Asien | Lateinamerika | Nummer 327/328 - Sept./Okt. 2001

Von alten Männern und falschen Zöpfen

In Havannas Chinesenviertel gibt es noch einem Hauch chinesischer Lebensart, aber bald keine Chinesen mehr

15.000 Chinesen lebten einmal im Chinesenviertel Havannas und bildeten eine der größten chinesischen Gemeinde Lateinamerikas. Nach Jahrzehnten des Verfalls wird das Barrio Chino nun wieder hergerichtet – für den Tourismus.

Knut Henkel

Die Sonne steht hoch am Himmel über Havannas Chinatown. Unbarmherzig brennt sie auf die Marktstände am Rande der Altstadt nieder. Seit den frühen Morgenstunden steht Luis Chang in einem der weißlackierten Blechcontainer und verkauft Obst und Gemüse. Der Duft von reifen Früchten hängt in der Luft. Fliegen tummeln sich auf einer aufgeschnittenen Orange, spazieren über frische Paprika und lassen sich auf einer Papaya nieder – bis Luis sie mit einem Palmwedel verscheucht. Der kleine Mann schaut auf seine silberne Armbanduhr. Es ist kurz vor zwölf, Zeit zum Mittagessen.
Er nimmt sich einige Peso aus der Kasse, zieht einen kleinen Beutel aus den adrett aufgeschichteten Auslagen hervor und lässt ihn in einer Tasche seines Hemdes verschwinden. Mit einem freundlichen Kopfnicken verabschiedet er sich von den Kollegen im Container in die Mittagspause.
Er hat es nicht eilig, denn es sind nur wenige Meter bis zur Residencia China, seinem Zuhause, wo er gemeinsam mit elf anderen gebürtigen Chinesen wohnt. Vor zwei Jahren ist er in das Altenheim eingezogen. In der eigenen Wohnung wurde es dem 69-Jährigen mit dem pechschwarzen, sauber gestutzten Haarschopf zu einsam. Familie hat Luis genauso wenig wie sein Freund Rafael Chang, der in der Küche der Residencia den Kochlöffel schwingt.
Lächelnd zieht Luis das Beutelchen aus der Tasche seiner Guayabera, dem kubanischen Nationalgewand, und überreicht es dem weißhaarigen schlacksigen Koch mit der fleckigen Schürze. Mit seinen 85 Jahren steht Rafael immer noch gern am Herd und mit großen Augen öffnet er den Beutel. „Jengibre“ – Ingwer ruft er freudig und täschelt dem Freund dankbar die Schulter.
Gewürze sind rar in Kuba und Rafael fehlen oft die Zutaten, um so zu kochen, wie er es von früher her gewohnt ist. „Es wird kaum etwas aus China importiert“, klagt er, „und fast alles wird nur gegen Dollar verkauft.“ Dollar besitzt der alte Koch, der aus Foshan, einer Stadt in der Nähe Hongkongs stammt, jedoch nicht. Umso mehr freut er sich, wenn ihm Luis etwas vom Markt mitbringt.

Waschechte Chinesen im barrio chino

1929, mit dreizehn Jahren, hat Rafael China gemeinsam mit seinen Eltern verlassen, die in Kuba ihr Glück suchen wollten und sich in Villa Clara ansiedelten. „Zeitlebens haben sie davon geträumt zurückzukehren, aber irgendwann waren sie zu alt für die Reise“, erzählt Rafael, der bei ihnen blieb und vor fünf Jahren nach Havanna übersiedelte. Geheiratet hat er genauso wenig wie Luis, der aus der gleichen Provinz stammt, jedoch fast sein ganzes Leben in Havannas Chinesenviertel verbracht hat.
Die beiden gehören zu den rund 300 waschechten Chinesen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einwanderten und heute noch in Kuba leben. „Damals gab es eine große chinesische Gemeinde in Kuba, und Havannas barrio chino war das lebendigste Lateinamerikas“, sagt Luis. Zahlreiche Vereine, sozialer, kultureller und geschäftlicher Natur, überzogen das Viertel wie ein Netz und waren Anlaufstelle nicht nur für Neuankömmlinge. Dort gab es Hilfe bei der Wohnungs- und Arbeitssuche und Vertrautes fernab der Heimat. Einige dieser Vereine haben bis heute überlebt. So zum Beispiel das Casino Chung Wah, das älteste und wichtigste Zentrum der chinesischen Gemeinde in Kuba. Hier treffen sich die Alten wie Luis und Rafael, um über längst vergangene Zeiten zu plaudern, die chinesischen Feiertage zusammen zu begehen oder der zweiten und dritten in Kuba aufgewachsenen Generation zu erklären, was sie beziehungsweise ihre Eltern nach Kuba geführt hat.

Zuckerrohrschneiden für 4 Pesos im Monat

Die Ersten von insgesamt rund 150.000 Chinesen setzten 1847 ihren Fuß auf die Insel: 206 Bauern waren es, die für die Zuckerrohrernte angeworben wurden. Acht Jahre sollten sie auf den Plantagen für 4 Peso im Monat schwitzen. Wer die Tortur überstand, musste sich eingestehen, dass mit den wenigen Peso, die am Ende übrig blieben, der Weg nach Hause verbaut war. Also siedelten sie sich unter elenden Bedingungen rund um Havannas Abwasserkanal, die Zanja, an. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wuchs auch das Chinesenviertel. Neuankömmlinge aus den Nachbarländern, vor allem den USA, investierten: Eine Importgesellschaft entstand, genauso wie Theater, Kinos, Apotheken, Opiumhöhlen oder das Casino. Nicht nur im Handel spielten die Chinesen eine Rolle, auch an den kubanischen Unabhängigkeitskriegen nahmen sie teil. Bekanntestes Beispiel ist der Teniente Tankredo, der es bis zum General im zweiten Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien brachte. Nach der kubanischen Revolution von 1959, die von den Chinesen mit einem eigenen Milizbataillon unterstützt wurde, verblassten die Zeugnisse des chinesischen Einflusses, die im Casino lebendig gehalten werden, zusehends.
Dem Untergang des barrio chino und dem Vergessen der chinesischen Kultur wird seit einigen Jahren allerdings nicht mehr tatenlos zugesehen. Einige engagierte Nachkommen chinesischer Einwanderer haben sich 1992 zusammengefunden, um zu retten, was zu retten ist. An die eigene Tradition will man anknüpfen, das Viertel wiederbeleben und zu neuer Größe aufpäppeln, erklärt Elisa León, Mitglied der „Gruppe der Förderer des Chinesenviertels“. Die 49-jährige chinesischstämmige Biologin, arbeitet seit 1993 in der Organisation. Aus der Suche nach der eigenen Identität, mit der für sie alles begann, ist längst ein neuer Beruf geworden. Ihre Arbeit an einem Forschungsinstitut hat sie aufgegeben, was kaum möglich gewesen wäre ohne die Hilfe der Regierung, die sich dazu entschied, die Arbeit der Gruppe zu unterstützen. Sie wurde zur Regierungsorganisation befördert und erhielt recht weit gehende Autonomie, erinnert sich die viel beschäftigte Frau.

Das Viertel lebt wieder auf

Sämtliche Steuereinnahmen, die in den Straßen mit so klangvollen Namen wie Dragones, Rayo oder Sol y Villages erwirtschaftet werden, fließen in die Kasse der Organisation. Die kulturelle Arbeit, mit der die Gruppe begann, ist zu Gunsten der Kommerzialisierung des Viertels in den Hintergrund getreten. Sprachkurse und Seminare zur Geschichte der Gemeinde werden zwar nach wie vor organisiert, aber im Fokus der Gruppe steht der Aufbau einer leistungsfähigen Dienstleistungsstruktur im barrio chino. Für die Eröffnung von Restaurants, die Gründung kleiner Familienbetriebe, aber auch für die Planung von Hotels und Pensionen zeichnet die Gruppe verantwortlich. Das Angebot soll, so Elisa León alias Mayei Kui, kontinuierlich erweitert werden.
Die Handschrift der Gruppe ist in den noch vor wenigen Jahren durch Apathie und Verfall gekennzeichneten Häuserschluchten rund um die Zanja deutlich zu erkennen. Was 1968 während der zweiten kubanischen Verstaatlichungswelle enteignet wurde, scheint über dreißig Jahre später wieder aufzuerstehen. Alte Geschäftsschilder erstrahlen in neuem Glanz, Rollläden werden hochgezogen, Türen öffnen sich, hinter denen kleine Geschäfte, wie die Wäscherei an der Ecke Manrique, zum Vorschein kommen. Grundlage für den bescheidenen Boom ist die Legalisierung der „Arbeit auf eigene Rechnung“, der im September 1993 verabschiedeten gesetzlichen Grundlage für die Selbständigkeit in Kuba. Damit war es erstmals seit 1968 wieder möglich Handel zu treiben, wenn auch in engen Grenzen, was von der chinesischstämmigen Bevölkerung schnell genutzt wurde. Ständig entstehen neue Betriebe, von denen die meisten von chinesischen Familien betrieben und von der Gruppe der Förderer verwaltet werden.
Die Residencia China gehört ebenfalls dazu, die auch Miguel Barnet schon besucht hat. Er arbeitet an einem neuen ethnologischen Roman über die Geschichte und die Einflüsse der chinesischen Gemeinde in Kuba. Luis hat ihn schon gesprochen und ist begeistert, dass den alten Chinesen auf einmal Aufmerksamkeit geschenkt wird. Symbolisiert wird das Erwachen des Chinesenviertels durch ein überdimensioniertes Eingangstor, welches einer chinesischen Seifenoper entstammen könnte. Das 13 Meter hohe Kitschungetüm markiert den Eingang zur kleinen Meile chinesischer Restaurants und Garküchen, die das Herz des ehemals bekanntesten Chinesenviertels Lateinamerikas bilden.

Kein Karneval ohne chinesische Trompete

Die Einflüsse chinesischer Kultur sind jedoch auch abseits des Viertels sichtbar. So darf die Corneta China, die chinesische Trompete, auf keinem Karneval fehlen, und sowohl der Reis als auch die zahlreichen Gemüsesorten sind aus der kubanischen Küche kaum mehr wegzudenken. Besondere Aufmerksamkeit wird auch der traditionellen chinesischen Medizin zuteil. Die Akupunktur, aber auch die Verwendung traditioneller Heilkräuter sind in Kuba angesichts der chronischen Engpässe bei der Medikamentenversorgung zu einer echten Alternative geworden.
Für Luis kommen die vielfältigen Aktivitäten im barrio chino jedoch recht spät. „Zwar ist es schön, dass endlich etwas passiert, aber wir Alten werden davon nichts mehr haben. Unser Viertel wird zum Chinesenviertel ohne Chinesen.“

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