deutscher Übersetzung. Dabei geht es um die surreale Rückkehr des Erzählers in Kubas Hauptstadt nach einem 25-jährigen Einreiseverbot. Ob die Übersetzung des Buches dann auch den apokalyptischen Geist der Ruinen in sich tragen wird, bleibt abzuwarten.

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