Haiti | Nummer 238 - April 1994

Von Einigkeit weit entfernt

Die Demokratiebewegung weist Risse auf

Es ist verdammt unbequem, zwischen den Stühlen zu sitzen – und genau das ist der Platz, den die internationale Diplomatie unter Federführung der US-Außenpolitik dem exilierten Präsidenten Haitis, Jean-Bertrand Aristide, zuge­wiesen hat. Die baldige Rückkehr des legitimen Staatsoberhaupts ist immer un­wahrscheinlicher geworden. Die einzige Option, die die internationale Diplo­matie derzeit zu bieten hat, heißt Militärintervention. Aristide hat jüngst ein mi­litärisches Eingreifen der OAS-Mitgliedsstaaten (Organisation Amerikanischer Staaten) öffentlich in Erwägung gezogen. Doch gerade diese Möglichkeit leh­nen viele innerhalb der Volksorganisationen in Haiti ab. Sie werfen Aristide vor, sich zu sehr mit BeraterInnen aus dem bürgerlichen Lager zu umgeben und zu großes Vertrauen in den Willen der USA, die Rückkehr Haitis zur De­mokratie zu unterstützen, gesetzt zu haben. Nach dem Putsch sei die Zeit reif gewesen, zum offenen Aufstand gegen das Militär aufzurufen, und heute säßen die Putschisten fester im Sattel denn je.
Niemand kann abschätzen, welche Folgen ein Bürgerkrieg in Haiti gehabt hätte; Aristides Zögern angesichts der Risiken einer offenen Konfrontation war ver­ständlich. Nur allzu deutlich ist es aller­dings, daß selbst für den Fall einer Rück­kehr Aristides nach Haiti, ein von revolu­tionären Idealen geläuterter Prä­sident seine Amtsgeschäfte wiederaufnehmen würde, um sich des Rückhalts der “westlichen Demokratien” zu versichern. Vorbei wäre es mit ehrgeizigen Sozialre­formen und umfassender Demokratisie­rung. Die USA sowie die bür­gerlichen Strömungen innerhalb der Lavalas-Bewe­gung, die den Salesianer­priester damals ins Amt hievte, hätten ihr Ziel erreicht: ein investitionsfreundli­ches Klima und die Eingliederung des Landes in die interna­tionale Arbeitstei­lung.

Marx V. Aristide/Laurie Richardson (Originaltitel: Haiti's Popular Resistance, NACLA Nr. 4, Januar/Februar 1994) Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Joachim Göske

Der folgende Artikel stellt die internen Gegensätze dar, die die haitianische De­mokratiebewegung seit Jahren kennzeich­nen. Wir haben den Beitrag in leichtge­kürzter Fassung der US-amerika­nischen Wochenzeitschrift NACLA (Reports on the Americas) vom Januar/Februar dieses Jahres entnommen.
An einem kalten Wochenende im vergan­genen Oktober scharten sich die Führungspersönlichkeiten der haitiani­schen Basisbewegungen um den exilierten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, um eine Bestandsaufnahme ihrer Bewegung zu machen. Ihre Überlegungen mündeten in durchaus unterschiedliche Einschätzun­gen. Einerseits war es durch ihre Wider­stand und Mobilisierungskraft gelungen, daß die Wiederherstellung der Demokratie in Haiti auch noch zwei Jahre nach dem Staatsstreich an der Spitze der internatio­nalen Tagesordnung steht. Doch wie be­grenzt die Stärke der Bewegung ist, kann andererseits daraus abgelesen werden, daß die Militärjunta nach wie vor die Macht in den Händen hält, eine Welle brutaler Un­terdrückung die Volksorganisationen vollkommen in den Untergrund zu drän­gen droht und alle Strategien zur Lösung der Krise ohne die Beteiligung der Basis in Konferenzsälen ausgearbeitet werden.

Die Anfänge der Lavalas-Bewegung

Ein häufig zitiertes haitianisches Sprich­wort sagt: “Hinter diesem Berg liegen noch mehr Berge.” Dieses Sprichwort spiegelt die Geschichte der haitianischen Volksbewegung wider. Aus dreißig Jahren des Terrorregimes Duvalier ging die Be­wegung mit einem geringen Organisa­tionsgrad hervor und kämpft auch heute noch gegen ein als schier unüberwindbar erscheinendes Vermächtnis der Marginali­sierung an. Die Bewegung entstand aus Zusammenschlüssen basiskirchlicher Gruppen, bäuerlicher Organisationen, Gewerkschaften, studentischen Interes­senvertretungen und Nachbarschaftsverei­nigungen. Die Mobilisierung der Massen wurde stets als Mittel angesehen, um re­volutionäre Veränderungen herbeizufüh­ren und eine wahrhaft partizipative De­mokratie durchzusetzen. Mit Hilfe von Demonstrationen, Streiks, Landnahmen, geschriebenen und audio-visuellen Publi­kationen sowie dem gelegentlichen Ge­brauch der “Volksgerechtigkeit” haben die Basisorganisationen Forderungen vertre­ten, die von einer Landreform bis zur Autonomie der Universitäten reichen.
Die Wirksamkeit der Bewegung wurde durch eine Mischung aus direkter Verfol­gung, chronischer Geldnot und politi­schem Opportunismus geschwächt. Hinzu kommt die Strategie der USA zur Verein­nahmung von Führungspersönlichkeiten der Basisbewegungen und das Fehlen einer politischen Partei oder Organisation, die notwendig wäre, um die Forderungen in eine gezielte Strategie umzusetzen.
Neben diesen Hindernissen leidet die haitianische Basisbewegung unter der Auseinandersetzung mit dem reformi­stisch orientierten Teil der breiter ange­legten “demokratischen” Bewegung in Haiti. Dem Lager der ReformistInnen, das aus PolitikerInnen, Intellektuellen und Mitgliedern der wirtschaftlichen Elite be­steht, geht es vor allem darum, eine Formaldemokratie im Zuge von Wahlen und oberflächlichen Reformen durch­zusetzen. Obwohl die ReformistInnen sich der Duvalier-Diktatur widersetzten, teilen sie doch nicht die langfristig auf radikale Veränderungen ausgerichtete Vision des neuen Haitis, wie sie von der Basis ver­treten wird.
Nach Monaten unverminderter Massen­mobilisierung setzte sich am 7. Februar 1986 Jean-Claude “Baby Doc” Duvalier in einem US-Jet nach Frankreich ab. Erneut strömten die Massen auf die Straßen – die­ses Mal, um zu feiern. Das gemeinsame Fest drückte die Mannigfaltigkeit der aus taktischen Gründen geschlossenen Allianz gegen die Diktatur aus. Landlose Bäuerin­nen und Bauern tanzten an der Seite von Großgrundbesitzern, und BewohnerInnen von Armenvierteln feierten neben Indu­striellen.
Nach dem Sturz der Diktatur schien alles möglich. Der Geschmack nach Freiheit steigerte den Appetit auf Gerechtigkeit und den Wunsch, gemeinsam für grundle­gende Veränderungen zu sorgen. Zum ersten Mal seit fast dreißig Jahren fanden die Forderungen der verarmten Bevölke­rungsmehrheit Widerhall in einer Fülle von Basisorganisationen, die neu gegrün­det wurden oder aber aus dem Untergrund kamen. Um den Einfluß der verhaßten AnhängerInnen Duvaliers zu brechen, wurde ein Zusammenschluß über alle ideologischen und sozialen Schranken hinweg angestrebt.

Das Erbe der Duvalier-Diktatur

Selbstverständlich endete die Diktatur nicht mit der Flucht Duvaliers. Baby Doc hatte den Stab an den “Duvalieristischen Nationalen Regierungsrat” (CNG) weiter­gegeben, einer sechsköpfigen Junta unter der Leitung des Generals Henri Namphy. Noch immer regierten lokale Militär­machthaber in ländlichen Gebieten, ohne juristisch für ihr Terrorregime belangbar zu sein. Die öffentliche Verwaltung war durchsetzt mit korrupten zivilen Ange­stellten, und die paramilitärischen tontons macoutes verfügten nach wie vor über Schlüsselpositionen in der Regierung. Fritz, ein bekannter Kämpfer während der vergangenen zwanzig Jahre, erklärt: “Wir alle wurden Zeugen von Duvaliers Ab­gang. Theoretisch war dies das Ende von Diktatur und Gewaltherrschaft. Doch dann bemerkten wir, daß Duvalier nur die Spitze des Eisberges gewesen war und daß wir in allen Bereichen mit der Mobilisie­rung fortfahren mußten.”
Eines der Instrumente in dieser Mobilisie­rung war Dechoukaj. Wörtlich übersetzt heißt das “entwurzeln” und wird oft gleichgesetzt mit der sogenannten “Halskrause”, der Hinrichtung durch einen brennenden Autoreifen. Dechoukaj bein­haltete mehr als die Volksjustiz in den Straßen. Tatsächlich war sein wichtigster Aspekt politischer Natur. Bauern und Bäuerinnen schlossen sich zusammen, um die Gewaltherrschaft der Militärs in den ländlichen Gebieten zu beenden. Stu­dentInnen kämpften darum, den staatli­chen Einfluß auf die Universitäten zu bre­chen. Die Bevölkerungsmassen strömten nicht nur zusammen, um die tontons macoutes zu beseitigen, sondern auch die politische Maschinerie, die diese genährt hatte.
Die Mitglieder der Volksbewegungen wa­ren davon überzeugt, daß Dechoukaj helfen könnte, die reale Macht den An­hängerInnen Duvaliers, sowie den Eliten des Landes zu entreißen. Tatsächlich waren es diese Überlegungen, die das re­formistische Lager am meisten ver­schreckten. Dessen SympathisantInnen zogen aus dem damaligen status quo ihren Nutzen und fürchteten, von der militante­ren Basis zur Rechenschaft gezogen zu werden, sollte sich Dechoukaj als politi­sches Instrument durchsetzen. Im Verein mit den von Duvalier ernannten Bischöfen begannen die ReformistInnen mit einer Öffentlichkeitskampagne, in der sie vor allem den Aspekt der Straßen-Justiz un­terstrichen und zu nationaler Versöhnung aufriefen. Bevorteilt durch die Verfü­gungsgewalt über größere Ressourcen und durch die Kontrolle der Medien ver­mochten sie es, Dechoukaj zur Mitte des Jahres 1986 zum Halten zu bringen. “Immer wenn die Leute mobilisiert wa­ren”, beklagt sich Fritz, “waren diese Ty­pen eher dazu bereit, hinter verschlosse­nen Türen mit den Militärs zu verhandeln, anstatt unmißverständlich zur Tat aufzuru­fen. Anstelle von Aufrufen an das Volk, weiterhin Druck mit ihren Forderungen auszuüben, gaben sie versöhnliche Erklä­rungen ab. Manchmal hatten wir den Ein­druck, sie würden in uns größere Feinde als die Macoutes sehen.”
Demokratisches Kleinbürgertum gegen sozialrevolutionäre For­derungen
Eine haitianische Volksweisheit warnt davor, daß ein leckes Haus zwar die Sonne, jedoch nicht den Regen betrügen könne. Anfang 1987, ein knappes Jahr nach dem Sturz Duvaliers, wurden die Gegensätze zwischen den revolutionären Idealen des militanten Lagers und den kleinbürgerlichen Tendenzen der Refor­mistInnen offenbar. Während Einigkeit im Hinblick auf die Notwendigkeit einer neuen Landesverfassung und von Neu­wahlen bestand, wurde darüber gestritten, ob diese Schritte auch unter dem repressi­ven Klima der noch unter Duvalier eingesetzten Militärjunta unternommen werden sollten.
Im Januar 1987 wurde ein breites Spek­trum demokratischer Gruppen zur Teil­nahme am Kongreß der “Demokratischen Bewegung Haitis” (KONAKOM) eingela­den. Dieser Kongreß, der den Grundstein für eine politische Mitte-Links-Partei legte, erarbeitete eine Plattform, in der eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung gefordert wurde. Der militante Teil der Volksbewegung war skeptisch und erkannte in den Forderungen nach einer neuen Verfassung und nach Neu­wahlen ein Manöver, um grundlegende Veränderungen zu verhindern. Im März rief die kurz zuvor gegründete “Nationale Volksversammlung” (APN) zum Boykott der Wahlen und der Volksabstimmung über die neue Landesverfassung auf. Andere Gruppen, wie beispielsweise die “Bewegung der Bauern von Papay”, be­fürworteten die neue Verfassung trotz all ihrer Schwächen.
Nachdem die neue Verfassung im März verabschiedet worden war, drehte sich die interne Auseinandersetzung um die für den November vorgesehenen Wahlen. Selbst diejenigen, die sich für die Wahlen aussprachen, zweifelten an der Aufrich­tigkeit der Militärjunta. Das Massaker an über dreihundert für eine Landreform streitenden Bäuerinnen und Bauern aus Jean Rabel im Juli bestätigte dieses Mißtrauen und verstärkte die Forderungen nach einem völligen Boykott des Wahl­prozesses. Kirchliche Basisgemeinden aus Port-au-Prince forderten die Menschen dazu auf, “weiterhin gegen die Wahlen mobilisiert zu bleiben, deren Ergebnisse niemals die grundlegenden Probleme des Volks lösen werden.” Doch je näher der Wahltermin rückte, desto mehr veränderte sich diese Haltung, bis dazu aufgerufen wurde, mit den AnhängerInnen der Dik­tatur durch Wahlen aufzuräumen.

Armee erstickt Wahlen im Kugelhagel

Die Armee reagierte mit ihrer ganz spe­ziellen Art des Aufräumens, indem sie WählerInnen massakrierte, die ihre Wahl­scheine abholen wollten. Während die Volksbewegung kurzfristig zurückwei­chen mußte, brachte der Abbruch des Wahlprozesses die Volksbewegung in ihrem langfristigen Kampf voran, denn nur allzu deutlich wurden die Grenzen der reformistischen Strategie in der Auseinan­dersetzung mit den AnhängerInnen der Duvalier-Diktatur. “Die Reformisten brauchen die Mobilisierung auf den Straßen immer dann, wenn sie unter Druck stehen”, sagt Fritz. “Doch sobald sie den Rücken frei von den Macoutes haben, suchen sie den Schulterschluß mit der Bourgeoisie, um jeden tiefergehenden Wandel zu blockieren. Immer sagen sie Dir, daß es nicht darum gehe, Dich zu bremsen. Sie sagen, Du seist unrealistisch, ein Extremist, ein Purist. Aber wenn die Macoutes wieder auftauchen, schreien sie ganz schnell nach Hilfe.”
Zwei Militärstreiche und eine gefälschte Wahl hatten stattgefunden, ehe die Volks­bewegung im März 1990 die Straßen er­neut eroberte und den damaligen Macht­haber General Prosper Avril aus dem Amt jagte. Doch wiederum war der Sieg nur von kurzer Dauer. Die entstandenen poli­tischen Freiräume wurden von den Re­formistInnen besetzt, die eine unheilige Allianz mit der Interims-Präsidentin Ertha Pascal-Trouillot, einer Duvalieristin, eingingen.
“Nachdem wir uns den Kugeln der Mili­tärs ausgesetzt hatten und der Aufruhr Avril gekippt hatte, nahmen diese Schlips- und Anzugtypen das Steuer in die Hand”, erklärt Calixte, eine Führungspersönlich­keit der “Koordinierung der Volksorgani­sationen”. “Sie teilten uns mit, daß unsere Teilnahme im Demokratisierungsprozeß beendet sei und die Sache von nun an in klimatisierten Räumen verhandelt werde, in denen wir nicht willkommen seien.” Ein zwölfköpfiger vorübergehender Staatsrat, der gemeinsam mit Trouillot re­gierte, wurde gegründet, um Wahlen vor­zubereiten. Aufgrund ihrer Unfähigkeit, den Forderungen der Bevölkerungsmehr­heit zu entsprechen, verlor diese Regie­rung sehr schnell jegliches Vertrauen.
Nach all den gesammelten Erfahrungen trug diese neue Erfahrung zur weiteren Radikalisierung der Volksbewegung bei. Da die politischen Eliten in erster Linie damit beschäftigt waren, sich für die Zeit nach den Wahlen einzurichten, ließ sich die Bevölkerungsmehrheit nicht ködern und verhielt sich gleichgültig gegenüber den Wahlen.

Aristides Kandidatur verleiht Volksbewegung neuen Schwung

Als Aristide in letzter Minute das Rennen um die Präsidentschaft aufnahm, änderte sich diese Haltung. Nur sieben Monate zuvor hatten sich die ReformistInnen noch geweigert, den populären Geistlichen zum Kandidaten zu machen. Angesichts der Rückkehr des exilierten Duvalier-Hardli­ners Roger Lafontant und der mit Geld aus den USA finanzierten Wahlkampagne des ehemaligen Weltbankmitarbeiters Marc Bazin griffen die ReformistInnen nun auf Aristide zurück. Diese Entschei­dung erwies sich als brillanter Schachzug, denn die Zahl der registrierten WählerIn­nen stieg mit über einer Million sprung­haft um das Doppelte an.
Dies war die Geburtsstunde der “Operation Lavalas”, die von Anfang an ein Zweckbündnis zwischen der Volks­bewegung, aus der Aristide kam, und den gegen die tontons macoutes gerichteten Eliten war. Die wichtigste Organisation dieser Eliten war die “Nationale Front für Wandel und Demokratie” (FNCD), deren legalen Status Aristide auf seinem Weg zur Präsidentschaft benutzte. “Was zählt”, so Aristide bei der Verkündigung seiner Kandidatur, “ist zu wissen, wann die Stunde zu einer taktischen Übereinkunft gekommen ist, um den tontons macoutes Einhalt zu gebieten.”
Es überraschte nicht, daß innerhalb der Lavalas-Allianz sehr bald erste Spannun­gen auftraten. Der ursprünglich von der FNCD vorgesehene Kandidat, Victor Benoit von der “Demokratischen Bewe­gung Haitis”, kritisierte Aristide wegen dessen angeblichen “politischen Abenteu­rertums” und rief die Parteimitglieder dazu auf, sich aus dem Vorbereitungspro­zeß für die Wahlen zurückzuziehen. Die­ses Mal behielt jedoch das militante Lager die Oberhand. Mit einem legitimierten Vertreter der Volksmassen, der in die politische Debatte eingriff, war es den Re­formistInnen nicht länger möglich, die Vorgehensweise der Allianz zu bestim­men. Während die FNCD danach trach­tete, eigene KandidatInnen im Wind­schatten Aristides in öffentlichen Ämtern unterzubringen, sahen die Volksorganisa­tionen den Urnengang als ein Vehikel zur Mobilisierung an und ließen keinen Zwei­fel an ihrer Bereitschaft, die Wahlen im Zweifelsfall zu boykottieren. “Entweder werden wir auf ganzer Linie siegen, oder aber die Wahlen kategorisch ablehnen”, warnte Aristide.

Formaler Bruch mit dem Klein­bürgertum

Am 4. Februar 1991 – drei Tage vor seiner Amtseinführung – kündigte Aristide den Übergang von der “Operation Lavalas” zur “Organisation Lavalas” an. Seine Ab­sicht war deutlich: der Aufbau einer unab­hängigen politischen Struktur aus der Massenmobilisierung des Volkes heraus. Dies bedeutete den Bruch mit der FNCD, die nun der Gefahr ausgesetzt war, ihren Einfluß an eine konkurrierende Partei zu verlieren, die den Wahlerfolg sich alleine zuschreiben würde. Da die Führungsper­sönlichkeiten der reformistischen FNCD die Geschicke des Bündnisses nicht länger bestimmen konnten, verwandelten sie sich in erbitterte GegnerInnen Aristides, und hatten maßgeblichen Anteil an der Desta­bilisierung der neuen Regierung.
Nach dem Amtsantritt der ersten demo­kratisch gewählten Volksregierung Haitis war die Zeit reif Strukturen der Basisor­ganisationen zu stärken. Ben Dupuy, stellvertretender Direktor der Wochenzeit­schrift Haïti Progrès und Gründungsmit­glied der “Nationalen Volksversammlung” (APN) erklärt: “Unter Aristides Präsident­schaft bestand das Ziel der APN darin, den Menschen bewußt zu machen, daß obwohl wir formal die Macht errungen hatten, die fortschrittsfeindlichen Kräfte noch immer stark waren, und daß es keine Garantie für den Bestand der damaligen Situation gab. Die Menschen mußten also die neugewonnenen Freiräume tatsächlich nutzen, anstatt nach schnellen Lösungen zu suchen oder persönliche Ziele zu ver­folgen.” Trotz des Vorteils, den Präsiden­ten zu stellen, stand die Bewegung bald neuen Schwierigkeiten gegenüber. Ver­führt von persönlicher Eitelkeit oder Geld, verließen verschiedene Führungspersön­lichkeiten die Volksbewegung, um Posten im Regierungsapparat zu übernehmen. Obwohl immer mehr Basisorganisationen entstanden, mangelte es vielen, insbeson­dere in der Hauptstadt, an einem tatsächli­chen Rückhalt in der Bevölkerung. Viel­fach wurden sie von OpportunistInnen geleitet, denen in erster Linie an Macht und Status gelegen war.

Putsch verbannt die Massen aus der politischen Arena

Der Staatsstreich vom September 1991 kam gnadenlos. Sein wichtigstes Ziel bestand darin, die Volksbewegung zu zer­schlagen und die Massen aus der politi­schen Arena zu verbannen. Um der Re­pression zu trotzen, griff das haitianische Volk auf die marronage zurück, eine Form des Widerstands aus dem Untergrund heraus, die tief in den geschichtlichen Wurzeln des Kampfes gegen die Sklaverei verwurzelt ist. Nach der Exilierung des Präsidenten, der damit den Kontakt zur Basis verlor, beherrschten die reformisti­schen Strömungen innerhalb der Lavalas-Bewegung zusehends die politischen Geschicke. Sie setzten nahezu ausschließ­lich auf international vermittelte Ver­handlungen zur Bewältigung der Krise. Viele innerhalb der Volksbewegungen waren sehr argwöhnisch gegenüber dieser Strategie. Ein Sprecher der Bewegung der Landbevölkerung, Chavannes Jean-Baptiste unterstreicht: “Nur die Hitze der massenhaften Mobilisierung wird den Topf der internationalen Verhandlungen zum Kochen bringen.” Nathan, ein Stu­dent aus Petit Grove, erklärt resigniert: “Immer dann, wenn wir bereit waren los­zuschlagen, verstärkte die internationale Gemeinschaft ihre Verhandlungsbe­mühungen, und wir alle wurden zurück in den Untergrund geschickt, um abzuwar­ten. Wenn es nicht gerade irgendwelche Sanktionen waren, wurde eine Beobach­terdelegation der Vereinten Nationen oder der Organisation der Amerikanischen Staaten entsandt, und das Spiel des Ab­wartens begann aufs Neue.”

Kritik an Aristides Verhand­lungsführung

Als die internationale Diplomatie Aristide zu immer weiteren Zugeständnissen drängte, wuchs auch die Kritik an dessen Verhandlungsführung. Die Volksbewe­gungen empfanden vor allem das Schwei­gen der ReformistInnen zu Plänen einer internationalen militärischen Intervention als bedrohlich. Als das Abkommen von Governor’s Island unterzeichnet wurde, das den Rücktritt der Anführer des Staats­streiches sowie die Rückkehr des exilier­ten Präsidenten vorsah, drückte die Volksbewegung einerseits ihre Unter­stützung für Aristide aus. Andererseits kritisierte sie das Abkommen und bezwei­felte die Bereitschaft des haitianischen Militärs und der internationalen Staatengemeinschaft, den Vertrag auch tatsächlich zu erfüllen.
Das Scheitern des Abkommens bestärkte die Überzeugung der Volksbewegung, daß es unmöglich sei, auf Hilfe von außen zu warten, anstatt die eigenen Kräfte zum Sturz des Militärregimes zu mobilisieren. Diskussionen über neue Formen des Kampfes und einen aktiveren Widerstand spielen eine immer gewichtigere Rolle bei der Suche nach Möglichkeiten, Resigna­tion in die Bereitschaft zum entschlosse­nen Vorgehen zu verwandeln, um auch die internationale Solidarität neu zu bele­ben. Die ReformistInnen stehen nun vor dem Dilemma, entweder mit einer vor allem eigene Interessen verfolgenden in­ternationalen Gemeinschaft zu paktieren, oder aber ein taktisches Bündnis mit den Volksbewegungen einzugehen, die sich immer mehr radikalisieren. Während die ReformistInnen in früheren Zeiten immer wieder die Massen dazu benutzten, die Macht zu erobern, schrecken sie heute vor dem Rückgriff auf diese Strategie zurück. Sie spüren, daß die beiden Jahre des Widerstands die militanten Kräfte inner­halb der Lavalas-Bewegung gestärkt haben und befürchten, die Forderungen nach tiefgreifendem Wandel nach dem Sturz des Militärregimes nicht unter Kon­trolle halten zu können.
Der Gegensatz zwischen den beiden großen Tendenzen innerhalb der Lavalas-Bewegung dauert fort. Es ist jedoch die Volksbewegung, die an Stärke gewinnt. Ein Bauernführer drückt es so aus: “Mit zunehmender Repression nimmt auch unser Kampf unterschiedliche Formen an – je nach den entsprechenden Umständen. Sollte die Straße dornenreich sein, wissen wir, welche Schuhe zu tragen sind. Gelan­gen wir an einen Fluß, sind wir bereit zu schwimmen. Aber vor allem werden wir den Kampf nicht aufgeben, denn er ist unsere einzige Chance auf eine bessere Zukunft.”

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