Nicaragua | Nummer 329 - November 2001

Von Katastrophe zu Katastrophe

Nicaragua zwischen Dürre, sinkenden Kaffeepreisen, Korruption und Wahlkampf

Während sich die Angehörigen der liberalen Regierung fantastische Gehälter auszahlen, leidet die Bevölkerung unter der Dürre und der Krise im Kaffeesektor. Der Kandidat der Sandinistischen Opposition, Daniel Ortega, verspricht derweil der ländlichen Bevölkerung Kredite und Frieden. Die Regierenden Liberalen haben die Kirche und die USA hinter sich. Die Angst vor gewalttätigen Ausschreitung im Fall eines sandinistischen Wahlsieg.

Ralf Leonhard

Einen Peso, irgendwas zu essen?“ Die hagere Hand, die durch das Autofenster hereinragte, gehörte der 22-jährigen Cristina. Ausgezehrt, in Kleidern, denen man ansah, dass sie einen langen Weg hinter sich hatten, sieht Cristina aus wie Mitte 30. An der panamerikanischen Landstraße, nur 35 Kilometer von Managua entfernt, stand sie mit ihrem zweijährigen Sohn Erick Antonio, der stumpf auf das improvisierte Lager am Straßenrand blickte. In Grüppchen und Familien saßen oder lagen sie im vergilbten Gras oder sperrten die Straße mit einem Strick ab, um von jedem Fahrer Maut zu kassieren. Maut für das Überleben. Zusammen mit Tausenden anderer KaffeearbeiterInnen hatten sich die beiden Ende August auf den Weg in die Hauptstadt Managua gemacht. Fünf Monate sei Cristina nicht mehr bezahlt worden, obwohl sie ihre Arbeit wie gewohnt verrichtet habe: „Nicht einmal den Kindern gaben sie zu essen“. Ihre Tochter, noch kein Jahr alt, musste sie vor ein paar Wochen begraben: Meningitis, zu spät behandelt. Seither sind im Krisengebiet mindestens elf weitere Menschen an Krankheiten gestorben, die durch den schlechten Ernährungszustand der Opfer tödlich verliefen.
Im Bergland der Departements Matagalpa und Jinotega liegen die größten und ertragreichsten Kaffeeplantagen Nicaraguas. Seit deutsche und italienische Pioniere im späten 19. Jahrhundert den Kaffee in Zentralamerika heimisch machten, wurden hier große Vermögen erwirtschaftet. Auch die Genossenschaften und Staatsfarmen, die während der sandinistischen Revolution in dieser Region entstanden, gehörten zu den rentabelsten Betrieben der Umbruchszeit nach der Abwahl der Sandinistischen Partei FSLN 1990.
Seit dem Auslaufen des Internationalen Kaffeeabkommens 1989 ist der Weltmarktpreis jedoch starken Schwankungen unterworfen. Nach einem kurzen Hoch im vergangenen Jahr kam die Katastrophe. Die gute Ernte in Brasilien allein hätte schon gereicht, um den Preis zu drücken. Doch seit einigen Jahren drängen Indien, Indonesien und zuletzt Vietnam auf den Markt. Allein Vietnam hat seine Produktion binnen weniger Jahre verhundertfacht und exportiert heute 800.000 Tonnen – mehr als das Traditionsland Kolumbien, das seinen Platz als zweitgrößter Kaffee-Exporteur abgeben musste.
Die Folge ist, dass der Preis für Rohkaffee dieses Jahr auf das Niveau der sechziger Jahre stürzte. Für die Kaffeebauern deckt der Preis von 48 US-Dollar pro Sack (Stand Mitte September) nicht einmal die Produktionskosten. Preise von unter 100 US-Dollar gelten als nicht rentabel. Deswegen machen sich vor allem die großen Kaffeebauern gar nicht die Mühe, die kommende Ernte einzubringen. Ihre ArbeiterInnen, die auf den Plantagen leben, werden nicht mehr gebraucht. Sie bekommen seit einiger Zeit weder Geld noch Nahrungsmittel.

Wahlentscheidung auf dem Land

Cristina hat zwar sechs Jahre auf derselben Plantage gelebt und gearbeitet, doch wem diese gehört, weiß sie nicht. Sie weiß auch nicht, wer den Zug nach Managua organisiert hat. Sie hatte Hunger und folgte einfach der Menge. In der Hauptstadt belagerten die von dem 200-Kilometer-Marsch geschwächten Gestalten den Präsidentenpalast. Man solle ihnen unter keinen Umständen zu essen geben, ordnete Präsident Arnoldo Alemán an. Das Beispiel könne sonst Schule machen. Außerdem hatte der feiste Staatschef immer wieder versichert, in Nicaragua gebe es keinen Hunger: „Die Märkte sind voll. Nicht einmal die Preise sind gestiegen.“ Ergo sei die Krise eine böswillige Erfindung der Sandinisten, die die Regierung im Wahlkampf schlecht machen wollten.
Am 4. November werden in Nicaragua ein neuer Präsident, die Abgeordneten der Nationalversammlung und die des Zentralamerikanischen Parlaments gewählt. Fast zwölf Jahre nachdem die Sandinistische Revolution durch das Votum des Volkes und die sandinistische Moral unter einem panikartigen Raubzug von Comandantes und FunktionärInnen begraben wurden, stehen die Zeichen wieder auf Wende. Bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr konnte die FSLN Managua und die meisten anderen größeren Städte erobern. In den Umfragen liegt Daniel Ortega, der nunmehr zum vierten Mal antritt, Kopf an Kopf mit dem Kandidaten der regierenden Liberalen, Enrique Bolaños Geyer.
Entschieden werden diese Wahlen – das haben schon die Gemeindewahlen vom Vorjahr gezeigt – auf dem Land. Die kleinen Gemeinden wählten mehrheitlich Rot – die Farbe der Liberalen. Sie werden durch die Umfragen nur unzureichend erfasst. Das kann Überraschungen bringen, denn Ortega tourt unverdrossen von Dorf zu Dorf und bittet die Campesinos und Campesinas, die unter dem Krieg während der Revolutionsjahre besonders zu leiden hatten, um Vergebung für alle damals begangenen Fehler. Der ehemalige Revolutionskommandant ist zum Prediger mutiert, der das “Gelobte Land“ verspricht und seine Ansprachen mit biblischen Metaphern würzt. Sein Agrarprogramm hat er sich vom bekannten Soziologen Orlando Núñez schreiben lassen, der die Campesinos und Campesinas zum tragenden Subjekt der Geschichte machen will. Im Wahlkampf sieht das so aus, dass den Kleinbauern und -bäuerinnen ein Kredit von umgerechnet 1500 US-Dollar versprochen wird, der in Form von Vieh und Saatgut in Naturalien ausgezahlt werden soll. Zunächst an 20.000 Frauen, die binnen zwei Jahren genügend Überschüsse erwirtschaften müssen, dass sie den Fonds wieder auffüllen, damit weitere 20.000 Campesinos und Campesinas unterstützt werden können.
Die Liberalen wiederum halten ihre bisherige Politik für so erfolgreich, dass sie sie fortsetzen wollen. José Luis Rocha vom Wirtschaftsforschungsinstitut NITLAPAN in Managua hält ihre Erfolge allerdings für bescheiden: „Die Regierung hat in Straßenbau investiert: Asphaltstraßen und ein paar Allwetterstraßen im landwirtschaftlichen Hinterland. Das ist gut und wichtig, doch das Pflastern von Straßen ersetzt keine Agrarpolitik. Dann gibt es noch ein Kreditprogramm von sehr geringem Umfang für den Anbau von Grundnahrungsmitteln. Doch diese Kredite sind in erster Linie an Sympathisanten der Regierungspartei gegangen. Das lässt sich dokumentieren. Dementsprechend gering ist die Rückzahlungsquote. Mehr als ein Kredit ist das also eine Art Subvention für Parteigänger.“
Die Korruption, die vom Präsidenten in einmaliger Dreistigkeit vorexerziert wird und den gesamten Staatsapparat durchdringt, könnte der Regierungspartei zum Verhängnis werden. Land wird nicht mehr als Produktionsmittel betrachtet, sondern dient einzig als Spekulationsobjekt. Alemán und seine Getreuen übernehmen von überschuldeten Bauern und Genossenschaften Grundstück um Grundstück, deren Wert sich dann in wundersamer Weise durch Straßenbau und Tourismusprojekte über Nacht vervielfacht. Die Minister, die das Anpassungsprogramm des Weltwährungsfonds in aller Härte exekutieren, beziehen Fantasiegehälter. Der Mann, der ein Programm zur Bekämpfung der Armut vorlegen soll, hat zumindest seine eigene erfolgreich bekämpft: er kassiert monatlich 23.000 US-Dollar. Im Norden und Nordwesten, wo nach einer verheerenden Dürre die Ernte vertrocknete, fühlen sich die Campesinos und Campesinas verhöhnt. Die Regierung hat nicht einmal InspektorInnen zur Schadensevaluierung geschickt. Von Hilfsgütern aus dem Katastrophenfonds ganz zu schweigen.
So operieren die Liberalen mehr mit Angstmache als mit Argumenten. Angetan mit dem roten T-Shirt der Partei und der roten Baseball-Kappe mit dem PLC-Logo, wartete Patricia Bravo in Chinandega auf den Auftritt ihres Kandidaten. Aufgeputscht durch ohrenbetäubende Blasmusik und die sengende Mittagshitze, ließ sie ihren Ängsten freien Lauf: „Wenn Daniel Ortega Präsident wird, dann kommt der Terrorismus, die Repression. Sie werden Bomben legen, wo Liberale wohnen. Wir werden beschimpft und um Mitternacht festgenommen werden. Wir wollen den Frieden und die Demokratie, die Arnoldo Alemán versprochen hat.“
Bolaños erschien schließlich im Cowboyhut und mit dem Gestus eines Patriarchen. Der über 70-jährige Großgrundbesitzer brachte die aus den umliegenden Gemeinden herangekarrten Bauern und Bäuerinnen durch ein paar antisandinistische Parolen zum Johlen und schwang sich dann auf einen Rassehengst, den der lokale Züchterverband für die Parade beigestellt hatte.
Hinter den Liberalen steht nicht nur das Kapital sondern auch die Kirchenhierarchie, die in einem Hirtenbrief unmissverständlich aufgefordert hatte, die Stimme einem Kandidaten mit „christlichen Prinzipien“ zu geben, und natürlich die Botschaft der USA. Lange Zeit hatten die USA vergeblich versucht, Konservative und Liberale zu einer gemeinsamen Kandidatur zu bewegen, um die „demokratischen Stimmen“ nicht zu splittern. Vielmehr entwickelte sich die bis dahin weitgehend bedeutungslose Konservative Partei zu einem Sammelbecken für frustrierte Liberale und dissidente SandinistInnen und schickte sich an, den Wahlsieg mitzuentscheiden. Der Unternehmer Noel Vidaurre und der ehemalige sandinistische Erziehungsminister Carlos Tünnermann standen für eine neue Mitte-Links-Option. Nach einem Besuch von George Bushs Sonderbeauftragtem Lino Gutiérrez trat dieses Paar plötzlich zurück. Seither bewegen sich die Wahlchancen der Konservativen wieder im Bereich der statistischen Ungenauigkeit und die politische Polarisierung erinnert an die Zeiten, als SandinistInnen und Contras einander noch mit Waffen bekämpften.

KASTEN:
Seltsame Bündnisse
In Nicaragua bleibt nur die Wahl zwischen Liberalen und Sandinisten

Kupia Kumi – „ein Herz und eine Seele“ in der Sprache der Miskitos. So werden in Nicaragua seltsame politische Bündnise genannt. Geprägt wurde der Begriff in den 70er Jahren, als der Diktator Somoza die Anführer der oppositionellen Konservativen Partei zum Schein an der Exekutivgewalt beteiligte und durch ein paar gut dotierte Pöstchen politisch kaltstellte. Verkauft wurden nicht nur vermeintliche politische Prinzipien sondern auch eine Parteibasis, die bei Demonstrationen gegen die Diktatur ihr Blut gegeben hatte.
Seltsame Bündnisse haben in Nicaragua Tradition. Ohne das taktische Zusammengehen der linken Guerillafront FSLN mit dem Unternehmerverband wäre Somoza 1979 nicht gestürzt worden. Im Grunde wunderte sich niemand, als sich 1989 in dem auf Druck der USA geschmiedeten Oppositionsbündnis UNO alle bis dahin untereinader verfeindeten liberalen und konservativen Parteien zusammenschlossen. Dass sich auch die SozialistInnen und KommunistInnen in die gemeinsame Front gegen die SandinistInnen eingliederten, sagte einiges über den ideologischen Zustand dieser Parteien aus. Die KP hatte lange Zeit die Revolution als zu wenig kollektivistisch kritisiert.
Das faktische Wegfallen einer dritten Option für die Wahlen vom kommenden 4. November führte dazu, dass sich alle politischen Kräfte um einen der Pole – die Liberalen oder die SandinistInnen – zu gruppieren begannen. Noch vor einem Jahr hatte der Populist Pedro Solórzano in seinen Wahlspots eine Trennlinie auf die Straße gemalt. Jenseits dieser Linie, so verkündete er, stünden die Korrupten, nämlich SandinistInnen und Liberale. Eine deutliche Anspielung auf die Stadtgrenze von Managua, die in einem Kuhhandel zwischen Daniel Ortega und Arnoldo Alemán so verändert worden war, dass Solórzanos Haus gerade außerhalb zu liegen kam, wodurch dieser nicht zu den Bürgermeisterwahlen kandidieren durfte. Jetzt steht er selbst plötzlich jenseits seiner moralischen Trennlinie und macht mit dem liberalen Präsidentschaftskandidaten Enrique Bolaños Wahlkampf: seine Sponsoren, die konservative Unternehmerfamilie Pellas, trafen die Entscheidung für ihn.
War es bei Solórzano der Geldbeutel, der den Sinneswandel hervorrief, so dürfte im Falle Carlos Guadamuz die persönliche Verbitterung auslösend gewesen sein. Mehr als ein Jahrzehnt war Guadamuz die Dreckschleuder Daniel Ortegas gewesen. Als Direktor und politischer Kommentator des sandinistischen Regierungssenders „Voz de Nicaragua“, später in Radio YA umbenannt, überhäufte er alle politischen und persönlichen Gegner seines Chefs mit den wildesten Schmähungen, die in der diplomatischeren Sprache Ortegas keinen Platz hatten. Als der ehemalige Vizepräsident Sergio Ramírez in einer parteiinternen Debatte demokratischere Strukturen und mehr Mitbestimmung der Basis forderte, höhnte ihn Guadamuz als angeblich notorischen Homosexuellen und sparte nicht einmal dessen Tochter bei seinen öffentlichen Spekulationen über sexuelle Vorlieben aus. Guadamuz beging dann den Fehler, selbst einmal gegen seinen Freund und Förderer Ortega Stellung zu beziehen. Daraufhin sollte er tief fallen. Er verlor sein Radio und wurde aus allen Parteiämtern entfernt. Ausgerechnet beim konservativ-evangelikalen Camino Cristiano fand er eine neue politische Heimat und landete damit schließlich im Lager der Liberalen. Denn Kleinparteien, die nicht unter die Räder des neuen Wahlgesetzes kommen wollen, müssen den Schutz einer der großen Organisationen suchen.
Diese bittere Erfahrung musste auch Dora María Téllez machen, die der von Sergio Ramírez gegründeten Sandinistischen Erneuerungsbewegung (MRS) vorsteht. Ende August schloss sie ein Wahlbündnis mit Daniel Ortega, obwohl keine der Forderungen nach mehr parteinterner Demokratie, die vor sechs Jahren zur Abspaltung von der FSLN geführt hatten, erfüllt worden ist. Sergio Ramírez, der sich ganz aus der Politik zurückgezogen hat und sich nur mehr der Literatur widmet, wollte diesen Schritt nicht mitgehen.
Über seinen Schatten springen musste wohl auch der Christdemokrat Agustín Jarquín. Er wurde einst von den SandinistInnen mehrere Monate eingesperrt. Doch auch Arnoldo Alemán spielte ihm übel mit. Als Jarquín in seiner Eigenschaft als Präsident des Rechnungshofes die zahlreichen Fälle von Korruption und illegaler Bereicherung im Umfeld des Staatspräsidenten untersuchen wollte, warf ihn Alemán unter fadenscheiniger Anklage ins Gefängnis. Der Rechnungshof wird jetzt von einem liberal-sandinistischen Kollegium geleitet, das alle Untersuchungen gegen Funktionäre der amtierenden Regierung eingestellt hat. Jarquín will jetzt an Ortegas Seite Vizepräsident werden und setzt sein Image als Saubermann ein, um bei der internationalen Gebergemeinschaft Schönwetter zu machen und Stimmen der politischen Mitte zu werben.
Dass auch eine Fraktion der ehemaligen Contras heute im Lager der SandinistInnen steht, ist gar nicht so verwunderlich. Ihre Klientel sind arme ungebildete Bauern, die politisch benützt wurden. Sie haben gemerkt, dass von der kapitalistischen Wende, für die sie ihr Leben riskiert hatten, nur die Großen profitierten. Ortega ist der einzige, der glaubhaft eine Umorientierung der Landwirtschaft in Richtung Förderung der Kleinproduktion verspricht.
Bedeckt hält sich noch der im guatemaltekischen Exil lebende Anastasio Somoza Portocarrero, der Sohn des 1979 gestürzten Diktators. Daniel Ortega bot ihm in einer verblüffenden Kehrtwende alle Sicherheiten an, falls er zurückkehren wolle. Somoza soll daraufhin ein Treffen mit republikanischen Senatoren in Washington arrangiert haben. Dass er nach Nicaragua zurückkehrt, ohne zumindest einen Teil der ergaunerten Güter seiner Familie rückerstattet zu bekommen, ist aber unwahrscheinlich. Dem größten Teil der Basis ginge diese sandinistische Versöhnungspolitik zu weit.
R.L.

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