Nummer 346 - April 2003 | Theater

Vom Putsch zur Transformation

Welche Wege bestreiten chilenische Theatergruppen?

In den achtziger Jahren erlebte die junge und kreative Theaterszene in Chile einen Höhepunkt. Die KünstlerInnen entwickelten neue Ausdrucksformen, mittels derer sie sich mit den traumatisierenden Erfahrungen von Putsch und Diktatur auseinandersetzten. Die künstlerischen Impulse von damals zeigen auch heute noch ihre Wirkung: sie inspirieren und ermutigen junge chilenische Theaterschaffende, eigene Wege zu gehen.

Britta Witt

Alles begann und endete zugleich mit dem Auftritt des Kapitäns eines sinkenden Schiffes, der seinen letzten Monolog an das Volk richtete. Nur wenige Stunden nach dem Auftritt wurde Oscar Castro, der den Kapitän im Theaterstück Y al principio existía la vida (Und am Anfang war das Leben) spielte, von der politischen Polizei verhaftet: die Figur des Kapitäns erschien dem Regime wohl als zu gefährliche Anspielung auf den gerade gestürzten Präsidenten Allende.
Der Regisseur und Schauspieler Castro, eine der zentralen Persönlichkeiten der kritischen Theaterszene in Chile, wurde in ein Gefangenenlager gesperrt, wo er trotz der schwierigen Bedingungen seine Arbeit fortsetzte. Nach zweijähriger Gefangenschaft flüchtete er 1976 ins Exil nach Paris.
Ähnlich erging es zu Beginn der Militärdiktatur in Chile zahlreichen KünstlerInnen und Intellektuellen, die versuchten gesellschaftliche oder politische Themen anzusprechen. Viele von ihnen verschwanden nach der Inhaftierung spurlos. Die kulturelle Arbeit frei von staatlicher Kontrolle, Zensur und sozialer Ausgrenzung fortzusetzen, war für sie nur im Exil möglich.
Doch die Theaterleute, die im Land blieben, lernten mit den radikalen Einschränkungen der öffentlichen Rechte und dem Risiko umzugehen. In Abgrenzung von den etablierten kommerziellen Theatern fanden sie Wege und Mittel eine unabhängige Theaterszene aufzubauen, die in den achtziger Jahren zu einem Höhepunkt gelangte.

Theater unter der Militärdiktatur

La Troppa ist eine der wichtigsten Gruppen, die in dieser turbulenten Zeit entstand und bis heute durch ihren unverwechselbaren Stil national und international für Aufsehen sorgten. Anfang der achtziger Jahre lernten sich Laura Pizarro, Jaime Lorca und Juan Carlos Zagal während ihres Schauspielstudiums an der Universidad Católica kennen und gelten seitdem als unzertrennliche Gruppe. Anfangs traten sie auf als Los que no estaban muertos, also als „die, die nicht tot waren“. Der Name bezeichnete ihre Generation, die sich beständig von den Älteren erzählen lassen musste, wie phantastisch alles vor dem Militärputsch gewesen sei. Die Suche nach eben diesem Verlorengegangenen konfrontierte das Trio mit einem schier aussichtslosen Weg: „Es war, als ob man von weitem die Lichter der Stadt betrachtet und sagt: ‘Schau mal, was da hinten passiert.’“, erinnert sich Juan Carlos Zagal. „Dann gehst du da hin und siehst wie sich die Lichter wieder ganz weit entfernen.“
In ihren ersten drei Inszenierungen El santo patrono (Der heilige Patron 1987), Salmón-Vudú (1988) und El Rap del Quijote (Der Rap des Quijote 1988) entwickelten die drei eine poetische und kreative Bild- und Szenensprache, die bei den ZuschauerInnen längst verloren geglaubte phantastische Assoziationen und Visionen hervorriefen. Viele DramaturgInnen fühlten sich durch die institutionalisierte Stille der Diktatur herausgefordert, eine neue Art von Bühnenkunst zu entwickeln, die sich von den vorherrschenden Merkmalen einer allgemeinen Ästhetik abgrenzte. Das Theater brauchte einen Wechsel des Stils, der Technik und Vorgehensweisen, um einen anderen Blickwinkel auf die Welt zu erreichen. Los que no estaban muertos gelang dies insbesondere dadurch, dass sie Gestik, Bewegung, Musik, Tanz, Poesie und Akrobatik auf eine neue Art und Weise nutzten und verbanden. In ihren Stücken erforschten sie grausame Realitäten, entdeckten aber auch neue magische Welten und fingen so an, zu träumen und zu hoffen.

Rückkehr zur Demokratie

Nach der Diktatur nahm sich das Theater der Aufgabe an, die politische Vergangenheit auf der Bühne zu verarbeiten. Die Gruppe, die von nun an unter dem Namen La Troppa (Die Truppe) auftrat, knüpfte an ihre früheren Ideen an. Theater machen war und ist ihrer Meinung nach ein „spiritueller Krieg“, um sich gegen hierarchische Strukturen zu behaupten. Als erklärte Feinde der machtvollen, zentralen Position des Regisseurs lehnten sie die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und insbesondere die Arbeit für das Fernsehen strikt ab. La Troppa widmete sich stets ausschließlich der Theaterarbeit im Kollektiv und hielt selbst in den schwierigsten Momenten an diesem Prinzip fest.
1990 errang die Gruppe mit dem Stück Pinocchio den ersten großen Erfolg. Es folgten die Inszenierungen von Lobo (Wolf 1992) und Viaje al centro de la tierra (Reise in den Mittelpunkt der Erde1995). Mit großer technischer Perfektion, neuen Verknüpfungen von Licht, Raum und Zeit sowie kineastischen Stilmitteln beeindruckten sie das Publikum jeden Alters.
Für internationales Aufsehen sorgten sie dann nach einer längeren Pause mit dem Stück Gemelos (Zwillinge 1999), einer Adaption des Romans Das Große Heft von Agota Kristof. Gemelos erzählt die Geschichte zweier Zwillingsbrüder, die während des Zweiten Weltkrieges bei der Großmutter aufwachsen, die im ganzen Dorf als Hexe verschrieen ist. Das Szenario glich einem Puppentheater mit Masken und Marionetten, in dem die AkteurInnen durch ihre abgehackten Bewegungen und Sprache selbst zu Puppen wurden. Sie beeindruckten durch eine pantomimische und emotionslose Darstellung der üblen Lebensbedingungen der Zwillinge im Kontrast zu einer verspielten Kinderwelt voller Humor und Ironie. Gleichzeitig verarbeiteten die AkteurInnen auch einen Teil ihrer eigenen Kindheit und Vergangenheit in der Inszenierung.
Ihr neuestes Stück Jesús Betz, das auf einem Kinderbuch von Fred Bernard und François Roca basiert, ist seit März diesen Jahres in Frankreich zu sehen. Es erzählt die Geschichte von einem Menschen ohne Arme und ohne Beine, der sein Leben lang erniedrigt wird. Als auch noch sein Sehkraft nachlässt, muss er seine Arbeit als Späher auf dem Ausguckmast eines Schiffes aufgeben und als Attraktion im Zirkus auftreten. Die Inszenierung ist eine Koproduktion verschiedener französischer Theater, in denen La Troppa in den nächsten vier Monaten auftreten wird.
Auch in dieser Aufführung finden sich die Elemente wieder, die ihre Kollektivarbeit über Jahre gekennzeichnet haben: die ungewöhnlichen Ausdrucks- und Sprachmittel, die extravaganten Bühnenbilder, Masken, Puppen, die selbst produzierte Musik und die nie erschöpfte Suche nach dem Verlorengeglaubten. Und so beweist La Troppa auch 30 Jahre nach dem Putsch La immer noch eine Ausnahmestellung in der chilenischen Theaterszene.

KASTEN:

Junge chilenische Theatergruppen:

Teatropan
Die Gruppe Teatropan (Paulina Casas, Jaime Reyes und Erico Vera) entwickelte in ihrer neuesten Inszenierung Alicia en el espejo (Alicia im Spiegel 2003) ein Szenario, wie aus einem Comic oder einem Computerspiel. Die drei DarstellerInnen agieren mit Hilfe von Masken, Puppen, Gestus und Stimme in dreizehn verschiedenen Rollen. Die Bühne gleicht einem Bild des holländischen Künstlers M.C. Escher und spielt laut DarstellerInnen die Hauptrolle in dem Stück. Teatropan arbeiten genau wie ihr großes Vorbild La Troppa ausschließlich im Kollektiv und sind für Dramaturgie, Regie, Bühne und Musik selbst verantwortlich. Schon früh entwickelten sie eigene ästhetische Positionen und eine Theaterideologie. Das Stück Alicia en el espejo bescherte ihnen nun den ersten großen Erfolg.

Teatro enSímenor
Das junge Ensemble Teatro enSímenor um Alvaro Viguera (Regisseur), Francisca Ortiz, Marion Acuña, Cristóbal Muhr, Matías Oviedo, Pilar Becerra und Natalia Grez arbeitet seit 1999 zusammen. Zuletzt waren sie mit einer adaptierten Fassung Saint-Exupérys Der Kleine Prinz in Berlin zu sehen. Ideen und Stücke kommen aber hauptsächlich von ihnen selbst: Alvaro Viguera und der Schauspieler und Dramaturg Andrés Kalawski schreiben die Dramentexte, die ihnen als Vorlage dienen. Viele Ansätze entstehen in Gemeinschaftsproduktion innerhalb der Gruppe, die zusammen nachdenkt und diskutiert, bis dann eine konkrete Idee im Raum steht. „In unseren eigenen Stücken versuchen wir das zu finden, was uns fordert: die eigenen Gefühle. Wir wollen eine eigene Sprache entwickeln, um eigene Wörter hervorzubringen”, erzählt Pilar Becerra.
Verlassene Minen, leer stehenden Lagerhallen oder Häuser dienen ihnen als Bühne: Nur hier können sich die Geschichten voll entfalten, denn diese Orte erzählen parallel zu den Stücken bereits ihre eigene Geschichte, an die Teatro enSímenor anknüpfen wollen. Im Vordergrund stehen Themen wie zwischenmenschliche Beziehungen, Tabus, Einsamkeit oder mangelnde Zärtlichkeit – nur politische Themen finden keinen Platz. Natalia Grez erklärt: „Es gab eine Zeit, in der alles gesagt werden musste, was während der Diktaur nicht gesagt werden konnte. Kino, Theater und Tanz, alle Kunstformen entdeckten im Politischen und in den Themen, die das Militärregime zerstört hatte, eine neue Sprache, die sie erleichterte. Aber auch hier kam es bald zu einer Sättigung. Und obwohl es unmöglich ist, unsere Geschichte zu vergessen, das Theater bewegt sich weg vom politischen Thema und schlägt verschiedene neue Richtungen ein.

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