Film | Nummer 404 - Februar 2008

Vom gekreuzigten Schmetterling

Der Nicaragua gewidmete Film El Camino von Ishtar Yasin

Volkmar Liebig und Anja Witte

Darío schweigt. Er kann dem Entschluss seiner älteren Schwester Saslaya, Nicaragua zu verlassen, nichts entgegensetzen. Der kleine Junge mit dem großen Namen ist nämlich stumm. In der Welt der beiden Geschwister hat der zukunftsweisende Dichter der lateinamerikanischen Moderne Rubén Darío seine Stimme verloren, stattdessen sind Zerrüttung und Perspektivlosigkeit eingekehrt.
Saslaya und Darío sind zwei Kinder, die in der einfachen Bretterhütte des Großvaters leben. Die Mutter der zwei ist vor langer Zeit zwecks Arbeitssuche nach Costa Rica ausgewandert, der Vater ist tot. Die beiden bestreiten ihr Leben, indem sie Müll auf einer Halde nach verwertbaren Gegenständen durchsuchen. Neben dieser Arbeit hat die zwölfjährige Saslaya zusätzlich die Rolle als Daríos Ersatzmutter und Haushälterin inne, wenn sie nicht am Schulunterricht teilnimmt. Ihre Entscheidung, acht Jahre nach dem Abschied von der Mutter auf deren Spuren gen Costa Rica zu ziehen, rührt jedoch nicht von der großen Bürde, die sie in jungen Jahren schon zu tragen hat. Vielmehr will sie vor einem noch größerem Übel fliehen: dem Missbrauch durch ihren Großvater.
Der Film El Camino („Der Weg“) der costaricanischen Filmemacherin Ishtar Yasin erzählt die Reise der zwei Geschwister von Nicaragua nach Costa Rica, ihre Suche nach einem besseren Leben und ihrer Mutter. In semi-dokumentarischen Filmstil werden die Kinder dabei von der Kamera begleitet, wie es zu Fuß nach Managua, mit dem Bus nach Granada und dann mit dem Boot zur Isla de Ometepe und über den Lago de Nicaragua zur Grenze nach Costa Rica geht. In sehr deskriptiver Weise werden die Kinder an den verschiedenen Orten gezeigt, es wird kaum gesprochen.
Die Perspektive, die dabei eingenommen wird, ist die der beiden Geschwister selbst. So scheint alles in der großen Welt, in die sie nun eintreten neu, teils chaotisch, teils surreal. Darío geht fast verloren auf einem der großen Märkte in Managua, die Maskentänze auf dem Jahrmarkt in Granada scheinen sonderbar, was durch leicht mystische Musik unterstrichen wird. Seltsame Gestalten teilen den Weg der Kinder Richtung Costa Rica. Zusätzlich schnallt die Filmemacherin einen überbordenden Rucksack an Metaphern und Symbolik auf die schmalen Schultern der beiden Geschwister. Eine über diese Rahmenhandlung hinausgehende Story gibt es kaum. Nur dass der Weg, den die Kinder beschreiten, jedes Jahr von vielen NicaraguanerInnen eingeschlagen wird, fließt immer wieder über Radioberichte oder Gespräche im Hintergrund ein. Somit ist das Schicksal der Kinder nicht einzigartig und der Film verschiebt sich trotz seiner um Realismus bemühten Kamera zu einer märchenhaften und sehr symbollastigen Parabel. „Der Weg“, den die beiden gehen, wird zur Metapher für die frustrierte Flucht ins Unbekannte vieler NicaraguanerInnen, deren Leben in der alten Heimat stagniert. Wie Saslaya und Darío wollen sie einem Leben voller Zwänge und Fremdbestimmung entkommen, ohne zu wissen wie. Bedeutungsschwanger lässt die Filmemacherin Yasin zu Beginn des Filmes den Großvater den echten Rubén Darío zitieren, dessen Worte keine Perspektive mehr bieten, das vorausahnbare Scheitern der Flucht wird schon vor ihrem Anfang belegt: „Pilger, du suchst umsonst nach einem besseren Weg als deinem eigenen. Du wirst deine Bestimmung nie finden.“
Nach einer Weile scheint alles im Film eine doppelte symbolische Bedeutung anzunehmen: Tiere, Menschen und Gegenstände, zerbrochenes farbiges Glas, durch das die Welt rosarot schimmert oder in apokalyptische Farben getaucht wird.
Freundschaft schließen die zwei mit einem Kind in Granada, das auf der Straße Cashewnüsse verkauft und genau wie Darío eine Art Holzflöte spielt. Es begleitet sie auf den Jahrmarkt und informiert sie darüber, wie sie am besten ins südliche Nachbarland gelangen. Liebend gern würde auch er mitkommen, „da hier zu leben es nicht wert ist“. Doch als das Boot nach Ometepe ablegt, lassen Saslaya und Darío den Freund zurück.
Als costaricanische Beamte die Gruppe papierloser NicaraguanerInnen, mit der die zwei ins südliche Nachbarland gelangen wollen, an der grünen Grenze aufspüren und beschießen, verliert Saslaya ihren kleinen Bruder endgültig aus den Augen. Saslaya muss sich jetzt entscheiden wie es weitergeht: Soll sie zurückgehen oder ihren Weg fortsetzen? In dieser Situation erscheint ihr Darío im Halbschlaf und bittet sie, nach Hause zurückzukehren. Bedeutungsvolle Worte, wenn man bedenkt, dass der Junge sein ganzes Leben lang geschwiegen hat und sich nun im Namen des großen Dichter Darío artikuliert. Trotz allem entscheidet sich Saslaya gegen Daríos Rat und kommt schließlich in San José an, wo – soviel sei schon verraten – kein besseres Leben auf sie wartet. Ein gekreuzigter Schmetterling im Puppenspiel eines der skurrilen Reisegefährten der Kinder wird zum unglücklichen Symbol für die nicht endenden Leiden des Mädchens. In einem „play-in-the-play“ à la Shakespeare wird ihr Schicksal vorweggenommen: Ihr Weg hat sie am Ende nur im Kreis geführt.
El Camino ist trotz der lebendigen Beobachtungen des nicaraguanischen Alltags letztlich ein sehr düsterer Film, der auf der Berlinale im Rahmen einer Reihe über verlorene Kindheit gezeigt wird. Ishtar Yasin will laut eigener Aussage mit ihm insbesondere auf das Schicksal nicaraguanischer Kinder aufmerksam machen, die sich in der Realität auf die Suche nach ihren Eltern in Costa Rica begeben. Auch die beiden HauptdarstellerInnen Sherlin Paola Velásquez (Saslaya) und Marcos Ulises Jímenez (Darío) sind nach dem Kriterium ausgewählt worden, selbst schon ähnliche Erfahrungen gemacht zu haben. Besonderen Wert legt die Regisseurin dabei gerade auf die Sichtbarmachung der drastischen Konsequenzen, wie dem sexuellem Missbrauch, die das Verlassenwerden im Kindesalter mit sich bringen kann. Vor allem in den Schlüsselszenen gelingt ihr dies auch, allerdings ist die sich über weite Strecken des Filmes ziehende Mischung aus purer Beobachtung der Figuren und überladenem Symbolismus eher etwas für schwelgende Gemüter.

El Camino („Der Weg“) von Isthar Yasin, Costa Rica 2007, 90 Minuten, läuft auf der Berlinale vom 7.-17. Februar im Forum-Programm

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